Ich musste wohl erst nach Südtirol fahren, um meine Hochachtung für das Sauerland bestätigt zu finden. Wie eine anrührend herzliche Geste zur inspirierendsten Erinnerung an einen Urlaub voller Erlebnisse wurde – und warum das nur Menschen bewirken konnten, die das Gegenteil des heute tonangebenden Typs sind.
Wir lernten die beiden im Urlaub kennen. Na ja, kennenlernen – wie man das eben so nennt. Im Frühstücksraum des Ferienhotels waren wir an benachbarten Tischen platziert worden, C. und ich an dem einen und dieses ältere Paar aus dem Sauerland am anderen. Sie rotbäckig und ein wenig kurzatmig, er mit Karohemd und Zwirbelbart, Handwerker im Ruhestand. Beide nicht mehr ganz so gut zu Fuß. Sie waren später angereist als wir, hatten einen Monsterstau auf der A8 am Irschenberg überstanden und waren immer noch ehrlich erschüttert über die stundenlange Standzeit. So kamen wir ins Gespräch, Small Talk trifft es besser. Und über die nächsten Tage hinweg tauschten wir neben Begrüßungen und guten Wünschen auch den einen oder anderen Ausflugstipp in der Fremde aus, die Südtirol für uns alle vier ja in gleicher Weise war. Bei der Wiederkehr zum Abendmenü gegen 19 Uhr, Halbpension, dann freundliches Hallo mit Erfahrungsberichten vom Tage. Und mehr war gar nicht.
Man sagt, die ersten Sekunden entscheiden über Sympathie und Antipathie. Was die beiden angeht und obwohl wir nicht einmal ihre Namen erfuhren: Sympathie, definitiv. Ganz herzliche Leute, das war vom ersten Moment an klar. Unkompliziert. Bescheiden. Bodenständig, aber reisefreudig. Neckisch zueinander, auch selbstironisch, jahrzehntelang als Paar zusammengebacken wie Pech und Schwefel. Passt kein Blatt Papier dazwischen. Weißte Bescheid, brauchste nicht fragen. Wie überhaupt die Sauerländer, das kann ich sagen, weil ich mich seit über einem Jahr beruflich in der Gegend umschaue, definitiv einer der besseren Menschenschläge im Land sind. Man muss nicht erst einen Sack Salz mit ihnen essen wie im Norden Deutschlands; Socialising ist für sie kein Fremdwort. Da pocht ein guter Schuss rheinisches Blut in diesen mittelgebirgigen Seitentälern zwischen Arnsberg und Winterberg.
Aber auch stur können sie sein, das ist der westfälische Einschlag. Querköpfe, die gerne auch mal ausgeprägte Schrullen entwickeln. Die stört das nicht, die schwimmen nicht mit dem Strom, nur weil alle anderen was machen oder nicht machen. Die leisten sich daheim noch ganz selbstverständlich ein Flüsschen, das „Neger“ heißt, die Neger übrigens, weil es immer schon so hieß. Wie? „Rassismus“? Legt euch gehackt mit eurem Rassismus, Idioten, euer Bus kommt! Auf ihren sieben Bergen sind die Sauerländer sicher vor dem Normierungszwang und den Hysterien des Flachlands. Hübsch zu sehen übrigens während Corona: Im Sauerland gab es das Virus nicht, jedenfalls nicht hinter verschlossenen Türen. Auf jeder hügeligen Hofstatt, unter jedem alterskrummen, schiefergedeckten Fachwerkhausdach kultivierte man statt Todesangst lieber seine eigene Verschwörungstheorie. Ich sag ja, eindeutig eine der cooleren Landsmannschaften. Tipp: Bevor die nächste Welle kommt, kaufen Sie dort ein Häuschen, noch ist es überraschend preiswert. Tür zu und Ruhe im Puff.
