Seefahrt und Hafen: harte Arbeit, Männersache. Keine Angst, liebe Fühlis, Opa will euch nicht verletzen! Er schreibt bloß von der Zeit vor dem vorletzten (bösen) Krieg. Damals, als Kerle noch Eier hatten, durch Wände gingen und den Wohlstand erwirtschafteten, dessen Reste ihr heute mit dekadentem Schwachsinn verspielt. Eine Geschichte von Aufstieg und Niedergang.

Am 7. September 2020 lief die Viermastbark Peking „unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit“ in den Hamburger Hafen ein. Auch ich stand damals am Elbufer, um zu fotografieren und ihr die Ehre zu erweisen. Die allgemeine Begeisterung rührte daher, dass die Hansestadt Hamburg den 1911 bei Blohm & Voss vom Stapel gelaufenen Großsegler heimgeholt hatte. Seit 1974 war er, an einem New Yorker Museumskai fast vergessen vor sich hindümpelnd, langsam verrottet. Das nicht mehr fahrtaugliche Schiff musste in einem Schwimmdock übers Meer gezogen und dann in Deutschland erst notdürftig wieder flottgemacht werden, um seine letzte Fahrt die Elbe hinauf überhaupt antreten zu können.

Wenn Sie je den ollen Freddy Quinn mit diesem Seemanns-Gassenhauer vom „Hamborger Veermaster“ gehört haben: Sie hier war so einer. Einer der sogenannten „Flying P-Liner“, fast identischer Großsegler, deren Namen alle mit „P“ anfingen. Eines ihrer Schwesterschiffe war übrigens die Pamir, die als Schulschiff der Bundesmarine 1957 in einem Atlantiksturm unterging und dabei über 80 junge Seekadetten in den Tod riss. Wie ihre Schwestern gehörte die 115 Meter lange Peking der Hamburger Laiesz-Reederei, die den stählernen Viermast-Rahsegler vor mehr als einem Jahrhundert in Dienst stellte, um in der Salpeterfahrt Geld zu verdienen.

Salpeter, das man zur Herstellung von Dünger oder auch Sprengstoffen brauchte, wurde damals in Chile gewonnen, weshalb man von Hamburg aus erst durch den Ärmelkanal, dann südwestwärts über den Atlantik und schließlich nach der Umrundung des berüchtigten Kap Horn an der Südspitze Südamerikas die Pazifikküste wieder hinaufsegeln musste. Bis zu 5.000 Tonnen Salpeter brachte die Peking auf jeder Fahrt mit und trug damit einen guten Teil zum wirtschaftlichen Aufstieg des Deutschen Reiches in der Industrialisierung bei. Zum Wohlstand Hamburgs natürlich auch. Das Geschäft war extrem lukrativ: Bereits nach drei Fahrten hatte sich der Bau amortisiert.

Für die übliche 32-Mann-Crew war die 11.000-Seemeilen-Rundreise indes voller Entbehrungen und Gefahren. Wenn es schlecht lief, wurden gleich mehrere Besatzungsmitglieder im Sturm über Bord gespült und verschwanden spurlos in der tosenden See. Hinterher wurde an Bord nicht groß drüber gesprochen.

Ich bin nur in meiner Jugend einmal auf einem Großsegler gefahren, nämlich auf der Alexander von Humboldt, dem Schiff mit den grünen Segeln aus der Beck’s-Reklame („Sail away…“). Man wollte uns Landratten damals authentische Segelerfahrung vemitteln und schickte uns auf See deshalb genau wie die Stammbesatzung in die Rahen, um Segel einzuholen oder zu setzen; auch wurden wir in Tag- und Nachtwachen auf Deck eingeteilt. Auf der Fahrt von Kiel nach Danzig kam in der Ostsee ein Stürmchen mit vier Meter hohen Wellen auf, weshalb man uns Wachhabende am Steuerrad festband, damit wir nicht über Bord gingen. Und ich muss sagen: Danke, das reichte mir dann auch. Ich kannte nun alle Schattierungen von Grün.

Aber seither habe ich einen Mordsrespekt vor den echten Seefahrern der Großseglerepoche. Und dieser Respekt hat sich schlagartig noch einmal quadriert, nachdem ich den hier eingeklinkten Dokumentarfilm von 1929 gesehen habe. Gedreht hat ihn, nun auch schon vor fast 100 Jahren, der amerikanische Dokumentarfilmer, Abenteurer und spätere Kapitän Irving Johnson – an Bord der Peking während eines ihrer Salpeter-Törns. Was er, die Mannschaft, die Offiziere und ihr legendärer Kapitän Jürgen Jürs allein auf dieser Fahrt leisteten, darf im Vergleich zum Leistungsvermögen heutiger Hierlebender kurz und knapp als übermenschlich bewertet werden.

