Einmal im Jahr, allerhöchstens, betrete ich das Geschäft des Chocolatiers. Er gehört nach einem ungeschriebenen Kodex – manche nennen ihn Kaufkraft – nicht zu meiner Einkaufswelt, so wie ich nicht zu seiner Klientel zähle, aber ich muss da jetzt rein, denn die Dame des Hauses, das es zu besuchen gilt, gehört definitiv zur Zielgruppe dieses Etablissements. Und außerdem gibt es beim Chocolatier wunderbare Trinkschokolode.

Wenn Schnee liegt, ist heiße Trinkschokolade etwas, das mich von einer imaginären heilen Kindheit träumen lässt. Im extraordinären Preis der heißen Schokolade ist die zuvorkommende Aufmerksamkeit des Personals enthalten, das nach der kakaobraunen Hautfarbe ausgewählt zu sein scheint und ein erleseneres Deutsch spricht als die meisten Hanseaten. Hier kaufen Pöseldorfer Vorstandsgattinnen die Trüffel für ihre Schwiegermütter in der Seniorenresidenz am Elbufer.

Ich sitze auf dem hohen Hocker am einzigen Kafeehaustisch, trinke und schaue durch die Fensterfront den frischen Schneeflocken zu. Freitagsvormittags um 11 ist der kleine Laden noch recht leer, trotz Weihnachtsgeschäft. Nachdem die vereinzelte Pöseldorferin in ihrer Wintersteppjacke aus Naturdaunen den Laden mit einer winzigen, aber exquisiten Tüte am Handgelenk verlassen hat, ist da nur noch ein Kunde, ein Anfangfünfziger.

Er ist da schon ziemlich lang, er sucht handgemachte Pralinen einzeln aus und hat alle Zeit der Welt. Ein vermeintlich leichtes Spiel für die Berater-Armada: “Für wen soll das Geschenk denn sein? Ach, Sie möchten sich selbst verwöhnen. Aber natürlich, Sie sind ein Kenner, mein Herr!” So jemanden nennt man wahrscheinlich Privatier. Einer, der von den Erträgen lebt. Ein Privatier beim Chocolatier.

Foto: Simon A. Eugster / Wikipedia

Grau melierte, aber schüttere Komponistenfrisur, ein von Pralinen und Einsamkeit aufgeschwemmter Körper, der nicht in die Designerjeans hineinwollte und sich die Enge dort mit immer neuen Pralinen teilen muss – dem Mann hängt etwas Trauriges, Zielloses an. Dröhnend streut er zwischendurch immer mal wieder Kommentare zur Lokalpolitik ein (“In Hamburg wird ja jetzt wohl alles durch Volksentscheid geregelt”), was die Bedienung jedes Mal kurz aus dem Konzept bringt.

Seine Bassstimme aber ist die eines Opern-Impressarios, sie verleiht jedem seiner Worte Würde und Gewicht, selbst wenn es der Inhalt nicht unbedingt tut. Mit der so gewährleisteten Souveränität hat der Privatier zum feierlichen Ende der rituellen Pralinenauswahlprozedur noch einen Rat für die kakaobraunen Schokoladenfachverkäufer.

“Wollen Sie nicht”, orgelt das Impressario-Organ gravitätisch in die Leere des Ladens hinein, “folgenden Slogan publik machen”. Er intoniert kein Fragezeichen, sondern einen Doppelpunkt. Der Mann war vielleicht in der Werbebranche tätig. Oder er wäre, wenn er nicht als Privatier auf die Welt gekommen wäre, gerne in der Werbebranche gewesen. Große, schokoladenbraune, aber nun auch alarmierte Augen harren seiner Offenbarung.

“Weihnachten:” Wieder der Doppelpunkt.

“Nicht nur Gans.” Stille. Unerträgliche zwei Sekunden Stille, während ein Gedankenstrich in der Luft hängt wie Zigarrenqualm.

“Weihnachten:” Mir sinkt die Tasse auf die Tischplatte.

“Auch Schokolade.”

Es dauert nur weitere fünf Sekunden, bis das Personal mit freudig-serviler Zustimmung den Schrecken beiseite wedelt und man nunmehr gottseidank zum Bezahlvorgang schreiten kann.

Normalerweise bin ich nur dazu verflucht, mir Gereimtes bis an mein Lebensende merken zu müssen. Heute ist ein neuer Spuk hinzugekommen.