Wie Millionen Menschen fasziniert mich die „Titanic“, in meinem Fall auch mit dem Blick eines Romanautors. Wie Millionen andere verfolge ich daher mit Hoffen und Bangen die verzweifelte Suchaktion nach den fünf Tauchboot-Insassen, die auf dem Weg zu ihr waren. Währenddessen drängen unbequeme Fragen an die Oberfläche.

Vermutlich musste es eines Tages so kommen: „Meine“ Titanic, seit April 1912 das maritime Massengrab für mehr als 1.500 Menschen, hat wieder ihren Lockruf ausgestoßen: Komm herunter! Besuch mich! Lass dich von meiner morbiden, gebrochenen Schönheit erregen! So schrillt seit nunmehr 111 Jahren die Schiffs-Sirene, dröhnt das Nebelhorn. Und diesmal könnten – was die Rettungscrews noch irgendwie verhindern mögen! – fünf weitere Seelen ins Totenreich unter dem Meer abgetaucht sein, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Noch ist Hoffnung, noch sollte man hilflos-positive Gedanken in die finstere Ferne schicken. Aber jenseits der „thoughts and prayers“ beginnen sich Fragen aufzutürmen.

Seit das stählerne Wrack 1985 in rund 3.800 Metern Tiefe im Nordatlantik geortet wurde, ist es zu einem Magneten geworden. Nicht nur für Forscher im Dienst verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, sondern auch für Abenteurer und Profiteure. Cowboys wie Filmregisseur James Cameron tauchten sogar viele Male, um mit ferngesteuerten Drohnen in den Gängen und Kabinen Filmaufnahmen zu machen. Cameron hatte wenigstens ein Alibi: Er musste ja seinen Blockbuster drehen, und der Welterfolg des realistisch inszenierten Untergangsspektakels über ein unsinkbares Schiff gibt ihm Recht. Andere Besucher vor dem Jahr 2000 waren einfach nur hinter dem legendären Safe und anderen Schätzen und Devotionalien her. Schofel, aber verständlich.

Doch das 21. Jahrhundert brachte den neuen Feudalherrenclub der Superreichen mit zu viel Tagesfreizeit hervor. Menschen, die sich alles kaufen können und das nicht mal in der Portokasse merken. Oder, wie es die Angelsachsen so schön formulieren: die den Preis von allem kennen, aber den Wert von nichts. Menschen, die sich ohne „challenge“ unsterblich langweilen, andererseits aber auch gerade Unsterblichkeit suchen. Deswegen waren es ja Leute aus ihrem globalen Club, die den „Transhumanismus“ losgetreten haben: Investitionen in Zukunftstechnologien, um den sterblich-unvollkommenen Körper zu verlassen und ihr überlebensgroßes Ego auf eine Silikonfestplatte auszulagern. Freischwebend in ewiger Jugend und digitaler Vollkommenheit.

Solange das aber noch nicht störungsfrei funktioniert, muss der Unsterblichkeitsstatus auf konventionelle Weise erlangt werden: durch Heldentum. Auftritt Hamish Harding. Der Milliardär mit britischem Pass – für Menschen wie ihn gelten Landesgrenzen jedoch höchstens in einem steuersparenden Sinne – ist Chef der Privatjetfirma Action Aviation, ein Name wie ein Programm. Harding hält drei „Guinness Weltrekorde“, unter anderem für die längste Tauchzeit in der Tiefsee, als er im März 2021 zum tiefsten Punkt des Weltmeeres im Marianengraben (mehr als 11.000 Meter tief) vordrang. Doch der Kick wirkte nur kurz für den Mann, der außerdem auch bereits mehrfach den Südpol besucht hat: Im Juni 2022 flog er mit Blue Origins, dem Space-Unternehmen des gleichgesinnten Multifantastillionärs und Amazon-Moguls Jeff Bezos, ins „Weltall“ – oder wenigstens kurzzeitig bis knapp über die Schwelle desselben. Jemand sollte kurz nachschlagen, ob er auch bereits auf dem langweiligen Mount Everest war.

