Konsumklimawandel auf dem Werbebarometer: Wo es dank Dauerlockdown immer weniger Käufliches anzupreisen gibt, liefern Haltungs-Plakate eine alternative Art von Glücksversprechen. Leider hält sich das Erleben, Entdecken und Genießen bei den neuen Produkten in Grenzen.
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Im Sitzen ist der Teddybär ungefähr doppelt so groß wie ein echter Grizzly, der sich auf die Hinterbeine gestellt hat. Er grüßt bei Tag und bei Nacht – dann von Scheinwerfern gleißend ausgeleuchtet – von einer Hamburger Brandmauer herab, wo er hoch über der angrenzenden Tankstelle thront. Auf seinem weißen Lätzchen steht das Wort „Menschenrechte“. Aber in voller Länge lautet die Frage, die das Plüschtier uns mit schüchtern-verdruckstem Lächeln stellt: „Kann ein Teddybär Menschenrechte stärken“?

Tja, kann er? Nicht, dass ich die Spannung kaum noch aushielte, aber die Antwort folgt zum Glück im Kleingedruckten, das seinerseits immer noch so großformatig daherkommt wie eine komplett ausgebreitete Ausgabe des Neuen Deutschland: „Faire Lieferketten“ stärken die Menschenrechte. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Danke, Teddy, für diese Information. Ich wäre nicht von Haus aus Ökonom, wenn vor meinem geistigen Auge nicht der Gebührenzähler anfinge zu rattern: XXX.XXX,XX Euro Steuergeld, ohne mich zu fragen in staatliche Stützungstransaktionen für die darbende Reklameindustrie gepumpt. Gerne auch dezent in gleichlautende Vierfarbanzeigen für Mainstream-Zeitungsverlage ohne Leser. Da die Bundesregierung im Unterschied zu echten Werbekunden nichts Substanzielles zu verkaufen hat, müssen eben die guten, alten Menschenrechte herhalten. Damit kann man nichts falsch machen. Und ein Teddy geht immer – zumindest für die infantilisierte Knuddelgesellschaft, die sich Werber und Ministerium offenbar als Zielgruppe vorgenommen haben.

Dann will ich mir beim nächsten Lidl-Besuch mal ein paar faire Lieferketten kaufen, auf dass auch ich die Menschenrechte stärke. Wie der in diesen Dingen (als ehemaliger Fachbereichsleiter der Stasi-Unterlagen-Behörde) sehr scharfsichtige Historiker Hubertus Knabe neulich schon dokumentiert hat: Die „Sichtagitation“ ist zurück. Das war der DDR-Begriff für die Parolen und Transparente der SED im öffentlichen Raum. So etwas wie „Vorwärts zum endgültigen Sieg des Sozialismus!“ Oder „Unser Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden!“ Ganz zu schweigen von meinem persönlichen Favoriten „Wir Kunstblumenarbeiter fordern: Deutschland braucht einen Friedensvertrag!“ Yep, dieser schnafte Slogan wurde in den Nachkriegstrümmern des Ostens wirklich installiert – samt drumherum gruppierten Plasteblumensträußen:

Nun sind wir also wieder so weit. Corona hat dafür gesorgt. Während die Lockdowns von Monat zu Monat verschärft und verlängert werden, siechen immer mehr derjenigen Unternehmen dahin, die noch etwas zu bewerben hätten. Gleichzeitig gibt es aber – dank des nunmehr abgehakten Turboshopping-Jahrzehnts – mehr Werbeflächen zu bewirtschaften denn je. Und wie sähe das denn aus, wenn die alle nackt und dunkel blieben, bloß, weil die Bundesregierung einen Wirtschaftskollaps auf Raten beschlossen hat?

Also: Vorwärts zum … Fortschritt! Wir leben im Zeitalter der neuen Lippenbekenntnisse, warum nicht die Stadt damit möblieren? Auf die Idee kommen auch andere, jetzt, wo kaum noch Produktplakate von ihren Botschaften abzulenken drohen. Wir müssen doch die Leute lehren, was zu tun ist. An jedem einzelnen Tag der Woche. Freitag ist ja eh klar, der ist für Future. Aber was ist zum Beispiel mit Mittwoch?

Wednesdays for Wertstoffhof! Say it loud and clear: Mittwochs den E-Schrott entsorgen! Dafür leitet uns diese elektrischen Dreh-Litfaßsäule auf die Plattform www.e-schrott-entsorgen.org. Die Litfaßsäule hat übrigens drei Plakatsegmente, die langsam am Betrachter vorbeirotieren. Und ich schwöre als Zeuge Coronas, dass auf jedem einzelnen davon eine Parole ähnlichen Kalibers steht: Tue Gutes und füge dich ein, Bürger! Werbeeffekt nach einer vollen Umdrehung: günstigstenfalls stumpfes Abschalten – und ungünstigstenfalls Reaktanz.

Reaktanz ist Sozialpädagogen-Slang, den ich von Carmen Thomas gelernt habe, so um 1990, als ich wahrhaftig mal Praktikant in der Hörfunkredaktion dieser Urmutter aller progressiven WDR-Journalistinnen war. Das Wort Reaktanz bezeichnet einen impulsiven Widerwillen gegen Lehrsätze und Spruchweisheiten, die man ungebeten ins Gesicht geknallt kriegt. Wenn die Lautsprecher dröhnen: So musst du denken! Dann verstopft man sich die Ohren und das Hirn. Was aber verboten ist, macht manchen gerade scharf. Reaktanz. Nichts entfacht sie nachhaltiger als Gesinnungsparolen im öffentlichen Raum.

