Eine von zahllosen Abbruchkanten der deutschen Wirtschaft: Karstadt in Hamburg-Wandsbek, gegründet 1892, macht dicht. Nach monatelanger Agonie zerfließen die letzten Tage des Geschäftsbetriebs wie in Trance. Eine surreale Resterampe, auf der die allerletzten Angebote stumm vom Ausverkauf eines Landes erzählen.

Noch vier Tage, brüllt das Plakat. Alle Kinder deshalb jetzt 40 Euro! Torsi ohne Extremitäten, einzelne Unterschenkel, Hände sogar noch deutlich billiger! Kenner von Insolvenzen wissen: Wenn sie schon die Schaufensterpuppen verramschen, euphemistisch als „Models“ angepriesen, dann ist Endzeit. Dann steht die Schließung unmittelbar bevor. Und aus die Maus im Warenhaus. Und Ende Gelände für das Verkaufspersonal aus Fleisch und Blut.

Nicht nur Justitia ist angeblich blind, auch dieser Kunstkopf blendet das Unübersehbare aus. Wenn er doch schreien könnte, der demnächst arbeitslose Homunculus. Wenn er unter seiner stickigen Sturmhaube Luft bekäme, um seine Ausbeuter anzuklagen, die Roten Garden zur Hilfe zu rufen. Doch die stylisch vermummten, antifaschistischen Schutztruppen des Proletariats wären ohnehin desinteressiert. Es gibt hier keine Lorbeeren für sie zu ernten, sie kämpfen lieber ruhmreich – und mit Belohnungsgarantie – gegen rechts.

Unvermeidlich, dass in der Sportwarenabteilung am Ende die nackte Ästhetik siegt. Jetzt, wo alle Markenware verhökert ist und nicht mehr das Bild verstellt, dürfen Kunststoff-Brustmuskeln und kantiges Plastik-Kinn einen Rest Resilienz verkörpern, wenn auch deplatziert männlich. Im Wirrwarr des Abverkaufs stört es ebensowenig, dass die „Sneaker Frauen“ mit 70 Prozent Rabatt vom ausgezeichneten Preis aus „Glas/Porzellan“ gewesen sein sollen. Aber trug nicht auch Perraults Aschenputtel gläsernes Schuhwerk zum Ball des Sports?

Ach ja, das wäre schön, noch ein Stück begleitet zu werden auf dem Weg ins Abendrot des Wirtschaftswunderlandes. Ein letztes Mal ungefragt geduzt von starken Marken, auch das lindert gewiss den Schmerz. Doch in dichten Wellen rollt schon die Front der Verkaufsmöbel an, sie brechen über den Standort herein, käuflich zum Knüllerpreis jetzt sogar sie. Verkaufsregale verkaufen, das ist Markt in höchster Potenz. Und das ist es wohl, was sie mit liminalen Räumen meinen: endlos identische Deckenkacheln, uferloses Linoleum, exponierte Innereien von Investorenarchitektur, im Normalbetrieb nicht zur Bewusstwerdung bestimmt.

Ein weiteres Haus macht dicht. Zeit für surreale Szenen, für Albtraum-Offenbarungen im noch laufenden Schlussverkauf. Zeit für Wahrheit. Jetzt, wo es endlich nicht mehr drauf ankommt. Wo letzte Masken fallen, weder der Schein noch die Form mehr gewahrt werden muss. Wo es keinen Unterschied macht, ob Ramsch neben Müll platziert ist, sich Saisonware auf unverkäuflichen Resten stapelt, Retoure sich mit Verpackungsmüll mischt. Jetzt machen wir uns ehrlich. Jetzt ist Kapitalismus pur: gleich wertlos alles Ausverkaufte, null, soweit das Auge reicht. Ein leeres Tütchen for me & you.

All die Verfetteten, die aus chronischem Kummer längst nur noch zur Schokolade zu greifen wussten, sind hier hastig entlanggewatschelt im Endkampf ums Einsammeln finaler Süßwaren-Schnapper. Doch irgendwann gab es nichts mehr. Noch liegen zerrissene bunte Staniolfetzen umher, die niemand mehr wegräumte, leere Kartonagen als Souvenirs aus dem Schlaraffenland. Darin liegt mehr Trostlosigkeit, als alle Täfelchen der Welt hätten versüßen können. Was jetzt fressen? Was schlucken? Was leermachen, aufreißen, einwerfen, um weiterhin diesen dumpf pochenden Schmerz in Schach zu halten?

Eiserne Marktwirtschafts-Regel: Die falsche Saisonware bleibt bis zum Schluss. Selbst, wenn sonst alles gefressen, gehamstert, zusammengerafft und fortgezerrt wurde, selbst wenn das grellbunte Kristallglas mit 70 Prozent diskontiert wird: Es will und will einfach nicht Weihnachten werden im Herzen, im Juni. Drollig rote Knollennase hin, quietschgrünes Geweih her: Knecht Ruprecht und seine Rentiere bleiben unverkäuflich bis zum bitteren Ende – fast schon wieder ein Ehrenpreis, wenn es nicht gar so traurig wäre.

