Kay Sokolowsky ist ein Hamburger Journalist, Buchautor und Blogger. Er zählt zur aussterbenden Gattung derer, die ihre Muttersprache lieben und von ihr zurückgeliebt werden. Das lässt seine Texte gut altern; dieser stammt von 2018.

Vielleicht sollte ich nur noch über die schönen Phänomene schreiben. Über das Klagen der Bussarde da oben oder das Plappern der Spatzen hier unten. Über den Halbmond, wie er nachts die Wolken versilbert, oder über die Sonne, wie sie sich abends in Purpurtücher hüllt. Über das Tuscheln der Bäume oder das Taumeln der Hummeln. Über die Marienkäfer, die sich vorm Winterschlaf zu einem letzten Tanz versammeln, oder die Eichkater, die das Vorrätehorten aussehen lassen wie den größten Spaß der Welt. Über das neptunische Blau der Korn- oder das saturnische Orange der Ringelblumen, satt und warm sogar jetzt noch, Mitte Oktober.

Vielleicht sollte ich den Rest meines Lebens, will ich das Schreiben nicht ganz lassen, nur mehr über das Gute schreiben, das ja doch in diesem einen oder jenem anderen Menschen steckt, und nicht mehr über das Schlechte, das die meisten Artgenossen, leider, kultivieren. Vielleicht sollte ich über den Krankenpfleger schreiben, der von seinem lächerlichen Lohn DVDs mit berückenden Naturaufnahmen anschaffte, damit die Patienten, die Stunden über Stunden vor der OP-Schleuse darauf warten müssen, in der Hospitalfleischfabrik verwurstet zu werden, etwas anschauen können, das sie von ihrer Angst und Ohnmacht ablenkt. (Der Betrieb, von lauter BWL-Zombies organisiert, sieht nämlich nicht mal Tröstungen dieser geringsten Art vor; es kümmert ihn nicht, was seine Objekte bekümmert.)

Vielleicht sollte ich über die Kinder schreiben, die am Zaun der Großkita gegenüber strahlen vor Freude und mit den Ärmchen wedeln wie aufgezogen, wenn ich ihnen vom Balkon zuwinke. Oder über die junge Mutter im Bus, die nicht in ihr Smartphone starrt, sondern mit ihrem Dreijährigen geduldig, nein, empathisch die Sensationen erörtert, die er durchs Fenster vorbeihuschen sieht, die „Audos Audos Audos!“, und die Menschen, die vielen, diese unfaßbar vielen Menschen, „Opa Opa Opa!“.

Vielleicht sollte ich nur noch über die realen Wunder, die authentische Zauberei des Kosmos schreiben. Über die Ozeane aus metallischem Wasserstoff unter den Wolkenkolossen des Jupiter. Über Sonnen, die am Rand der Schwerkrafttrichter Schwarzer Löcher mit 25 Millionen Kilometern pro Stunde dahinrasen – sechshundert Mal schneller als die Apollo-Rakete. Über die Biegsamkeit der Raumzeit, die Formbarkeit der Elemente, die Gespenstigkeit der Quanten. Oder mit aller Poesie, die mir gegeben ist, über den Sternenstaub, aus dem wir alle sind, ohne den nichts hienieden wäre. Vielleicht sollte ich mich auf dergleichen konzentrieren, weil sonst bloß Trübsinn und Dunkelheit am Schluß meines Tagwerks lauern.

Vielleicht sollte ich mir, wenn ich mich schon um Worte, um die richtigen Worte bemühe, die Mühe geben, das, was mir trotz allem das Leben sinnvoll erscheinen läßt, diesen magischen Rest so darzustellen, daß er auch anderen ein Trost sein kann oder wenigstens eine Empfehlung. Vielleicht sollte ich von den Büchern erzählen, zu denen ich immer wieder und wieder zurückkehre, wenn die Sprachlosigkeit mich verstummen läßt; von den Tönen, die ich am liebsten höre, wenn der Lärm der Welt mich taub zu machen droht; von den Bildern, die ich ansehe, immer und immer wieder, wenn das Geflacker auf allen anderen Kanälen mich blind machen will.

Vielleicht sollte ich nur noch über die realen Wunder, die authentische Zauberei des Kosmos schreiben. Über die Ozeane aus metallischem Wasserstoff unter den Wolkenkolossen des Jupiter.”

Vielleicht sollte ich eine neue (haha:) Karriere starten, gebaut auf meiner – das ist mal keine Prahlerei – beträchtlichen Bildung und Auskennerschaft. Vielleicht sollte ich den Leuten, die auf mein Wort vertrauen, Hinweise geben auf das Schöne, das es gibt, wiewohl es in all der Scheinschönheit der akuten Welt versunken ist. Hinweise auf die Kunst und die Fertigkeit und auf die Freude, das wahrhaft Erhabene zu erkennen. Vielleicht sollte ich mich nie wieder, weder kritisch noch satirisch oder rechthaberisch, mit den Trotteln, Stümpern, Poseuren abgeben, die den Betrieb der kapitalistischen Kultur am Laufen halten und sonst nichts bewegen, nicht mal die Ärsche, die sie so betriebsam sind.