Wie dem auch sei, von all diesen Weiterungen nahm ich dort im Frühstücksraum, ehrlich gesagt, höchstens nebenher die eine oder andere Schwingung wahr und dachte das alles schon gar nicht zu Ende wie jetzt, beim Aufschreiben. Die beiden sagten ja auch nichts dergleichen, nicht mal andeutungsweise. Sie waren einfach da, sie waren sympathisch, fertig. Wir hatten darüber hinaus genug mit uns selbst zu tun; wer C. kennt, weiß: Im Urlaub muss der Tag 25 Stunden haben. Es gibt ja so viel zu sehen! Und das noch entdecken, und jenes noch besichtigen, und ganz viel wandern und diesen Turm da unbedingt noch besteigen, und natürlich bummeln gehen. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Da hätten die beiden ohnehin nicht mitziehen können, wie gesagt, die Fitness war nicht mehr so vorhanden. Also blieb es bei den Essens-Kongregationen: Halli, hallo! Das Wetter heute, sagenhaft wieder, was? Dabei war doch Regen angesagt gewesen! Haben wir ein Glück! Und schönen Abend noch!
„Sauerländer stört das nicht, die schwimmen nicht mit dem Strom, nur weil alle anderen was machen oder nicht machen.“
Schließlich brach der letzte Urlaubstag an. Also für sie, noch nicht für uns. Sie wollten, wenn ich mich recht entsinne, vor der endgültigen Heimreise noch einen Abstecher zum Chiemsee machen. Als ich da so am Frühstücksbuffet stehe und gedanklich ganz in die maximal effiziente Streckenplanung zwischen Butterportionspäckchen, Marmeladenschälchen, Kaffeemaschine und Brötchenkorb versunken bin, spüre ich plötzlich eine kräftige Hand auf meiner Schulter. Das passiert mir selten, daher schrecke ich aus meiner morgentlichen Logistik-Mediation auf und drehe mich um. Die Hand, die gerade noch auf meiner Schulter lag, streckt sich mir nun entgegen: „War nett mit Ihnen, noch eine schöne Zeit, und gute Heimreise!“ Er wieder, der Handwerker i. R. aus dem Sauerland. Und noch während ich artig etwas Entsprechendes erwidere, beschleicht mich ein Erstaunen: Der sagt das nicht bloß auf, der meint das! Der schaut dir in die Augen dabei. Dabei war doch gar nix. Also fast überhaupt nix.
Es gibt so Leute, die hinterlassen Spuren. Kleine Spuren auf Schritt und Tritt. Bleiben im Gedächtnis, anders als die Masse. Du weißt erst gar nicht genau, warum. Der einzige Eindruck, den du vielleicht als Begriff abgespeichert hat, ist: „herzlich“. Ein herzlicher Mensch. Was durchaus bemerkenswert ist, nicht normal, in diesen Zeiten, in diesem Land. Die meisten Menschen hierzulande sind nicht herzlich. Sie sind alles mögliche: kalt, berechnend, passiv-aggressiv, schnöselig, prollig, ausgelaugt, verhärmt, exaltiert, krawallig, fahrig, fanatisch oder langweilig. Vor allem langweilig. Vorsichtig ausgedrückt: Sie laden nicht zum näheren Hinsehen und Andocken ein. Großstadtmenschen ganz besonders, und ja, ich bin einer von denen. Gesichtslos, mutlos, blutleer. Eben nicht herzlich. Eben nicht wie das Paar aus dem Sauerland. Das war nun weg.
Mit meiner streckenoptimierten Frühstücksausbeute auf dem Teller schlurfe ich zu unserem Tisch hinüber, wo C. schon sitzt, während der leergefrühstückte Nachbartisch verwaist steht. Ich setze mich hin, und da entdecke ich ihn. Er steht neben der Kaffeetasse auf der Tischdecke und lächelt mich an. Klein wie ein Bleistiftstummel. Mit einer braunen Zipfelmütze auf dem angeschrägten Kopf. Weißer Zwergenbart. Rote Clownsnase, oder sagen wir: ein Riechorgan wie Rudolph the red-nosed reindeer. Aus hellem Holz, handbemalt. Ein Wichtel. Wieso steht da ein Wichtel? Oder wie wir desillusionierten, traumlosen, abgesehen von US-amerikanischen Akronymen begriffslosen, vom rauen Wind verhärteten Großstädter reflexhaft sagen: WTF! „Ich hab auch einen bekommen“, lacht C. und zeigt mir den Wichtel auf ihrem Frühstücksplatz. Ihrer hat eine leuchtend rote Mütze auf. Ansonsten gleich groß, gleicher Bart, gleiches Lächeln. Brüder. Wichtelbrüder. WTF.