Was einem Sterblichen wie mir zugegebenermaßen bewundernden Neid abverlangt, denn „Eier“ hat der Mann unzweifelhaft, könnte ihm jetzt zum Verhängnis geworden sein. Harding ist ebenso an Bord des in der Tiefe verschollenen Titanic-Tauchboots mit dem sinnigen Namen Titan wie vier andere, aus ähnlichem Holz geschnitzte und auf ähnliche Rosen gebettete „Explorer“ (er ist sogar Gründungsmitglied eines exklusiven „Explorer Clubs“). Die 250.000 Dollar Fahrpreis zur Titanic auf der Titan dürfte er nicht einmal als Transaktion auf irgendeinem Bildschirm wahrgenommen haben. Den Thrill der Fahrt in die Tiefe hingegen im Zwerchfell. Weit über das Maß hinaus, das der Reisepreis abgelten sollte.

Warum eigentlich will jemand zur Titanic? Was genau ist es, das dort lockt? Natürlich, zum einen die „Legende“. Das Schiffswrack von 1912, selbst ein Mahnmal menschlicher Hybris, ist intensiver in die Folklore der Welt eingegangen als fast jedes andere der weltweit schätzungsweise fünf Millionen gesunkenen Schiffe auf den Meeresböden. Es ist aber auch ein Ort der Totenruhe. Und dazu passt nicht, dass sich dort seit 2021 beinahe eine Art Massentourismus entwickelt hat. Die Firma OceanGate hat sich darauf spezialisiert, Schwerreiche selbst ohne jegliche Taucherfahrung als Passagiere zum Wrack-Event zu bringen.

OceanGate hat nach Medienberichten in den wenigen Jahren seiner Existenz mehrere Dutzend Menschen zur Titanic hinabgelassen – zwei weitere „Missionen“ für 2024 waren bereits terminiert. Gut möglich jedoch, dass dem Unternehmen, dessen CEO Stockton Rush derzeit selbst an Bord des U-Boots Titan sein soll, die aktuelle Tauchfahrt das Genick bricht – abzulesen sicher auch daran, wie lange das oben eingebettete Marketingvideo der Firma noch online ist.

Vielleicht sollte man eine Firma nie auf einen Namen eintragen, der auf „-gate“ endet. OceanGate droht nun ähnlich schwer belastet in die Geschichte einzugehen wie ein Washingtoner Hotel namens Watergate, wenn auch aus völlig anderen Günden. Wer davon ausgeht, dass ein „Plaything“ für Superreiche wie das Tauchboot von OceanGate auch über ein wasserdichtes Geschäftsmodell – sorry für das Wortspiel – sowie die beste Technologie verfügt, die Geld nur kaufen kann, dem stehen vielleicht im Zuge der nun unvermeidlich folgenden Ermittlungen ein paar Desillusionierungen bevor.

Da wäre etwa zu hinterfragen, wie OceanGate zu der Genehmigung kam, Menschen für eine Viertelmillion Dollar auf den maritimen Totenacker zu befördern. Der Kniff scheint gewesen zu sein, dort bei jedem Tauchgang natürlich auch „Forschung“ zu betreiben. Ja, die Mehrzahl der Reisenden waren offiziell Wissenschaftler, vielleicht allerdings in einem etwas weiter gefassten Sinne. Denn andererseits nennt OceanGates auch seine Wohlstandstouristen automatisch „citizen scientists“, also sinngemäß Amateurforscher. Klar, die machen da unten ja Aufnahmen mit Unterwasserkameras, also bitte! Das Unternehmen brüstete sich außerdem damit, bei jedem Tauchgang Wasserproben mit „Umwelt-DNA“ zu entnehmen. Aus diesen Proben habe ein Genlabor bereits spektakuläre Rückschlüsse ziehen können – auf „die Anwesenheit von Arten im Umfeld des Wracks“.