Vielleicht sollte ich nur mehr Sätze verfertigen für Menschen wie den kleinen Jungen, der sich beim Lesen so schwer tut, den ich jeden Montagnachmittag treffe, um ihm Freude an den Lettern und den Sätzen zu vermitteln; Spaß an dem, was mich seit Wochen und Monaten so gräßlich verdrießt. Aber mir sind 46 Sommer mehr als ihm in die Haut gebrannt, 46 Winter mehr ins Herz gefroren, und ich wuchs, anders als er, in keinem freundlichen Elternhaus auf; und daher sollte ich meinen Verdruß besser nicht für was Verbindliches halten. – Vielleicht ist das der Sinn des Lebens, der einzige: anderen beizustehen, einen Sinn darin zu finden.

Vielleicht wäre dergleichen befriedigender, beglückender als sogar ein endlich mal geglückter Versuch, es mit dem infiniten Irrtum unseres grob zusammengehauenen Menschenmikrokosmos polemisch aufzunehmen. Vielleicht hat der Gott, den es nicht gibt, genau dies mit mir vorgehabt, als er mich mit einem – wie ich mittlerweile finde – dubiosen und fiskaltechnisch wertlosen Talent für die Wörter und den Umgang mit ihnen ausstattete. Vielleicht sollte ich die Jahre, die mir bleiben, damit zubringen, in Lichtjahren zu denken, nicht in Legislaturperioden. Vielleicht sollte ich mich auf die große Natur konzentrieren, während die Stümperei namens Zivilisation mal wieder vor der Barbarei klein beigibt. Vielleicht sollte ich auf die Aufklärung pfeifen, wenn erklärte Agenten des Kapitals, das heißt: des Verderbens, selbstherrliche Unholde wie Richard Dawkins oder Steven Pinker als bedeutendste Aufklärer unserer Zeit gepriesen werden.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Wenn ich in den vergangenen Monaten in meinen Notizblick hineinkritzelte – und ich kritzelte viel; viel wirres, manchmal irres Zeug –, fühlte ich mich von diversen „vielleichts“ geradezu erdrückt: „Vielleicht“ trete ich jetzt den LGBTQ-Leuten zu nahe? „Vielleicht“ rufe ich jetzt die Verteidiger Bibis auf den Plan? „Vielleicht“ beleidige ich die Verteidiger des Hambacher Waldes? „Vielleicht“ haue ich auf die falschen, wiewohl hohlen Köpfe? Vielleicht, vielleicht, vielleicht ist jedes Wort, das etwas bedeuten will, bereits eine Beleidigung? Vielleicht. May be. Quizás.

Vielleicht sollte ich, wenn ich überhaupt noch Politisches behandle, ausschließlich denjenigen Menschen meine Zeit und Kraft widmen, die nicht für sich oder für die Finanziers ihrer Parteien aktiv sind. Sondern für eine Gesellschaft, in der es sogar denen gut geht, die keine Wahl haben. Vielleicht sollte ich über einen der feinsten Politiker Europas schreiben, über Jeremy Corbyn – der eine der miesesten, verlogensten Rufmordkampagnen seit Erfindung der Rufmordkampagne so würdig erträgt, wie nur die Weisen es vermögen. Aber vielleicht trüge mir dies Reaktionen ein, die meine Misanthropie bedenklich verstärkten. Gesund wäre das kaum, und so richtig fit bin ich nicht.

Ganz bestimmt aber auch ist es ungesund, an der Wut zu ersticken. Ich will daher versuchen, den geraden Pfad zwischen Zorn und Ekstase zu finden, und ich will wieder riskieren, dabei zu stolpern und vielleicht heftig auf die Fresse zu fallen. (Guter Vorsatz # 10.831.) Wichtig ist: nicht liegenzubleiben. Das Aufstehen nach dem Fall ist wichtig, und ich bin sicher, daß es mich nicht gleich zum Nazi macht, wenn ich aufsteh.

Ich bin also wieder da, kehre zurück in die veröffentlichte Welt, ziemlich zittrig auf den Beinen, ziemlich entsetzt, ziemlich hoffnungsfern. Ich will mal sehen, wie das so geht, wie weit ich noch gehen kann oder mag oder darf, wie viele ignorante Kommentare ich vertrage, bevor ich wieder in meine Höhle flüchte, wieviel Versagen vor einem Himalaya aus Narretei ich ertrage, bevor ich abermals beschließe, mich auf den Boden zu legen und in die Sterne zu gucken statt nach ihnen zu greifen.

Okay. Da bin ich wieder. Hallo. „Hi, Kay!“


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