Stellt sich heraus: Er macht die. Stellt sie eigenhändig her. Bemalt sie selbst mit spitzem Pinsel. Der Sauerländer mit dem Zwirbelbart. Der Handwerker in ihm will immer noch ran. Er muss wohl immer einen kleinen Sack voll Wichtel dabeihaben, und wenn ihm jemand sympathisch ist, dann kriegt der einen. Als nette Geste zum Abschied. Das muss man sich mal vorstellen: Da fährt einer durchs Land, ja durch Mitteleuropa, und lässt überall bezipfelmützte, rotnasige Holzwichtel im Bleistiftstummelformat zurück. Die lächeln dann Leute an. Und die Leute wiederum können nicht anders, als in all ihrer Trübsal auch kurz zu lächeln. Denn diese Wichtel sind ansteckender als jede noch so clever im Genlabor designte Corona-Variante.
Man fängt auch sofort an, seine Wichtel irgendwie aufzustellen und wenn möglich zu Grüppchen zu formieren. In meinem Fall, um Fotos davon zu machen. Hihi, schau mal, du und ich als Wichtelpaar! Huhu, haha! Ist das drollig! Dann fällt einer um, weil die Tischdecke eine Falte wirft, und man muss ihn wieder aufstellen. Meine Güte. Wie viel Zeit ihn das wohl kostet, den Sauerländer, einen Wichtel herzustellen? Sägt er die Schräge selbst aus? Was für Hölzer nimmt er als Rohlinge? Kauft er die im Baumarkt? Kennen die ihn da schon? „Da kommt wieder der, der die Wichtel bastelt! Mach schon mal zehn Meter Rundstäbe klar!“ Malt er die rote Nase immer zuletzt? Nach der Abstufung der Farbschichten zu urteilen, glaube ich: ja.
Als dann einige Tage später schließlich wir an der Reihe waren mit Abreise und ich am Tresen der Rezeption auf die Rechnung wartete, schweifte mein gelangweilter Blick über die Regalfächer – und da, zweites von oben rechts, standen sie schon, winzig und hölzern. Nicht weniger als vier von ihnen, in Reihe nebeneinander: grüne, gelbe, rote, blaue Mütze. Einheitlich rote Nasen, weiße Bärte, synchronlächelnd. Auch unserem Hotelier hatte der Mann mit dem Zwirbelbart also Sympathie-Wichtel hinterlassen. Gleich vier. Vielleicht waren die beiden Sauerländer zum vierten Mal dagewesen. War ja auch ein gut geführtes Hotel, muss man sagen. Familienbetrieb. Mit Herzblut. Herz erkennt Herz, immer, blind.
„Das muss man sich mal vorstellen: Da fährt einer durchs Land und lässt überall bezipfelmützte, rotnasige Holzwichtel zurück.“
Und das ist eigentlich schon die ganze Botschaft dieses Textes: Leute, seid herzlich, so oft ihr könnt! Falls ihr etwas in dieser Welt hinterlassen wollt, etwas, an das man sich gern erinnert. Herzlichkeit ist der Wichtel unter den Haltungen. In einer Zeit, die zunehmend nur noch von Ausgrenzung und Fanatismus bestimmt wird, muss dringend viel mehr gewichtelt werden. Sollten Sie je einem dieser Kerlchen begegnen, in einem Hotel, einer Pension, einer Gastwirtschaft oder auf einem Campingplatz: Die Sauerländer waren vor Ihnen da. Mein Wichtel steht jetzt winzigklein auf der Fensterbank im Büro. Er lächelt sein leicht verträumtes, leicht melancholisches, in jedem Falle tapferes Trotz-alledem-Lächeln. Ich kann nicht anders, wenn ich ihn betrachte: ich auch.
Lieber Herr Driesen,
immer wenn ich einen Ihrer Artikel lese, denke ich: „Sie haben ja so recht mit dem, was Sie schreiben…“. Ganz bestimmt brauchten wir alle in diesen irren rot-grünen Zeiten mehr Wichtel und mehr Herzlichkeit. Danke für diese kleine Erinnerung! Und danke vor allem auch für den wiederholten Hinweis auf das „Gebot der Stunde“ – offenbar hält das Wissen um den Irrsinn des Krieges nicht länger vor als höchstens ein Menschenalter.
Viele Grüße aus einer Gegend nicht weit vom Sauerland
Carola Zechert
Oh, danke schön! Ich hoffe, es wichtelt bei Ihnen ordentlich in der kommenden Vorweihnachtszeit …