Irgendwas ist ja immer, und heute ist durch göttlichen Ratschluss eben der „Tag der Nachbarn“. Wie schön! Nette Bekannte, Beisammensein, Party … Moment: Party? Nicht nach 22 Uhr! Ruhestörung, Polizei, Anzeige – irgendwas ist immer. Bei tieferem Bohren berührt das Thema „Nachbarn“ die bröckelnden Grundpfeiler dieser Gesellschaft.
Nachbarn: das Wort strahlt Wärme und vertraute Nähe aus, während gleichzeitig Abgründe darin schlummern. Denn gute Nachbarschaft ist zweifellos eine absolut lebensbereichernde Sache. Dass am heutigen Freitag in Stadt und Land mit tausend Festen der „Tag der Nachbarn“ gefeiert wird, soll das unterstreichen. Aber zumindest diejenigen von uns, die in den hochverdichteten und schlecht isolierten Rotklinker-Mietskasernen einer norddeutschen Millionenstadt hausen, dürften auch den Nachbarn aus der Hölle kennen. Sie wissen schon: den aus dem siebten Stock, der um drei Uhr nachts Death Metal auflegt – oder aber den, der da oben den ganzen Tag mit dem Fernglas am Fenster sitzt und Falschparker aufschreibt.
„Siebter Stock“ habe ich hier übrigens nur deswegen geschrieben, damit sich möglichst wenige aus dieser Stadt mit ganz überwiegend maximal fünfstöckiger Wohnbauweise persönlich angesprochen fühlen müssen. Denn eine äußerst unbequeme Wahrheit ist ja: Jeder von uns könnte – für einen anderen – dieser Nachbar aus der Hölle sein! Ob nun als zehnjährige Geigenschülerin, nervensägender Heimwerker, neuerdings legal kiffender Luftverpester oder durch andere Marotten. Wenn wir das in der Nachbarschaft ausdiskutieren wollten, ohne dass irgendwer irgendwem Blutrache schwört, müssten wir vorsichtig sein. Schließlich sind wir auch morgen noch Nachbarn – in einer Großstadt, die allzu schnell zur geistigen Kleinstadt wird.
Gehen wir an das Thema also lieber mit der notwendigen Vorsicht heran, wie man es auch bei einer Minensuche tun würde. Kreisen wir den Begriff „Nachbar“ zunächst rein sprachlich ein. Was ich mich zum Beispiel seit vielen Jahren frage: Ist jemand, der im Haus gegenüber wohnt, eigentlich noch ein Nachbar im engeren Sinn? Oder ist das nur jemand, mit dem ich Tür an Tür oder Decke an Fußboden, also unter einem Wohnblockdach lebe? Wie weit reicht Nachbarschaft geographisch? Ich als Autor wäre wirklich interessiert an einer klaren Eingrenzung des Nachbar-Begriffs. Vielleicht gibt es unter meinen Lesern ja Profi-Nachbarn mit Germanistikstudium, die so etwas aus dem Ärmel schütteln können.
Ebenfalls ein Rätsel für juristische Laien wie mich: Zu was verpflichtet mich Nachbarschaft? Sicherlich zu einem Mindestmaß an Toleranz, denn wenn ich das nicht aufbringe, sollte ich im eigenen Interesse besser in ein Eigenheim in der Wüste von Arizona umziehen. Andererseits verpflichtet sie mich aber auch zur Standhaftigkeit – nämlich gegen die Zumutungen des erwähnten Nachbarn aus der Hölle. Motto: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt und muss sich täglich mit Death Metal foltern lassen.
Moralisch verpflichtet bin ich auch zur Nachbarschaftshilfe – jedenfalls in Bereichen, in denen ich auch wirklich hilfreich bin. Denn was nützt es meinem Nachbarn, wenn ich mich zwar anbiete, bei Bedarf in seiner Geldwaschanlage einzuspringen, aber gar keine Ahnung von Geldwäsche habe? Das führt am Ende nur zu Fehlbuchungen, finanziellen Forderungen und, einmal mehr, Blutrache.
