Wir sind das Volk, das nicht sein will. 30 Jahre nach dem Mauerfall fristet die Identität der Deutschen ein Zombiedasein zwischen Individualismus und Globalismus – aber bitte immer schön gewaltfrei. Weshalb unser wahrer 9. November der 11. September ist.
Nun werden also wieder diese Reden gehalten: von der Erringung und der Verteidigung der kostbaren Freiheit. Vermintes Gelände allerdings, weil wir alle spüren, dass uns unsere Freiheiten Tag für Tag immer mehr abhanden kommen. Ob von den Sonntagsrednern selbst mit Gesetzeskraft zerschreddert, ob stumpf und freiwillig im Internet hergeschenkt, ob von den Jakobinern der medialglobalen Klasse mit Denk- und Sprechverboten abgepresst oder durch „kulturelle Adaption“ preisgegeben. Und an den 364 Tagen, wenn nicht gerade 9. November ist, bekommen wir von Kindesbeinen an aussschließlich Appeasement gepredigt. Aber heute muss es sein, also: „Freiheit!“ Ist doch Jubiläum.
Viel weniger und im Ton deutlich relativierender wird die Parole „Wir sind das Volk!“ zitiert, denn die Zeiten haben sich geändert in 30 Jahren. Alles „Volk“ ist heute „völkisch“. Also: Don’t try this at home, kids! Bringen wir doch die jungen Leute nicht auf dumme Ideen von gemeinsamer Kraft, Entschlossenheit und Widerständigkeit gegen wirkliche Feinde der Freiheit. Wir sind es doch, das Volk, das nicht sein möchte. Das mit sich selbst nicht leben kann. Und damit schon wieder einzigartig dasteht auf der Welt.
Von Kindesbeinen an bekommen wir ausschließlich Appeasement gepredigt.
Es ist merkwürdig: Wenn ich mir eine Person vorstellen sollte, die „den Deutschen“ von heute – zumindest seine westliche Ausprägung – auf den Punkt bringt, dann stünde mir sofort eine Filmfigur vor Augen.
Sie spielt nur eine kleine Nebenrolle in Paul Greengrass‘ Drama „United 93“ aus dem Jahr 2006. Ihr Name wird nie genannt, obwohl die Figur eine historisch verbürgte Person darstellt. Ihr Real-Life-Vorbild ist ein gewisser Christian Adams, der am 11. September 2001 Passagier auf dem von islamistischen Terroristen gekaperten Flug Nummer 93 von United Airlines war.
Dieses Flugzeug war das einzige der vier, das sein Terror-Ziel nicht erreichte. Die Passagiere hatten durch Telefongespräche mitbekommen, was Minuten zuvor in New York mit den Türmen des World Trade Center und in Washington mit dem Pentagon geschehen war, und sie hatten beschlossen, sich zu wehren. Der gewalttätige Widerstand einer Gruppe kräftiger Männer gegen die vier Entführer an Bord, so wurde später rekonstruiert, führte zum vorzeitigen Absturz auf einem Feld im Niemandsland. Keiner überlebte.
Auch nicht Christian Adams. Im Film, der uns die Tragödie erschreckend hautnah und in all ihrer Chaotik unter immensem Stress der Ungewissheit durchleiden lässt, ist „der Deutsche“ keiner der heldenhaft Verschworenen. Im Gegenteil: Während die kräftigen good guys sich unter Lebensgefahr verbrüdern und mithilfe beherzter Stewardessen ihren Plan zur Überwältigung der Terroristen schmieden, fleht er mit angstgeweitetem Gesicht: „Wir sollten alles tun, was sie fordern! Dann werden sie uns sicher am Leben lassen! Wir sollten jetzt nichts Unüberlegtes tun!“
Das ist „der Deutsche“ des beginnenden 21. Jahrhunderts für Hollywood (und das linksliberale Establishment dort kennt ihn besser, als die konservativen Rednecks des ländlichen Amerikas es tun, die uns immer noch in Wehrmachtsuniformen herumstolzieren sehen): Wenn es hart auf hart kommt, kneift er, rollt er sich zu einem zitternden Ball zusammen. Es gibt für ihn kein höheres Ziel, keinen Wert, kein Kollektiv und keine Zukunftsvision, für die er etwas so Kostbares wie sein kleines, individuelles Leben risikieren würde. Nicht einmal im Angesicht der reinen Bösartigkeit. Eher winselt er um Gnade, oder er hofft, dass in schimmernder Rüstung eine Schutzmacht erscheinen und ihn gegen die Bösen verteidigen möge.
Als Zuschauer des Films windet man sich vor Pein, auch vor Scham in dieser Situation, in der die zu allem Entschlossenen nur noch auf den idealen Moment zum Losschlagen warten – und nichts weniger brauchen als die mutlosen Relativierungen dieses Krauts an Bord.
Dabei muss fairerweise gesagt werden, dass Greengrass für seine Darstellung „des Deutschen“ kritisiert worden ist. In Wahrheit ist nichts bekannt darüber, wie Christian Adams sich verhalten hat. Es gibt von ihm vermutlich keine aufgezeichneten Telefonate wie von den verbürgten Helden, die Menschen am Boden von ihrem Plan berichteten, während sie ihn vorbereiteten. Adams Witwe verweigerte laut Wikipedia die Kooperation mit den Filmemachern, die über die Charaktere an Bord recherchierten.
Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass man „den Deutschen“ mangels feststehender Tatsachen über seine unbedeutende kleine Nebenrolle einfach hätte weglassen können. Doch das geschah nicht. Greengrass und sein Team brauchten einen „Sidekick“, der das Drama und die Verzweiflung durch konträres und irritierendes Handeln noch einmal aufpeitscht, noch drastischer zuspitzt. Und so kamen sie auf „den Deutschen“.
Welche Nationalität konnte so jemandem glaubwürdigerweise zugeschrieben werden? Chinese? Russe? Franzose? Nein. Hier sind offenbar alle intuitiven „gut feelings“ der Filmemacher, vielleicht auch ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, bezüglich der heutigen erwachsenen Generation aus Germany eingeflossen. Man kann das als Vorurteile von der Hand weisen. Aber so einfach ist es nicht.
Jahrzehnte des friedenstümelnden Individualismus der Deutschen – den man fast schon „militant“ nennen müsste – haben Spuren im kollektiven Bewusstsein der Welt hinterlassen. Wir sind das Volk, das sich verweigert. Das im Zweifel immer nur auf den Einzelnen oder auf „den Staat“ zurückfällt, nie auf die Gemeinschaft. Das keine Kraft hat, sondern Angst. Weil es aus lauter in Angst gehaltenen Individuen besteht.
Eine Wertegemeinschaft teilt Werte – und findet dadurch die Kraft, sie auch gegen gewalttätige Angriffe zu verteidigen.
Eine Wertegemeinschaft teilt Werte – und findet dadurch die Kraft, sie auch gegen gewalttätige Angriffe zu verteidigen. All das tun wir in Deutschland, 30 Jahre nach 1989, längst nicht mehr. Die Selbstzerfleischung und Selbstmarginalisierung, die im Westen schon seit den Siebzigerjahren getobt hatte, begann unmittelbar nach der kurzen Pause der „Wende“ von Neuem, gesamtdeutsch. Aber „Besserwessis gegen Jammerossis“ war nur eine der vielen Schlachtlinien.
Eine andere war und ist die Staatsdoktrin des pseudopazifistischen Individualismus. Das ist kein Pazifismus, der eine kollektive Energie zur Verwirklichung einer gemeinsamen Vision mit sich bringen würde. Es ist vielmehr eine Ideologie der Lippenbekenntnisse zu Gewaltfreiheit und Gemeinwohl, die in Wahrheit neben dem Eigeninteresse höchstens noch Partikularinteressen kennt. Da sich deren Verfechter nicht offen zur Gewalt oder auch nur zum Gruppenegoismus bekennen dürfen, müssen sie passiv-aggressiv unter dem Deckmantel der Political Correctness agieren. Immer auf Kosten anderer, weniger gut organisierter Teile dieser zunehmend zerrissenen Gesellschaft.
Denn über eines gibt es kein Vertun. Wir sind in Deutschland alles andere als gewaltfrei. Nicht im Inneren, wo die Zuspitzung der politischen Verhältnisse immer deutlicher eine „antifaschistische“ Gewaltszene herausbildet, von Seiten des Establishments stillschweigend akzeptiert. Ökonomisch erst recht nicht: Gewalt wird den Familien angetan, deren Ersparnisse durch Minuszinsen planvoll aufgezehrt und in andere Taschen gelenkt wird. Gewalt erleiden die einfachen Arbeiter, Hartz-IV-Aufstocker, Sozialrentner und Obdachlose, die schutzlos und für den Profit weniger einem grenzenlosen Migrationsdruck ausgesetzt werden.
Und nach außen kämpfen deutsche Konzerne auf den Weltmärkten jenen Kampf, den früher eine Kriegsmarine auf den Weltmeeren führte, nur mit anderen Mitteln. Die Sprache allein: „Divisions“ erobern „strategische“ Märkte, bilden „Brückenköpfe“ und „Rückraumpositonen“. Sie züchten in den „Units“ und „Stäben“ einen widerspruchslosen Korpsgeist junger, nach oben drängender Manager heran, an dem das alte Preußen seine helle Freude gehabt hätte. Nur, dass er für nichts steht außer den Egoismus. Paradoxerweise mag auch der junge Geschäftsreisende, der im Greengrass-Film „den Deutschen“ darstellt, zu diesem schlagkräftigen Korps gezählt haben. Im Flugzeug indes war er auf sein Selbst zurückgeworfen.
Dieses Selbst, das alles andere so alternativlos überstrahlt. Das einzige Ziel des ganzen Wirtschaftsfeldzugs ist denn auch der persönliche Profit. Solange der in Aussicht steht, kümmern wir uns in Deutschland einen Dreck um Werte wie Freiheit oder Gemeinschaft, die nur durch ein mühsames und fortdauerndes Einigungswerk zu verteidigen wären. Der Verzicht darauf und das Scheitern daran ist die Quersumme, die Quintessenz allen staatlichen Seins in Deutschland post 1989. Wir kennen nichts anderes mehr.
Drei Jahrzehnte des Neoliberalismus und Globalismus haben uns zu auf Einzelsitzen festgeschnallten Passagieren gemacht, die an Bord eines Terrorflugs um Verschonung betteln. United ’89? Mag ein paar magische Tage lang geflogen sein. Doch seitdem hat unser Flug die Nummer 93.