Heute Morgen um kurz vor sechs Uhr bin ich aufgewacht zur Nachricht von Leonard Cohens Tod. Aus verklebten Augenschlitzen las ich die Schlagzeile des Guardian auf dem iPad. Die Nacht war vorbei. Die Dunkelheit war tiefer geworden. Es sind so viele Liedzeilen des mit 82 Jahren Gestorbenen, die mein Lebensgefühl in Worte gefasst und mir Halt am Abgrund gegeben haben. So viele, für die ich mir Gitarrengriffe antrainierte und die ich zu meinen machte, nur geliehen, nicht gestohlen.

I cannot follow you, my love / you cannot follow me / I’m the distance you put beteween / all of the moments that we will be. 

I have begun to long for you, I who have no greed / I have begun to ask for you, I who have no need / You say you’ve gone away from me / but I can feel you when you breathe.

So viele. So viele mehr.

Aber dieser Abschied ist ein süßer Schmerz. Wer 82 wird und sein Leben so voll gelebt hat wie Cohen, der darf gehen. Er wird ja dennoch bleiben, in jeder Zeile, jedem Song. Und mit ihm alles, was man über den Menschen an sich, seine Schwäche, seine Leidenschaft und seine Fähigkeit zur Liebe wissen muss.

Das Mädchen auf dem Foto

Seit ich denken kann, besaß ich ein altes, vollkommen zerfleddertes Booklet mit den Texten seines Albums Songs of love and hate. Es hing längst in Fetzen, war mit Tesafilm wieder zusammengeklebt, dennoch erneut in Auflösung begriffen. Es ist verschwunden und ich finde es nicht mehr. Aber nicht nur alle Lieder darin sind mir noch gegenwärtig, sondern vor allem auch die Fotografien. Diese mystischen, rätselhaften, monochrom roten oder grauen Szenen von Menschen und Orten in ihrer Melancholie.

Was ich immer noch unglaublich finde: Eines dieser Fotos diente mir als 18-Jährigem einmal als Vorlage für eine Zeichnung. Ich wollte das Mädchen auf diesem Bild zeichnen, weil mich sein Blick berührte, der Ausdruck in seinem Gesicht. Und heute habe ich eine Tochter, die mich in mehr als nur den Augen an das Mädchen auf diesem Bild erinnert.

Was soll man noch sagen, da Cohen nun tot ist, einen Tag nach der Wahl Trumps zum US-Präsidenten? In seinem vielleicht weisesten und spirituell tiefsten Album, dem erst kürzlich erschienenen You want it darker, spricht Cohen einmal mehr mit seinem Gott. Dem Gott seines Judentums, aber auch dem seiner Wandlung zum buddhistischen Mönch während der Neunziger, und zugleich dem Gott des von ihm immer wieder besungenen Jesus. Cohen konnte das: in jedem Gott seinen Gott finden.

Im Titelsong You want it darker also versichert er Gott im Namen der Menschheit mit typischem Sarkasmus, dass sie ihn auf Erden nicht enttäuschen werde:

I didn’t know I had permission to murder and to maime / You want it darker? We kill the flame!

Und dann versichert Cohen, dass er nun bereit sei zu sterben. Was er pflichtbewusst erfüllt hat, während Donald Trump gerade aufblüht. Wachwechsel. You want it darker? We kill the flame!

Die ausgestreckte Hand

Eine letzte Geschichte aber muss erzählt werden: In den Sechzigerjahren lebte Leonard Cohen zeitweilig in Griechenland und fand dort die erste große Liebe seines Lebens, die Norwegerin Marianne Ihlen. Über sie schrieb er den späteren Klassiker So long, Marianne. Im Juli 2016 nun erreichte den Kanadier nach all den Jahren die Meldung, dass Marianne Ihlen in Norwegen im Sterben liege, 81-jährig. Sofort schickte er einen elektronischen Liebesbrief, den man ihr auf dem Totenbett vorlas: Sie beide seien nun alt und hinfällig und Marianne müsse also wohl als erste sterben. Er sei ihr aber so dicht auf den Fersen, dass sie ihn berühren könne, wenn sie nur ihre Hand ausstrecke.

Das tat die Sterbende, noch bei vollem Bewusstsein. Er hat sie, wie angekündigt, nur um gut drei Monate überlebt.

Wenn Sie das nächste Mal die Angst vor dem Tod packt, hören Sie Leonard Cohen. Danach ist es weniger schlimm.

Leonard Cohen. Foto: Rama, Wikimedia Commons, Cc-by-sa-2.0-f