Ist schon diese (pseudo-)wissenschaftliche Umrankung eines Tauchkitzels für Berufsmilliardäre und Adrenalin-Junkies einigermaßen fadenscheinig, so werden die Bedenken durch die eingesetzte Hardware und das Sicherheitskonzept nicht geringer. Natürlich darf niemand von einem Tiefseetauchgang absolute Narrensicherheit erwarten. Doch nur Stunden nach der Vermisstenmeldung vom Meeresgrund am Sonntag wurden im Netz handfeste, wenn auch von hier aus nicht überprüfbare Zweifel an der grundsätzlichen Tiefsee-Eignung angemeldet. So zeigt uns OceanGate-CEO Rush in einem Video des kanadischen Senders CBC die Innenausstattung der Titan. Gesteuert wird sie mit einem handelsüblichen Joystick für Videospielkonsolen: „Der wurde für 16-Jährige hergestellt, die ihn durch die Gegend schmeißen. Wir haben ein paar davon an Bord, nur für den Fall.“

Die Hülle des Tauchboots, die einem Wasserdruck von mehr als 340 Atmosphären standhalten muss, besteht nach Angaben des Unternehmens aus Karbonfasern und dem namensgebenden Material Titan, einem zugfesten aber dehnbaren Leichtmetall, wie es in der Fliegerei verwendet wird. Doch auf Twitter fand sich bereits am Dienstag der Ausschnitt eines Berichts des Magazins Geek Wire von Januar 2020: Die „Deep Ocean Test Facility“ in Annapolis, Maryland, habe bei der Überprüfung des Tauchboots festgestellt, dass die Hülle „zyklische Ermüdungserscheinungen“ aufweise. Die Tauchsicherheit sei daraufhin auf 3.000 Meter begrenzt worden. Titanic liegt wie gesagt in 3.800 Metern Tiefe.

Und dann ist da noch der fast halbstündige Erfahrungsbericht eines Selbstdarstellers, der sich bescheiden „Alan für die Welt“ nennt. Er sei im Sommer 2022 Teilnehmer des Titanic-Tauchgangs von OceanGate und „erster Mexikaner am Wrack“ gewesen, sagt Alan in dem Video aus dem vergangenen Jahr, bevor er die Zuschauer in rasantem Spanisch an seinem teilweise „frustrierenden“ Erlebnis teilhaben lässt.

Dass die Insassen sich selbst im aufgetauchten Zustand nicht ohne Hilfe von außen aus der mit Bolzen verriegelten Luke befreien können, lässt damals kurzzeitig seinen Puls steigen. Doch dann setzt während des gut zweistündigen Tauchgangs zum Meeresgrund gleich wieder die verdammte Langeweile ein, weil es „nicht viel zu tun gab“. Alan überbrückt sie, indem er auf dem Laptop Camerons Katastrophen-Schmachtfetzen anschaut.

Für Abwechslung sorgt jedoch bald, dass der Kapitän des Tauchboots in 1.000 Metern Tiefe ein Kommunikations-Blackout mit dem Versorgungsschiff an der Oberfläche feststellt. Der Datenmonitor zeigt nur einen nackten Bildschirmhintergrund. Als der Kontakt nach einer Stunde, bei 2.000 Metern, immer noch nicht wiederhergestellt werden konnte, gibt der Kapitän den Befehl zum Auftauchen – aus Sicherheitsgründen. Schon werden erste Ballastgewichte abgeworfen, um Auftrieb zu erzeugen. Doch da: Es geht wieder! Ein „Chat“ mit der Oberfläche kommt zustande, und die Tauchfahrt wird fortgesetzt. Bei 3.000 Metern kommt kurz der bereits vorstellte Videogame-Joystick ins Bild, der offenbar nicht den Geist aufgegeben hat.

Am Grund des Atlantiks angekommen, erweist es sich als unmöglich, mit den funzeligen Scheinwerfern das Sichtfeld mehr als ein paar Meter weit auszuleuchten. „Es ist fast so, als würde man blind schwimmen“, fasst es Alan poetisch zusammen. Nach über einer Stunde im 600 Meter langen Trümmerfeld zwischen den beiden Haupt-Wrackteilen findet der Kapitän schließlich die berühmte Brücke. Das Tauchboot gleitet in wenigen Zentimetern Abstand über kantige, gratige, schroffe Metallteile hinweg, die ideal erscheinen, um sich darin zu verfangen. Makaberer Anblick: Auf dem Steuerhaus angebracht sind in sauberer Reihe ein halbes Dutzend Gedenktafeln, die frühere Expeditionen hier hinterlassen haben. Man will sich ja schließlich nicht nachsagen lassen, die Würde der Opfer nicht zu wahren. Dennoch sieht es aus wie eine Sammlung von teuer erkauften Ablassbriefen in Kathedralen des Mittelalters, um das eigene Seelenheil nicht zu gefährden.

