Es gibt ja dieses Theater-Klischee von den “Brettern, die die Welt bedeuten”. Bitte schön, hier sind sie, diese Bretter. Hart, schräg und ungehobelt:
Was Sie hier sehen, ist ungefähr ein Viertel der Bühne des Theaters “Das Zimmer”. Der Name ist keine Irreführung: Das Theater ist tatsächlich ungefähr so groß wie das Wohnzimmer meiner Genossenschaftswohnung. Es passen vielleicht 30 Leute hinein, bei Überfüllung 35 (inklusive Schauspieler). Kein Zuschauer sitzt mehr als zwei Meter von der Bühne entfernt, zu drei Seiten um sie herum.
Man tritt ein durch eine enge, vergitterte Tür. Rechts ein winziger Verschlag, der als Kassenhäuschen und Regiepult zugleich dient. Dann der Bühnen- und Zuschauerraum, und dahinter noch ein Kabuff, das die Garderobe und die Selbstbedienungsbar mit Sparschwein enthält (“Sie trinken, was Sie wollen, und zahlen, was es Ihnen wert ist”). Und eine Tür, die in den Keller führt, wo “Hamburgs originellste Toilettentüren” auf das Pausen-Publikum warten.
All dies in einem innen komplett schwarz gestrichenen, ehemaligen Fischladen. Der riecht nicht mehr nach Fisch, weil das “Zimmer” sich hier schon etwa vier Jahre hält und davor noch viel längere Zeit bereits ein anderes Minitheater existierte. Es ist alles ganz unglaublich.
Hier gibt es doch nüscht
Aber das Beste ist die Lage: “Das Zimmer” ist in der Washingtonallee, die trotz ihres weltläufigen, metropolitanen Klangs ein Stück finsteres Rotklinker-Hamburg darstellt, im armen, östlichen Stadtteil Horn (“Billstedt, Hamm und Horn schuf der liebe Gott im Zorn”). Hier ist sonst nüscht. Nitschewo. So scheint es.
Wer sich nicht auskennt in den rotbraunen Zwischentönen des Hamburger Ostens, der sieht nur: Ausfallstraße, Rotklinkermassenwohnbau, Tankstellen, Dänische Bettenlager. Keine Szene, keine Kneipen, keine Cafés und keine Läden für Nippes mit Niveau. Die ihr hier herkommt, lasst alle Hoffnung auf Kultur fahren. Niemals würde die bessere Hamburger Gesellschaft von westlich der Alster auch nur einen Fuß in diese Gegend setzen, schon gar nicht nachts, im Dunkeln.
Dann jedoch ist da plötzlich dieses Theaterchen, das selbst bei großer Annäherung immer noch wie ein gescheitertes Ladenlokal wirkt, umrahmt von den routiniert vor sich hin funzelnden Warnbaken einer Straßenbaustelle. Das ist, als ob ein Verdurstender in der Wüste lange an eine Fata Morgana glauben würde, bevor er merkt: Mensch, da kommt ja wirklich Wasser aus der Quelle!
Und wie es kommt. Mein erstes Stück im “Zimmer” habe ich erst vor wenigen Wochen gesehen: Daniel Glattauers wunderbar verbalerotischen Email-Liebesroman “Gut gegen Nordwind”, von Theater-Mitbegründer Lars Ceglecki für die Bühne adaptiert und inszeniert als Zwei-Personen-Kammerstück mit Sandra Kiefer und Stephan Arweiler. Als ich Ceglecki hinterher bescheinige, das sei “Theater direkt in die Fresse” gewesen, nimmt er es vergnügt als das Kompliment, als das es gemeint war.
Weil es geil macht, weil es kickt
Denn wir wollen ja mal keinen Zweifel daran lassen: Das hier ist kein Bauerntheater, wo sich irgendwelche Laien eine Bühne gebastelt haben und im Hinterzimmer des Dorfkrugs Schwänke zum Besten geben. Bei allem Respekt, auch nicht Ohnesorg mit Mundart und Schenkelklopfen und Augenzwinkern. Hier sind Profis am Werk, die eine Mission haben. Echte Theaterleute, gut ausgebildet, viel gereist, auch auf anderen Bühnen zuhause. Und mit Idealen im Kopf, wie sie einst selbst an den großen Subventionsbühnen geherrscht haben mögen. Die spielen Theater, weil es weh tut, weil es geil macht, weil es Sucht ist, weil es kickt ohne Ende.
Und auch die Premiere von “So weit die Füße tragen” vor wenigen Tagen war solch eine Breitseite. Der Roman von Josef Martin Bauer aus den Fünfzigerjahren, angeblich auf einem Tatsachenbericht über den 14.000 Kilometer langen Irrweg eines aus Sibirien geflohenen deutschen Landsers in die Heimat beruhend, war eigentlich längst verstaubt gewesen. Eine Kriegs-Schmonzette, die der Wehrmacht allzu bereitwillig das Mäntelchen der Redlichkeit umgehängt habe, urteilten Kulturkritiker zuletzt. Dazu historisch auf dünnem Eis wandelnd.
Doch Ceglecki und seine Truppe haben dem Buch einen neuen Sinn eingehaucht. Sie wollten die Flüchtlingsproblematik mal aus einer anderen Perspektive beleuchten, sagt der Zimmer-Chef. Und fürwahr, das ist ihnen gelungen. Diese spezielle Flucht erscheint als als das Ausgeliefertsein an den trügerischen Pfad ins Gestern, der in eine Heimat mündet, die es nicht mehr gibt.
Die Nacht, als die Junkies kamen
Unter der Regie von Dietrich Trapp und im, nun ja, mikro-minimalistischen Bretter-Bühnenbild von Swana Gutke erweckt die Truppe – diesmal vier Akteure stark – die 14.000 Kilometer zum stapfenden, torkelnden, gefrierbrandgepeinigten Leben. Wer gerade nicht spielt, fungiert alternierend als Erzähler. Dazu wirft ein Projektor Dias von verschneiten Landschaften an die Wand. Der Rest ist Mimik, Gestik und ganz starker Dialog. Phantasie, was brauchst du mehr?
In der Pause, hinter Hamburgs originellsten Toilettentüren, hat man im Keller-Kabinchen kurz Zeit, über ein anderes Drama zu reflektieren: die Nacht, als die Junkies kamen. Sie brachen in das Theater ein, auf der Suche nach Bargeld, fanden keines, verwüsteten dafür den kleinen Fundus an Kostümen und richteten auch sonst möglichst viel Schaden an. Die Junkies wurden sogar gefasst, wissen aber wohl bis heute nicht, woran sie sich da vergangen haben.
Seither ist vergittert. “Das Zimmer” jedoch machte weiter. Andere Hamburger Bühnen halfen mit Spenden und Solidarität. Echtes Theater ist nämlich nicht totzukriegen. Und etwas von diesem Geist gibt dieses hier seinem Publikum jeden Abend aufs Neue mit auf den Heimweg.
Man verlässt das Zimmerchen, und zurück in der eigenen Wohnung, die sich hiernach ungleich geräumiger anfühlt, ist man noch immer von Glück erfüllt. Dass es das noch gibt, genau da, wo man angeblich nichts erwarten durfte.
Klingt gut. Und manchmal ist das Finden ja schon das größte Glück. So Fundstückchen gibt es in Berlin auch. Meine Tochter hat mich neulich in eine alte Eisenbahnerbaracke nahe dem S-Bahnhof Ostkreuz geschleppt. Da spielten sich tapfere Bühnenprofis die Seele aus dem Leib.