Andererseits können die Spruchweisheiten aus der Agitprop-Kiste aber auch aufrichtige Nachdenklichkeit auslösen:

Ich dachte spontan über folgendes nach: Das Hamburger Thalia-Theater, aus öffentlichen Mitteln hoch subventioniert, möchte uns in diesen harten Zeiten seiner künstlerischen Nichtexistenz mitteilen, dass es sich nicht unterkriegen lässt. Schön. Aber wie fehl geht dieses Transparent! Was hat die spezifische, nämlich inhaltliche Freiheit der Kunst mit einem Lockdown zu tun? Wenn die Obrigkeit dem Theater mitgeteilt hätte: Passt auf, ihr spielt ab jetzt nur noch Stücke, die das Weltbild linksliberaler Eliten idealisieren, oder eure schöne Staatsknete geht ab sofort ans Schauspielhaus … ja, dann wäre das ein mutiges, ein widerständiges Banner.

Aber mal abgesehen davon, dass sich das Thalia bei solch einer Ansage der Staatsgewalt kein bisschen verbiegen müsste: So ist es ja gar nicht gewesen. Sondern man hat ihnen schlicht den Laden dichtgemacht, so wie allen anderen auch, ob da nackte Nonnen über die Bühne steppend AfD-Parolen skandieren oder nicht. Also was soll bitte die „Freiheit der Kunst“ hier?

Wäre die Kunst wirklich kompromisslos frei, der feuchte Traum jedes Sozialromantikers, dann würde das Ensemble genau jetzt in irgendwelchen Hinterzimmern oder Kellerlöchern auftreten, angekündigt nur auf schwarzen Kanälen, so wie derzeit hier und dort „Flüsterkneipen“ aufmachen in diesen Zeiten der Neuen Prohibition. Oder es würde seine Tore in einem Akt der existenziellen Verzweiflung ganz ungetarnt öffnen, wie die Geschäftsleute von #WirMachenAuf es vorhaben. Tut es aber nicht. Sondern das Thalia-Theater hält 100 Prozent systemkonform still. Der Kunstbetrieb wird so ganz sicher überleben, aber die „Freiheit der Kunst“?

Doch bei der neuen Gesinnungsparolenkultur geht es eben bloß um die große, hohle Geste, nicht um belastbare Inhalte. Hier ist noch so ein Beispiel:

Supi, liebe Bundesregierung! Das ist Yes-we-can-Schmiss vom Allermitreißendsten und passt prima zu den fast täglichen ARD-Pushmitteilungen auf meinem Handy, denen zufolge die Impfbereitschaft inzwischen bei ungefähr 120 Prozent der Bevölkerung liegt. Nur leider: Ob ich die Ärmel hochkremple oder nicht – ich kriege so oder so keine Coronaimpfung. Denn Herr Spahn hat die Impfstoffbeschaffung leider der EU überlassen, also Frau von der Leyen, und die hat das Thema mit derselben Kompetenz und Fürsorge behandelt wie damals als Verteidigungsministerin die Bundeswehr. Sagen wir so: Gegen die Winteroffensive des Virus ist das Pionierpanzerbataillon „Drosten“ nur sehr bedingt abwehrbereit. Lasst uns Anfang 2027 noch mal reden. Bis dahin können wir das Pamphlet auch online lassen, es gibt ja keine weiteren Buchungen dieser digitalen Werbefläche.

Und zum Abschluss unserer kleinen Wanderung durch die Reklamehochburg Hamburg noch den hier, meinen besonderen Liebling unter den Gesinnungstableaus:

Subtil, oder? „Trottel auf Telegram“! Da wissen selbst die Trottel auf WhatsApp ohne ausdrückliche Erwähnung, dass damit die bösen Querdenker gemeint sein müssen, berüchtigt aus Funk und Fernsehen. Die sich da digital zusammenrotten auf dem gefährlich unzensierten Russen-Messenger, ohne Maske vermutlich auch noch. Also gilt für uns, und jetzt erst recht: „Maske auf und durch“! Deutschland gegen Corona. Und auf sie mit Gebrüll.

Meine Güte. Ich weiß gar nicht, was an diesem Ding am niederschmetterndsten ist. Ist es die offensichtliche Spaltungs- und Diffamierungslust der Absender, die unten aufgelistet stehen? Der vor Selbstgerechtigkeit platzende Wille zur Denunziation divergierender Meinungen in wichtigen Fragen der Demokratie? Dieses nicht nur in Kauf genommene, sondern bewusste Verprellen ganzer Bevölkerungssegmente durch Medien, Markenartikler und sogar Werbeagenturen, die doch alle eigentlich vom Wohlwollen der Massen leben? Ganz offensichtlich ist es so, dass vom Stern über FischerAppelt bis hin zu Facebook keine Illusionen darüber herrschen, wie man von der hier angeprangerten Zielgruppe wahrgenommen wird.

Bloß: Diese hässliche kleine Giftkampagne, von der es noch andere misanthrope Motive gibt, ist so überraschend kraftlos wie ein röhrender Düsenjäger, der nicht mal von der Startbahn hochkommt. Ausgerechnet zum solidarisch verklärten Klatschen aufzurufen, wo es so was von klar sein musste, dass bei diesem zweiten Lockdown bis zum Sankt-Nimmerleinstag niemand mehr im Schneeregen auf den Balkon treten und für oder gegen irgendwas ein Händchen rühren wird. Nicht mal für die hier beworbene Zwei-Minuten-Hasskundgebung.

Wenn ausgerechnet das mich zu einem besseren Bürger machen soll, dann bleibe ich lieber ungezogen.