Segelkunst, Disziplin, Mut, Körperbeherrschung und Verschworenheit dieser Männer sind niemals mehr übertroffen worden. Sie überlebten auf dieser einen Fahrt zwei Jahrhundertstürme: den ersten im englischen Kanal, den zweiten vor Kap Horn. Und sie zwangen dem riesigen Schiff, das ohne Motor und ohne elektrisches Licht fuhr, dennoch ihren Willen auf. Der deutsche Sprecher des Films ist der Kapitän Ulf Petzel, der dazu im Jahr 1980 die Original-Anmerkungen von Johnson zu dessen Stummfilm ins Deutsche übertrug.

Aber zurück in ein anderes Jahrtausend mit anderen Sitten. Seit ihrer Rückführung liegt die Peking am Bremer Kai im Hansahafen hinter dem provisorischen Hafenmuseum, wo ein Verein von Schiffs-Enthusiasten und bezahlte Fachleute sie für viele Millionen Euro fachkundig restaurieren. Wenn der Neubau des „Deutschen Hafenmuseums“ vielleicht irgendwann um das Jahr 2030 fertig ist, siedelt die Peking ans gegenüberliegende Elbufer um, gleich vor die Tore der schicken HafenCity. Dort wird sie dann als fester Bestandteil dieses Museums endgültig zur Immobilie werden.

Das Ganze wird sich etwas steril anfühlen, mehr wie ein luxussanierter Mix aus Loft und Lounge im Wasser, der allerdings immer noch seinen gewaltigen Laderaum hat. Hinunter führen schon heute neben Treppen auch gläserne Aufzüge, damit Besucher in Zukunft „barrierefrei“ ins Innere gelangen können.

Oh, es wird ein Schmuckkästchen werden! Ein stubenreines, digital kontrolliertes, gefahr- und geruchsloses „Erlebnis für die ganze Familie“. Ein neuer Touristenmagnet. Man konnte es schon ahnen, als wir neulich durch die verschiedenen Decks der Großbaustelle Peking bis hinunter zum Kielschwein geführt wurden, dem massiven, über die gesamte Länge verlaufenden Stahlträger, auf dem die gesamte Statik des Schiffes aufsetzt. Drei Meter unterhalb der Wasserlinie etwa.

Auf ihm gründen auch die beiden riesigen stählernen Süßwassertanks an Heck und Bug, deren 15.000 Liter Inhalt für die Besatzungen vor einem Jahrhundert den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuteten. Sandgestrahlt, rostschutzversiegelt und wahrscheinlich TÜV-abgenommen nun auch sie. Überzählige der mehr als 100.000 Original-Nieten des stählernen Schiffskörpers, die keine Funktion mehr hatten, hat man trotzdem wieder verbaut. Sie verleihen dem Museum so einen rustikalen Charme.

Ehrlich gesagt war ich froh, am Ende wieder oben an der frischen Luft zu stehen. Natürlich bekommt man für mehr als 30 Millionen Euro Steuer- und Spendengeld die beste Handwerkskunst und die edelsten Hölzer, die Schiffssanierer zu bieten haben. Aber das Ergebnis sieht halt aus wie eine Leiche, die man perfekt geschminkt und einbalsamiert hat, bevor sie im Mausoleum aller Welt zur Schau gestellt wird. Im Leben war sie nie so schön. Ich wüsste gern, was Käpt’n Lürs sagen würde, beträte er die leblose Hülle seines sturmgepeitschten maritimen Arbeitsplatzes hier und heute im Hamburger Nachmittagssonnenschein.

„Das Ergebnis sieht aus wie eine Leiche, die man perfekt geschminkt und einbalsamiert hat. Im Leben war sie nie so schön.“

Denn unter dem hohen Himmel mischte sich noch etwas anderes in den Wind als nur das Aroma von Brackwasser und Dieselschwaden der vorbeiziehenden Touristenbarkassen: der Geruch von Dekadenz und Niedergang. Nicht nur ist Hamburgs Hafenwirtschaft bedrohlich im Abschwung, seit das Containergeschäft vor allem mit China ins Stocken geriet und die Lieferketten auf allen Weltmeeren zu knirschen begannen. Das provisorische Hafenmuseum hat über die Jahrzehnte eine Überfülle an Gerät und Know-how eingelagert, das diesem Hafen einst Weltgeltung verlieh und heute längst obsolet ist: brauchen wir nicht mehr, die Arbeitsplätze und Kenntnisse und Fähigkeiten sind weg, das machen jetzt andere an anderen Orten auf der Welt.

Schon lange außer Dienst gestellt ist auch der auf Schienen fahrbare Stückgutkran mit dem etwa 60 Meter hohen Ausleger im Außengelände des Museums, von dem spitze Lust- und Angstschreie zu uns herüberwehen. An Deck der Peking stehend, sieht man plötzlich keinen Steinwurf entfernt zwischen Himmel und Wasser etwas heftig auf und ab baumeln: Ein Mensch hängt kopfüber an einem Gummiseil. Bungeespringen, dazu dient der ehrwürdige Lastkran jetzt am Ende noch. Eine Eskapade mit dem einen Zweck, sich mal wenige Sekunden lang zu spüren. Vor Hamburgs Skyline als Selfie-Kulisse. Manche springen auch paarweise und kreischen zweistimmig, bevor sie sich eng umklammert baumelnd küssen und ihnen dabei der Blutsturz die Köpfe tiefrot färbt. Wie gesagt: Wertschöpfung war gestern. Heute ist Fun, Fun, Fun! Aber ja, Mut erfordert selbstverständlich auch das.

