Da draußen gibt es Einnahmequellen, die wir im 21. Jahrhundert nicht mehr auf der Rechnung hatten. Aber sie sprudeln trotzdem immer weiter. TWASBO besucht längst totgesagte Märkte, die vermutlich ewig leben.

Jetzt, im letzten Sommerloch der Berliner Republik, kurz bevor wir mit der Impfnadel im blaugefrorenen Arm in den Untergang reiten (TWASBO wird berichten), muss ich überraschend eine alte Serie dieses immergrünen Magazins wiederbeleben. Erstmals seit Oktober 2016! Denn auf einem arglosen Spaziergang um den eigenen Wohnblock an einem dieser seidigen Spätsommerabende bemerkte ich sie.

Nicht, das etwas anders gewesen wäre als sonst, im Gegenteil. Sie war schon immer da gewesen, und nun war sie – halt immer noch da. Unverändert. Starr und stumm. Dienstbereit, geduldig wartend, sommers wie winters, tags wie nachts, come rain or shine. Aber aus irgendeinem Grund nahm ich sie an diesem Abend bewusst wahr. Vielleicht hatte ich gerade auf meine Armbanduhr geschaut und gedacht: „Oha, schon 2022? Kinder, wie die Zeit vergeht! Inzwischen machen wir Urlaub auf dem Mars, haben den Krebs besiegt und die Kernfusion gemeistert, ja wir führen sogar schon sogenannte Mobiltelefone mit – Augenblick! Sollte sie nicht lange, längst schon verschwunden sein?“

Doch da stand sie, immer noch. Plötzlich erinnerte ich mich, dass sie noch Ende März kurzzeitig ein weißes Zipfelmützchen getragen hatte, als Putin mit der Russenpeitsche durchs Land peitschte (warte, warte nur ein Weilchen!). Jetzt hingegen präsentierte sie sich längst wieder oben ohne, bzw. nur mit diesem magentafarbenen Leuchthütchen auf dem Kopf, das die finsteren Büsche ringsum in ein bizarres Rotlichtviertel-Ambiente tauchte. Und merkwürdig: Für eine lange Sekunde fiel mir ihr Name nicht ein. So wie bei der langjährigen Bürokollegin, wenn sie einem plötzlich außerhalb des gewohnten Rahmens am Badestrand begegnet. Telefonzelle! So heißt die – also nicht die Kollegin jetzt, die heißt Vanessa.

Wobei: Von „Zelle“ kann bei dieser – ja, was? – Telefonstelle gar nicht mehr die Rede sein. Denn im Unterschied zu ihren gelben, verglasten und rundum geschlossenen Vorläufern in meiner großen Zeit (ca. 1972) herrscht hier eine Nackt- und Offenheit, die durch die Alibi-Glasscheibchen oben und an den Seiten nur noch extra betont wird. Statt zu versuchen, ausgerechnet in diesem Rahmen Schutz vor der Witterung zu finden, würde man sich zum Telefonat besser im Gebüsch verkriechen mit dem Magenta-Hörer in der Hand, falls der metallene Duschschlauch so weit reicht, an dem er hängt.

Kurzum: ein Anachronismus reinsten Wassers. Ich bin überzeugt, dass dies die letzte betriebsbereite „Telefonzelle“ der Welt ist. Direkt hinter meinem Haus! Oder kennen Sie noch ein zweites Exemplar? Da weht einen doch gleich ein wenig der Hauch der Geschichte an, zugig, wie es hier ist. Telefonzellen: Jeder Boomer kann spontan eine Geschichte von ihnen erzählen. Zum Beispiel die abgeleierte Schote, in der Person A strategisch die Zelle unmittelbar neben dem Pressehaus besetzt hielt, damit Person B mit dem Kleinanzeigenteil der frisch gedruckten Tageszeitung hereinstürmen und als erster die Wohnungsvermieter abtelefonieren konnte. Tatsächlich war auch ich das ein oder andere Mal Person A oder B. Wir hatten ja nichts, damals im Schützengraben.

Was ich noch über Telefonzellen weiß: Ein Ortsgespräch kostete exakt 23 Pfennige – für drei Minuten, stimmt das? Oder beliebig lang? Aber das kann für Telefonzellen sowieso nicht gegolten haben, weil man da keine drei Pfennige einwerfen konnte. Dann gab es noch den „Nahbereich“ und das tollkühne „Ferngespräch“. Weiß jemand noch die diesbezüglichen Tarife von „früher“? Oder gar die von heute? Überhaupt: Bargeld geht offenbar nicht mehr. Man benötigt, so fiel es mir dann erneut einige Sekunden später wieder ein, eine sogenannte Telefonkarte. Aber wo kriegt man die? Im Späti? Bei der Post? Beim Finanzamt? Keine Ahnung. Hab ich das letzte Mal vermutlich vor 1997 gebraucht. Da bekam ich mein erstes Handy, von Siemens, mit einer Antenne, die sich nicht einfahren ließ. Das Ding konnte sogar schon SMS, glaube ich.