Dann, endlich, die Bugspitze mit der überwucherten Reling, auf der Jack und Rose gemeinsam flogen – ach nein, hier mischt sich Fiktion jetzt mit Fakten. Offenbar auch für die Titan-Insassen, die sich kneifen müssen: „Sind das echte Videobilder?“ lautet im Moment der Entdeckung der O-Ton unsichtbarer Tauchbootpassagiere in Alans Videoreportage. „Ja, die sind echt! Wie cool ist das denn?“ Und was soll man auch sonst sagen? Vor allem, als dann später auch noch schemenhaft die Reste der legendären „Grand Staircase“ in Sicht kommen. Die kitschige Musik, mit der Alan sein Video unterlegt hat, schwillt im finalen Crescendo an.

Und wäre ich nicht selber auch gern mal dort unten, wenn ich ehrlich bin? Nein, wäre ich nicht. Es liegt an dem großen Paradoxon, das Alan in seinem Bericht immer wieder erwähnt, ohne es zu bemerken: dass nur sehr wenige lebende Menschen an diesen Ort vorgedrungen sind, was ihm offenbar sehr wichtig ist – und dass er selbst dazu beiträgt, diesen segensreichen Zustand zu entweihen. Glücklich hinterlassen seine Reportage und sein Exklusiv-Event-Erlebnis denn auch weder ihn noch mich. Alans Fazit im Video ist doch recht grantig: „Wir hatten nur 40 Minuten bei der Titanic.“ „Die Zeitpläne werden nicht eingehalten.“ „Die Batterien waren zu schwach.“ „Das Tauchboot ist noch sehr experimentell.“ Ganz klar, für ihn stimmte das Preis-Leistungs-Verhältnis des Pauschalurlaubs unter dem Meer nicht. Und dabei war er offenbar noch dabei, bevor OceanGate den Preis der Tour auf nun 250.000 Dollar mehr als verdoppelte.

Dank der Berichterstattung von Alan „für die Welt“ habe ich die Tücken der Tauchboot-Technik beinahe, aber zum Glück nicht wirklich hautnah kennenlernen dürfen. Sofort kommen mir die fünf armen Reichen wieder zu Bewusstsein, die in diesem Moment irgendwo dort unten oder oben vermisst sind und durch ein Wunder hoffentlich doch noch gerettet werden. Alan, im Plapperstil eines mexikanischen Pistoleros, regt in den letzten Minuten seines im vergangenen Sommer produzierten Videos immer weiter über die zu geringe Zeit auf, die ihm und seinen Mitreisenden am heiligen Gral der Wracktaucher blieb: „Wir sollten dort unten sein, weißt du?“

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Update, 21.6.:

Keine Sitze, Chemieklo hinterm Vorhang, keine Antriebsschraube, weder ein optischer noch sonst ein Notfall-Signalgeber, keine Greifarme zur Selbstbefreiung aus Hindernissen. Störungsanfällige Kommunikationsinstrumente. Auch im aufgetauchten Zustand keine Öffnungsmöglichkeit von innen. Schwache und zu wenige Scheinwerfer, Akkus: dito. Steuerknüppel von der X-Box, Ballastrohre aus dem Baumarkt – und offenbar keinerlei Tiefen-Zertifizierung irgendeiner Behörde. Den eigenen Chefingenieur, der vor der Inbetriebnahme warnte, gefeuert und verklagt. Alle externen Warnungen von Experten in den Wind geschlagen. Aber 250.000 Dollar pro Tauchfahrt und Fahrgast. Meine Damen und Herren: US-Kapitalismus in Reinform! Einfach mal loslegen, Entwicklungstempo verschärfen, Profite maximieren, aber Multimillionen an Such-und Rettungskosten dem Steuerzahler aufbürden. Und alle Reiseteilnehmer so geflasht von „Titanic, Titanic, Titanic!!!“, dass sie beim Einstieg in diese irre Tonne jeglichen Überlebensinstinkt in dieselbe treten. „Citizen Scientists“ my ass!

Ach ja, und der CEO wollte „keine 50-jährigen weißen Männer“ in seinem Entwicklungstteam, denn die seien „nicht inspirierend“. Go woke, go broke.

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Update, 22.6.:

Mögen sie in Frieden ruhen!


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