Verpflichtet mich Nachbarschaft außerdem zur aktiven Teilnahme am Nachbarschaftstratsch? Zur passiven bin ich eh gezwungen, da ich mich als Objekt dieses Tratsches ja nicht entziehen kann. Aber aktiv? Verstoße ich als Nachbar mit anderen Worten gegen die guten Sitten, wenn ich einem Tratschenden einfach entgegne: Entschuldigen Sie, aber das interessiert mich nicht, denn mein Motto lautet „leben und leben lassen“? Bin ich dann Spielverderber, ist Tratsch also eine Art nachbarschaftliches Gesellschaftsspiel? Oder vielleicht hat er sogar einen tieferen Sinn, so wie ein Nachrichtendienst, der die militärischen Geheimnisse und Rüstungspläne des Nachbarstaates enthüllt. Aber das wäre wohl nur dann der Fall, wenn der Tratsch den Plan von Mr. Death Metal zunichte machen könnte, sich noch stärkere Bassboxen zu kaufen.
„Vielleicht hat Nachbarschaftstratsch sogar einen tieferen Sinn, so wie ein Nachrichtendienst, der die militärischen Geheimnisse und Rüstungspläne des Nachbarstaates enthüllt.“
Sagen wir jedoch ganz neutral, dass Nachbarschaftstratsch dazu gut ist, auf den neuesten Stand zu kommen. Aktuelle Informationen aus dem eigenen Wohnumfeld sind ja wichtig – vor allem in Zeiten, in denen es kaum noch funktionierenden Lokaljournalismus gibt. Ich sollte besser Bescheid wissen, wo man wegen Baustelle ab null Uhr nicht mehr parken darf, wo eine größere Wohnung frei wird oder dass nebenan neulich schon wieder fünf Keller aufgebrochen worden sind. Die Frage ist bloß: Was müssen Nachbarn voneinander wissen? Dass der Fettsack aus dem Hochparterre wöchentlich die Junge Freiheit im Briefkasten hat? Oder dass die gepiercte Alte mit den fettigen Haaren den Grünen beigetreten ist? Gott im Himmel steh uns bei! Will denn niemand den Staatsschutz rufen?
Grenzen sind eine schöne Sache, zumal in einer Nachbarschaft. Es gibt Dinge, die sollten unter Nachbarn off limits bleiben. Sexuelle Orientierung. Religionszugehörigkeit. Politische Präferenzen (wenn einer nicht gerade als Kandidat antritt und also die Öffentlichkeit sucht). Diese Faktoren werden vor allem deswegen besser diskret beschwiegen, damit das Zusammenleben nicht unnötige Sollbruchstellen bekommt. Heute geben Neosozialisten ja wieder wie in der DDR die Parole aus, dass gerade das Private das Politische sei, um jeden Einzelnen möglichst umfassend überwachen und dirigieren zu können: Na, was ist das für ein Vogel? Was macht ihn verdächtig? Will der vielleicht den Staat delegitimieren? Muss der in Quarantäne, damit der Nachbarschaftsfrieden nicht gestört wird?
Das großteils anonyme Großstadtleben schützt noch am besten vor solch perfider Spitzelei. Dort, wo ein verstorbener Rentner erst nach sechs Wochen tot vor dem Fernseher gefunden wird, nachdem Nachbarn sich über den strengen Geruch beschwert und Polizisten die Wohnungstür aufgebrochen haben, dort gibt es noch Frei- und Zufluchtsräume (gerade auch vor der politischen Hysterie dieser Tage), die das Dorf nicht bietet. Auf dem Dorf weiß man über sie, was Sie beim Edeka eingekauft haben, noch bevor Sie zuhause vom Fahrrad steigen. Hat eben zwei Seiten, die Anonymität, mindestens, wie immer.
Ein Spiegel dieses sich dramatisch verändernden Landes ist es, wie sich gewachsene Nachbarschaften der sozial abgehängten Bezirke von Großstädten in drei zunehmend beschleunigten Etappen verwandelt haben: von ursprünglich – noch bis zur Jahrtausendwende – weit überwiegend deutscher Prägung über die Zwischenstufe des multikulturellen Patchworks mit einer substanziellen „Community“ deutscher Herkunft und Sprache zum vorerst finalen Erscheinungsbild mit Restdeutschen, die sich einen Wegzug nicht leisten konnten. Die anderen sind ausgestorben oder abgewandert – alles innerhalb einer Generation.