Damit aber ist die viele Tagesfreizeit der Menschen von heute noch nicht ansatzweise ausgefüllt. Gut, ist ja auch Wochenende. Immer noch an Deck der Peking werde ich Zeuge, wie plötzlich eine Flottille von Barkassen und Booten auf uns zuläuft und kurz vor dem Kai bzw. dem Viermaster beidreht. An Bord aller Fahrzeuge ganz überwiegend Frauen. Die Aktivistinnen beginnen umgehend, Parolen in unsere Richtung zu rufen, die ich nicht verstehe. Sie haben auch Transparente dabei, deren Schriftzüge sich mir nicht gleich erschließen.

Immerhin wird klar, warum sich alle auf uns ausgerichtet haben: Es ist eine abgesprochene Aktion. Am Bug unseres Schiffes, der Peking, tritt ihnen jetzt nämlich eine weitere, offiziell aussehende Frau entgegen, die offenbar mit der Ankunft der Armada gerechnet hat und vermutlich zur Leitung der Hamburger Museumsbetriebe gehört. Sie hebt ihr mitgebrachtes Megafon zum Mund und übermittelt eine gutgelaunte, offensichtlich vorbereitete Grußadresse. Auch die verstehe ich wegen der Windrichtung akustisch nur bruchstückhaft.

„Wertschöpfung war gestern. Heute ist Fun, Fun, Fun! Aber ja, Mut erfordert selbstverständlich auch das.“

Erst später lese ich nach, was das war: die offenbar jährlich vollführte „Seefrauenparade“. Es geht um „Sichtbarkeit und gleiche Rechte für alle Frauen*Arbeiterinnen in Hafenindustrie und Seefahrt“. Zu diesem Zweck überschrieben, was ich von meinem Standort nicht sehen konnte, die Aktivistinnen oder gar die Museumsleitung die goldenen Lettern des Peking-Schriftzugs am Bug kurzzeitig mit dem neuen Namen Pudel. Hintergrund: Sophie Laiesz (1831-1912), die Ehefrau des Reeders Carl Laiesz, hatte diesen Spitznamen, ihrer grotesk aufgetürmten Frisur wegen. Sie zumindest war dank ihres Haarturms schon damals extrem sichtbar.

Alle anderen Frauen im Hafen müssen einfach deswegen sichtbar gemacht werden, weil man da seit Anbeginn der Zeiten tatsächlich kaum welche sieht, jedenfalls bei Schichtbeginn frühmorgens nicht. Wer um etwa 5.30 Uhr mit dem Bus oder der Fähre in jenen Teilen des Hamburger Hafens unterwegs ist, wo noch richtig handfest gearbeitet und umgeschlagen wird, ist mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Mann und in der großen Mehrzahl mit Migrationshintergrund ausgerüstet.

Vielleicht sitzen die Frauen auf dem Weg zur Hafenarbeit, sofern sie bereits mit Rechten ausgestattet sind, aber auch lieber selbst am Steuer und kommen mit dem Auto, das kann ja sein. Oder sie haben strategische Führungsaufgaben, die wahlweise digital vom Home-Office aus erledigt werden können. Eindeutig am Ruder sitzen sie in dem luftballongeschmückten Boot, das den buntesten Akzent der kleinen Frauenpower-Armada setzt. Eine der Seefrauen darin trägt passend zum Event eine signalbojenrote Clownsperücke.

In der Bilanz ist es wie heute fast immer: Viel Bohei, viel Selbstbestätigung, produziert wird nichts, Wertschöpfung null, volkswirtschaftlicher Wohlfahrtsgewinn dito. Aber die patriarchalisch durchseuchte Geschichtsschreibung wurde ein weiteres Mal heldinnenhaft korrigiert. Sie hätten kein passenderes Schiff als Zielobjekt dafür aussuchen können, und natürlich rennen sie bei der Museumsleitung offene Türen ein. Möglicherweise führt die Aktion der Aktivistinnen ja auch noch dazu, dass in die zukünftige Dauerausstellung an Bord der Peking ein zentraler Abschnitt „Feministische Seefahrtsgeschichte“ aufgenommen wird. Lehrbeispiele: Entdeckung der Nordwestpassage und Bau des Suezkanals.

Doch Stand heute ist der Kontrast zwischen den auf Sichtbarkeit bedachten Seefahrerinnen und dem Viermaster mit seinem unsichtbaren Salpeter-Laderaum ein harter und schlagender. Wäre Kapitän Jürs noch an Bord seines Flying P-Liners und wir schrieben noch das Jahr 1929, hätte er Megafon oder Funkgerät vielleicht für eine andere Mitteilung verwendet: „Peking an Clownsboot: Drehen Sie ab! Sie behindern meine Männer bei der Arbeit.“