Und auch er hat seinen Moment verpasst. Das Preisschild, das man selbst ihm noch anheftete, war wohl lediglich halbernst gemeint. Denn niemand, nicht mal der zynischste unter den Abverkäufern beim „großen Sortiments-Abverkauf“, würde hier noch mit Nachfrage rechnen. Es bringt einfach niemand jetzt in der Freibadsaison den Gedanken zustande: Bald, schon in wenigen Monaten, werde ich einen Weihnachtsbaum brauchen, am besten aus Plastik und abwaschbar! So hirnamputiert gierig kann niemand sein. Und das wiederum tröstet ein wenig. Nein, eigentlich doch nicht.

Für alle, denen nackte Regale nichts sagen, haben sie es in deutliche Worte gefasst: alles zu Ende, was voll war, ist leer. Empty! Das ist die einzige Sprache, welche die Horde versteht, die hier ihre Spur der Verwüstung zog. So viel Englisch müssten sie alle doch können, war das Kalkül der Geschäftsführung. Denn schließlich wussten sie ja auch mit dem Wort „Bestseller“ etwas anzufangen: Sachen, die ich haben muss! HABEN MUSS! Vermutlich kratzten sie sich die Nägel blutig an den Auslagen ohne Auslegeware, im Wahn, das Verheißene doch noch zu fassen zu kriegen. Das aber konnte das Management schließlich nicht mehr mit ansehen – und fand diese Lösung.

Also jetzt: Letzte Gesten, abschließende Worte, finale Dekorationen in leeren Vitrinen. Hingestreute Kunstblütenblätter in den Farben der Abbruchssaison. Was auf diesen Fake-Blütenteppich wohl einmal gebettet war? Das Erstaunliche offenbart sich erst jetzt: Was hier übrigblieb, ist für sich genommen viel schöner! Es liegt eine Poesie der Vergänglichkeit in diesem Arrangement, die das Ganze so unverdient adelt. Aber vielleicht ist es ja ein gläserner Sarg, und die tote Kultur des Konsums wird in wenigen Tagen genau hier zur letzten Ruhe gelegt.

Brauchen Sie vorher vielleicht noch eine Buchattrappe für ihr Bücherattrappenregal im heimischen Wohnzimmer? Nur heute nur 50 Cent pro Attrappe! In wechselnden Farben! Gern auch zum Selbstbeschriften, wenn Sie schon immer mal Bestsellerautor sein wollten. Die Frage ist, unter uns, nur: Warum dieser Umstand? An echten Büchern ohne Verwendungszweck herrscht doch kein Mangel! Und die würden auch billiger weggehen, 30 Cent, 20, ja zehn für Produkte aus heimischer Literaturproduktion. Eine hohle Attrappe hingegen – vielleicht als Versteck für die Waffe, die einmal dem Suizid dienen soll. Ja, das ergibt Sinn. Ist vorausschauend. Und nicht überteuert.

Sehen wir’s ein: Echte Bücher muss erst jemand schreiben. Und wo niemand mehr liest, greift schon gar niemand mehr zur Tinte. Weshalb – logisch! – auf der rotglühenden Resterampe nicht nur Kristallkitsch den Absprung nicht schafft, sondern auch Schreibwaren liegen wie Blei. Da helfen dann nicht mal die 70 Prozent mehr, die sonst immer den Trick tun: ob 4,49, ob 2,39 oder gar nur noch 1,49 – ein Füllhalter ist und bleibt Kassengift, mag er noch so gefällig sein im Design. Was den nur mühsam Alphabetisierten an Schule erinnert, ihm Handschrift und Denkarbeit abverlangt, das taugt nicht mal als Bückware. Ja, wenn es Drückware wäre, mit Tasten und Display und Autokorrektur, könnte man damit vielleicht WhatsApps verfassen. Aber so?

So posiert hier noch ein letztes Mal die versammelte Truppe. Schön war die Zeit! Lieb gegrüßt soll von diesem verlorenen Posten aus auch der Herr Benko sein, der mit so viel Engagement seine nächsten Investments vorantreibt. Draußen, an der Fassade, hängt – noch aus dem letzten Jahrtausend – eine knallrote Plakette: „Karstadt – Wandsbeks ältestes Warenhaus“. Darauf das Gründungsjahr: 1892. Und der Hinweis: „1997 beschäftigte Karstadt-Wandsbek 750 Mitarbeiter, Karstadt hatte in Deutschland 217 Filialen, davon in Hamburg 17.“

Die muss bald jemand abschrauben. Am besten der, der auch das Licht ausmacht.


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