Die kuschelsanierten Altbauquartiere und gentrifizierten Szeneviertel der Besserverdienenden betrifft das nicht. Dort genießen die ursprungsdeutschen Profiteure der von ihnen angefeuerten Masseneinwanderung allenfalls eine regenbogenfröhliche „Diversity“ assimilierter Globalisten aus aller Welt. Das können sie im sicheren Schutz eines Miet- und Kaufpreisniveaus, das weniger elitären Zustrom zuverlässig fernhält. Man parliert selbstverständlich auf Deutsch oder Englisch miteinander und erfreut sich nicht nur der hohen Dichte internationaler Spezialitätenlokale, sondern auch der eigenen Toleranz und Offenheit.
Die Realität final transformierter Stadtteile unterhalb dieser Schutzschwelle sieht anders aus. Innerhalb weniger Jahre hat sich dort in maroder Infrastruktur automatisch eine neue Ordnung nachbarschaftlicher Wohn- und Sprachgemeinschaften in „Cluster“ eingestellt: Türken zieht es magnetisch zu Türken, Libanesen zu Libanesen und Nigerianer zu Nigerianern.
Das Leben als deutscher Dinosaurier in diesen neu sortierten Verhältnissen hat niemand frühzeitiger, geistvoller und komischer beschrieben als der leider viel zu früh verstorbene Philosoph und Alltagschronist Reinhard Haneld alias Bruno Kraska. Als Reporter seines „Geddos“, wie er es nannte, war er im final transformieren Duisburg-Hochfeld allerdings auch gut gerüstet: Haneld sprach passabel Türkisch, konnte mit ex-jugoslawischen Nachbarn saufen wie ein Loch – und hatte neben viel Empathie für seine Mitmenschen auch den schwarzen Gürtel im Judo. Doch nach ein paar Jahren dieser aufreibenden Existenz ließ die Kondition des älteren Semesters Haneld nach, und er flüchtete für den kurzen Rest seines Lebens in einen „bürgerlichen“ Stadtteil.
Die ethnische Angleichung der neuen Brennpunkt-Nachbarschaften, von Soziologen auch Segregation genannt, wird durch die behördliche Zuweisung von Wohnraum oder Heimplätzen im Rahmen von Asylverfahren nur wenig beeinflusst. Die Chinatowns und Portugiesenviertel vergangener Tage waren kein Zufall, der Mensch ist so programmiert: Als Neuankömmling in der Fremde zieht er am liebsten dort ein, wo seinesgleichen bereits einen Brückenkopf gebildet hat. Für Deutsche im Ausland gilt derselbe Herdentrieb. Es bringt nämlich zahlreiche Vorteile, wenn das Nebeneinanderleben nicht jeden Tag neu ausgehandelt werden muss und man angestammte Gewohnheiten nicht abzulegen braucht. Aber das wissen Sie natürlich selbst. Entweder, weil Sie besser verdienen. Oder weil Sie es nicht tun.
Sie haben übrigens vielleicht bemerkt, dass ich Sie in diesem Text über Nachbarschaft (und auch sonst in diesem Magazin) durchgängig sieze. Ja, aber ist das nicht völlig unangemessen? Heute, wo sich jeder Hinz mit jedem Kunz duzt? Wo uns nicht nur die Werbung, sondern sogar der Staat per Du ankumpelt, während er uns hinter unserem Rücken den letzten Geldschein aus der Gesäßtasche zieht? Ist das Du nicht geradezu Pflicht, wo wir doch in unserem rotklinkersozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies der norddeutschen Millionenstadt als Genossen alle gleich sind? Und wo wir doch, zum Teufel noch mal, vor allem und in erster Linie jeder für irgendwen Nachbar sind?
Sorry, aber nein. Ich als leicht aus der Zeit gefallener Autor finde das „Sie“ angemessen. Jedenfalls dann, wenn ich wie hier das Privileg habe, meinen Lesern und Blog-Nachbarn (von nah und fern) einen Text vorsetzen zu dürfen. Denn die meisten davon kenne ich ja nicht persönlich; umgekehrt dürfte es ihnen mit mir genauso gehen. Also schreibe ich hier für einen mit mir nicht vertrauten Kreis. Und für die Anrede unbekannter Menschen hat die deutsche Sprache ursprünglich das „Sie“ erfunden.
Das Charmante daran ist: Falls man anlässlich etwa dieses Textes überrascht feststellt, in derselben Nachbarschaft zu leben, und sich darüber sogar allmählich näherkommt, dann zündet die deutsche Sprache die zweite Raketenstufe: den Übergang zum vertrauten „Du“. Dieser Ritterschlag, dieses exklusive Zertifikat, das sogar die Möglichkeit von Freundschaft eröffnet – das alles wäre nicht möglich, wenn ich jeden und selbst Mr. Death Metal duzen müsste.
