Das durch Medien, Politik, PR und Marketing schwirrende Wort “Narrativ” lässt sich nicht anschauen, ohne zunächst sein hübsches, argloses Geschwisterchen gepriesen zu haben: “Storytelling” ist eine feine Sache. Eine große Kunst auch. Und vor allem eine eminente Notwendigkeit. Besonders, wenn Sie etwas verkaufen möchten, müssen Sie eine Geschichte erzählen. Eine gute Geschichte. Eine glaubwürdige, spannende, lustige, traurige, poetische, tragische, explosive – bestenfalls unvergessliche Geschichte.

Denn das ist, was Menschen zu allen Zeiten getan haben: sich Geschichten erzählen. Die Fähigkeit und die Lust dazu definieren unser Menschsein, unsere Existenz als soziales Wesen, das seinesgleichen sucht, um mit anderen in einen Austausch einzutreten. Nur wer Geschichten erzählt, kann auf Dauer Mitglied der menschlichen Gemeinschaft sein, Vertrauen genießen, andere überzeugen.

Sich auszutauschen aber bedeutet in der Marktwirtschaft sehr häufig, Geschäfte zu machen. Sie als Kunde geben mir etwas, das ich brauche: Geld. Dafür gebe ich Ihnen etwas, das Sie brauchen: Waschmittel. Um Ihnen den Tausch leichter zu machen, muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Sie kann von der drei Kilometer langen Wäscheleine handeln, die voller strahlend weißer Bettlaken hängt. Oder vom Stolz darauf, dass der korallenrote Pulli auch nach 20 Waschgängen immer noch korallenrot ist. Oder vom schlechten Gewissen, dass er trotz des (falschen) Weichspülers kratzt.

Sie wollten sich das alles gar nicht merken. Haben Sie aber. Dauerhaft eingespeichert. Das ist die Kraft des Storytelling.

Wenn Sie älter als ungefähr 35 sind, haben Sie jetzt all diese Geschichten aus der Steinzeit der TV-Waschmittelreklame noch vor Augen. Sie wollten sich das gar nicht merken. Haben Sie aber. Dauerhaft eingespeichert. Weil es emotional authentische, beweisbare, vielleicht lustige, aber auch glaubwürdige Geschichten waren. Und das zugehörige Waschmittel haben Sie dann auch schon mal gekauft. Oder Sie wissen wenigstens noch den Namen. Das ist die Kraft des Storytelling.

Jetzt aber kommt der böse Stiefbruder des Storytelling. Und das ist das Narrativ. Wie bitte? Ein Narrativ ist doch was Gutes! Glaubten wir zumindest so gelernt zu haben, seit dieses Buzzword in der Welt ist. Eine Geschichte erzählen, eine Sprachregelung finden, um einen komplexen oder abstrakten, unangenehmen oder politisch sensiblen Tatbestand rund um das eigene Geschäft zu verkaufen – was soll daran falsch sein?

„Wir brauchen dazu noch ein Narrativ!“, ruft der CFO, der den Shareholdern erklären muss, warum sein Unternehmen jetzt massiv eigene Aktien zurückkauft. Und der dabei das Eingeständnis vermeiden möchte, dass der Börsengang vor fünf Jahren leider ein Flop war. „Wir brauchen ein Narrativ!“, ruft die (vollkommen fiktive) Finanzministerin, die ihre geplante Steuererhöhung in möglichst viel Watte verpacken möchte. „Hier noch Narrativ einbauen!“, fordert die Verbandspräsidentin mit knappem Kugelschreiber-Kommentar auf dem Manuskript ihres Redenschreibers. Denn die Mitgliederzahl des Bundesverbandes der Senfgurkenindustrie ist auch dieses Jahr wieder gesunken.

Wenn Sie jetzt mal verglichen haben, dann war der Kontext, in dem ein Narrativ verlangt wurde, jedes Mal ein wenig anders gelagert als beim Storytelling mit sauberen Bettlaken und kuschelweichen Pullovern. Er war nämlich problematisch grundiert. Und das ist das kein Zufall. Sondern eben das Problem.

Das „Narrativ“ stammt vom lateinischen „narrare“, erzählen. Zu Beginn seiner Begriffsgeschichte, wahrscheinlich in den mehr und mehr verschwurbelten Sozialwissenschaften, stand das gebildet klingende Wort für “die erzählende Interpretation eines Sachverhalts”. Mit dieser möglichst weit verbreiteten, möglichst gut verankerten Darstellung wurde die Deutungshoheit errungen oder verteidigt. In die Welt des Marketings und der Public Relations übernommen, mag mit dem Narrativ zu Beginn schlicht gutes Storytelling gemeint gewesen sein. Doch innerhalb weniger Jahre ist der Begriff gekippt. Vielleicht unter dem Ansturm unerfreulicher Fakten oder Umstände, aber gekippt. Wie saure Milch.

Der Kontext für ein Narrativ ist heute stets problematisch grundiert. Und genau das ist das Problem.

Achten Sie darauf: In der Mehrzahl der Fälle, in denen heute ein „Narrativ“ vorkommt, dient es – ob angeblich oder tatsächlich – zur Verschleierung und Irreführung. Mit anderen Worten: Es ist nicht glaubwürdig. Aus dem Narrativ ist etwas Ungutes geworden. Bestenfalls eine Ansammlung von nervös zusammengeklöppelten Halbwahrheiten. Schlimmstenfalls ein krasser sprachlicher Täuschungsversuch, mit Vorsatz und krimineller Energie. „Die Welt“ warnte bereits 2016, Narrative könnten „einen Verblendungszusammenhang schaffen, der den Blick auf die Realität trübt“. Was manchem, der ein Wässerchen trüben möchte, entgegenkommt.

Indes: Kunden, Stakeholder und Mitarbeiter haben ganz feine Antennen für solche Manöver. Sie lassen sich einmal täuschen, vielleicht ein zweites Mal. Das dritte, vierte und dreitausendsechshundertzwölfte „Narrativ“ aber haben unaufhaltsam dafür gesorgt, dass das englische „urban dictionary“ der jungen Alltagssprache den Begriff heute so definiert: „eine Alternative zur Wahrheit, wenn die Wahrheit nicht zur eigenen politischen Orientierung passt.“ Ein solches Vehikel steht auch den Erzählungen von Unternehmen nicht gut zu Gesicht.

Es ließe sich mittlerweile die Faustregel aufstellen: Je notwendiger das Narrativ, desto zwielichtiger seine Hintergründe. Damit wollen Sie nicht assoziiert werden. Deshalb ist der einzige Rat an dieser Stelle: Verzichten Sie aufs Narrativ. Bleiben Sie beim guten, alten Storytelling. Bleiben Sie dabei (wenn es denn beweisbar ist), dass ein einziges Paket Ihres Waschmittels eine drei Kilometer lange Leine voller Bettlaken strahlend weiß wäscht.

Oder, die ganz kurze Formel: Bleiben Sie einfach bei der Wahrheit.


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