Egal. Zurück ins Hier und Jetzt. Schauen Sie sich das an, wenn es Sie nicht zu sehr ekelt:

Das ist der Telefonkarteneinschiebeschlitz der letzten Telefonzelle des Universums. Spinnwebfäden versperren den Zugang. Könnte es ein symbolischeres Bild geben für den Niedergang des Telefonzellenwesens? Und doch! Und doch ist sie noch in Betrieb! Warum bloß? Welchen Grund könnte das haben? Müssen wir nicht alle Strom sparen? Und könnte hier nicht angefangen werden, weil 1 Telefonzelle so viel Strom verbraucht wie 824.293 Handys?

Ich wage mich jetzt einfach mal ganz weit vor und behaupte: Telefonzellen, die niemand mehr benutzt außer ein paar Spinnern Spinnen, existieren im Jahr 2022 wegen der, äh, Dings, Grundversorgungsverantwortung des öffenlichen, ähm, Infrastrukturanbieters Deutsche Bundespost Telekom. Sagen wir, ein Alien bruchlandet mit seinem Ufo im Hammer Park zu Hamburg, hat sein Handy zuhause vergessen und muss aber dringend 112 anrufen, weil der Ionenantrieb zu explodieren droht. Dann steht ihm das öffentliche Kartentelefon zur Verfügung, denn eine Telefonkarte gehört wie ein Handtuch zur Pflichtausrüstung jedes Ufos. Ist es so? Oh Mann, dann soll ich das googeln jetzt, ja? Weil Sie sich zu fein sind. Schon gut, ich mach’s ja.

Selbst schuld, dass Sie zur Strafe für Ihre Faulheit jetzt das hier lesen müssen: „Mit dem Inkrafttreten der jüngsten Novelle des Telekommunikationsgesetzes (Telekommunikationsmodernisierungsgesetz, TKGMoG) zum 01.12.2021 wurde die flächendeckende Bereitstellung von öffentlichen Münz- oder Kartentelefonen inklusive der Erreichbarkeit der Notrufnummern 110 und 112 aus dem Katalog der Telekommunikations-Universaldienstleistungen gestrichen. Damit ist die Verpflichtung der Deutsche Telekom AG zur Sicherstellung dieser Universaldienstleistung erloschen. Konnten bislang unwirtschaftliche Pflichtstandorte nur mit Zustimmung der Belegenheitskommune abgebaut werden, so ist die Telekom AG nach neuer Rechtslage berechtigt, auch ohne kommunales Einverständnis ihre öffentlichen Fernsprecheinrichtungen zu entfernen.“

Das vermeldete im März der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) in seiner unnachahmlichen Bürokraten-Prosa. Listen and repeat: Belegenheitskommune. Pflichtstandorte. TKGMoG. Telekommunikations-Universaldienstleistungen. Letzteres sind ganz klar Dienstleistungen für Besucher aus fernen Gegenden des Universums, sprich Aliens. Und wenn die Telekom diese Dienstleistungen nicht mehr gewährleisten muss, falls die Aliens ausbleiben, es aber trotzdem noch tut, kann das ja nur heißen: Die letzte Telefonzelle des Universums verdient immer noch Geld. Beziehungsweise: Außerirdische landen regelmäßig hinter meinem Haus, und immer müssen sie wegen technischer Probleme die Feuerwehr anrufen. Irre!

Aber wie viele Telefonzellen gibt es denn jetzt wirklich noch in diesem schönen Land? Noch eimal der DStGB: „Zum Jahreswechsel 2021/2022 existieren nur nach ca. 14.000 öffentliche Telefonstellen in Deutschland, von denen viele wochen- oder monatelang vollkommen ungenutzt bleiben. Gleichzeitig nähert sich die Zahl aktiver Mobilfunkkarten 110 Millionen an.“

Vierzehntausend öffentliche Telefonstellen? Anno domini 2021/2022? Soll man das glauben? Vielleicht sind ja wegen Corinna bzw. wegen Gasmangel allein in diesem Jahr bereits weitere 13.999 stillgelegt worden. Ja, so wird es sein. Alle, nur diese nicht. Denn diese öffentliche Telefonzelle/Telefonstelle ist ein unsterbliches Geschäftsmodell. Ich liebe übrigens die Bezeichnung „öffentliche Telefonstelle“. Das klingt wie in alten, ruckeligen, zu schnell laufenden Schwarzweißwochenschaufilmen: „Teilnehmer, hören Sie mich? Hallo, Vermittlung? Fernsprechteilnehmer, antworten Sie!“

Aber hallo! Sobald ich die Spinnweben los bin.


TWASBO liebt Debatten. Zum Posten Ihrer Meinung und Ihrer Ergänzungen steht Ihnen das Kommentarfeld unter diesem Text offen. Ihr themenbezogener Beitrag wird freigeschaltet, ob pro oder contra, solange er nicht gegen Gesetze oder akzeptable Umgangsformen verstößt. Vielen Dank.