Wobei die Volksweisheit ja besagt, dass nicht nur unter Nachbarn „Du Arschloch“ viel leichter über die Lippen kommt als „Sie Arschloch“. Aber bei Licht betrachtet scheint mir auch das ein sehr guter Grund, vernünftigerweise zunächst mal und grundsätzlich zu siezen. Das „Sie“ zeugt nicht nur von Beherrschung und Respekt, sondern lässt auch diesen eben schon gefeierten persönlichen Schutzraum der Distanz. Und den sollte man sich, wie gesagt, gegenseitig gerade in der Enge einer Großstadtnachbarschaft einräumen. Von diesem Ausgangspunkt aus kann man dann ja weitersehen.
In den Dampfkochtöpfen, die unsere jederzeit explosionsbedrohten Citywohnquartiere sind, dürfte aber die häufigste Kommunikationsform unter Nachbarn zur beiderseitigen Erleichterung ganz ohne Worte auskommen: Ein gepflegtes Bollern mit der Faust gegen Trennwände informiert präziser als ungelenke Worte darüber, wo akustische Schmerzgrenzen überschritten sind. Dann wird es drüben entweder augenblicklich leiser oder doppelt so laut. Diese Botschaften kommen in jedem Fall an. Erst recht unter den Erschwernissen fehlener kultureller und sprachlicher Gemeinsamkeiten.
Von daher wäre es letztlich eitler Unfug, irgendwelche sprachpolizeilichen Regeln für Nachbarschaftsdialoge durchsetzen zu wollen. Gute Nachbarschaft ist überhaupt etwas, das mit möglichst wenig Vorschriften und Verboten auskommt. Wo Rücksicht, Toleranz und gesunder Menschenverstand walten, braucht man so etwas ja auch gar nicht. Also in jenem phantastischen Paralleluniversum namens Wünschdirwas.
Am Ende dieser nur streckenweise heiteren Meditation über ein vermintes Wort bleibt mir noch das sprachliche Vergnügen, es um einen Buchstaben zu erweitern. Dass das Wort dann trotz veränderten Sinngehalts immer noch fast genauso klingt wie „Nachbar“, ist vermutlich ein geheimnisvoller Wink des Schicksals, über den man schon wieder meditieren könnte. Ich kaufe also ein T und schlage zur Festigung neu geknüpfter nachbarschaftlicher Bande den Besuch der nächstgelegenen Nachtbar vor, also sozusagen der Nachbar-Nachtbar. Auf gute Nachtbarschaft!
Der Herr Franz über (oder unter) mir (ich habe keine Ahnung, in welcher Reihenfolge hier Kommentare erscheinen), hat wohl schon ins Wikitionary unter de.wiktionary.org/wiki/Nachbar geschaut. Dort steht:
„Herkunft:
über mittelhochdeutsch nāchgebūr(e) aus althochdeutsch nāhgibūr, dieses aus westgerm. naehwa-gabūr(ōn) „Nachbar“, bestehend aus naehwa „nahe“ und ga-būra- „Mitbewohner der Dorfgemeinschaft“. Das Wort ist seit dem 8. Jahrhundert belegt, in der heutigen Form seit dem 14. Jahrhundert.[1]“
„Nāchgebūr(e)“ klingt ein wenig wie Nachgeburt, also eher unappetitlich…wie die Nachbarn unter mir, passt also.
Neulich wurden bei mir im Wohnhaus im Erdgeschoß Briefkästen für die Bewohner angebracht, vorher musste die Postzustellfachkraft, meistens sind es hier Frauen, immer alle Stockwerke abklappern und die Post in die Türschlitze werfen. Nun habe ich auch noch einen Briefkastennachbarn, der gar nicht mein unmittelbarer Nachbar aus einer Wohnung nebenan oder unter mir ist. Sachen gibt es im Mietshaus!
Da, wie wir Germanisten wissen, der Nachbar (nahgibur) der nächste Bauer ist, haben wir Stadtbewohner in der Regel gar keinen. So wurde ich bis jetzt lediglich durch Anwohner belästigt. Dummmerweise ziehe ich bald aufs Land, so dass ich künftig Nachbarschaftsproblemen gefasst ins Auge blicken muss.