Ich, der Mann für die lange Weile: Seit zwanzig Jahren spielt sich unter meinen Fenstern das immergleiche, stets banale Straßenecken-Theater ab. Oder war da was, das man Leben nennen könnte? Lassen wir den Verkehrsfluss von zwei Dekaden noch einmal vorbeiziehen.
Unser Eckhaus überblickt eine Kreuzung. Merkwürdige Redewendung: als ob das Haus Augen hätte. In Wahrheit bin zum Beispiel ich es, der vom Fenster oder vom Balkon im zweiten Stock aus die Kreuzung überblickt. Was sich dort unten kreuzt, sind zwei Straßen und ein Stichweg, der eine Sackgasse ist. Und das ist schon alles. Nach links, nach rechts und in alle Himmelsrichtungen erstrecken sich endlos die Rotklinker-Mietskasernen des „weniger wohlhabenden“ Großstadtviertels. Meist vier Stockwerke hoch, dunkelrote Klinker, weiße Fensterrahmen, hellrot gedeckte Dächer. Nach dem Krieg schnell aus Trümmersteinen hochgezogen. Stadtmenschen hausen hier in hoher Verdichtung neben- und übereinander.
Seit zwanzig Jahren, sogar schon etwas länger, ist die Kreuzung der animierte Bildschirmschoner meiner Existenz. Mein halbbewusster Lebenshintergrund. Um genau zu sein: Heute, am 17. Februar 2023, sind es 7.358 Tage seit Übergabe der Wohnungsschlüssel. Ich bin ein Mann für die lange Weile. Früher lehnte die Metzgersgattin Else Stratmann alias Elke Heidenreich, ein Kissen unter den verschränkten Armen, im Fenster eines Zechensiedlungshauses in Wanne-Eickel und kommentierte von dort den Lauf der Welt. Ich bin alt genug, jetzt lehne ich mal im Fenster. Nur statt im Ruhrgebiet in Hamburg, wo der Himmel keinen Ruß und keine Asche braucht, um milchig graues Licht auf meine Kreuzung zu werfen. Heute sitze ich im Ausguck, zweiter Stock, und lasse den Verkehrsfluss von zwanzig Jahren noch einmal an mir vorüberziehen.
Das geht am besten an Wintertagen wie diesem. Denn dem Ausguck im Weg steht eine stattliche Birke, vom Balkon aus zum Hineinklettern nah, die in all der Zeit noch um etliche Meter gewachsen sein muss und den Blick auf die Kreuzung nur unbelaubt freigibt. Mit ihren Pollen macht sie mir immer als erster Baum des Jahres Probleme. Hingegen im leichten Spätsommerwind flirrt ihre Krone, wie Tucholsky das in Ermangelung eines treffenderen Wortes notdürftig nannte. Ein sehr gutes Auge mit starkem Teleobjektiv und Fotografenglück, wie es mein Sohn hat, dringt dann manchmal bis in die Tierwelt einer Astgabel vor.
Im Herbst schüttelt die Birke blasses Blattgold ab, bis der sich lichtende Vorhang erst die träge Taube im Geäst, schließlich unsere Kreuzung für einen weiteren Winter den Blicken preisgibt. Von Schnee wurde sie seit Jahren kaum mehr befallen. Aber unsere Kinder kennen ihn noch, die beide hier oben im zweiten Stock im Stubenwagen lagen, während die Kreuzung ihr Wiegenlied sang. Hier oben machten sie ihre ersten Schritte, während die Kreuzung sie von unten rief, von hier aus gingen sie zum Kindergarten, zur Grundschule, zum Gymnasium. An dieser Kreuzung brachen sie ins Leben auf. Sie war immer der Ausgangspunkt all unserer Wege. Sie lag uns als Familie zu Füßen, als wollte sie sagen: Na? Welche Richtung soll es denn sein? Der Weg ins Glück? Oder gleich die Abkürzung ans Ende der Zeit?
Lage, Lage, Lage, lauten die ersten drei Regeln des Immobilienkaufs. Vermutlich könnte man seit 7.358 Tagen auf die Niagarafälle schauen, und doch würde es einem gehen wie Rilkes berühmtem Panther hinter seinem Käfiggitter im Jardin des Plantes, dem botanischen und zoologischen Garten in Paris: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, dass er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Kreuzung, meine Kreuzung, gibt es wirklich keine Welt im Immergleichen? Kreuzung an Autor: Wohl gibt es die! Das, was passiert, während du andere Pläne machst – das ist diese Welt, das ist das Leben. Es rauscht vorbei.
Und manchmal hält es kurz den Atem an. So wie an jenem Morgen vor vielen Jahren, wie von einem Zauberstab berührt, als mitten auf der leeren Kreuzung die beiden Hefte lagen. Unser Sohn, da schon kein Kleinkind mehr, sondern im Sammelbilder-Alter, sah es und zog mich ohne Blick für Gefahren an der Hand ins streng verbotene Zentrum der rissigen Asphaltfläche. Obwohl in einem Innenstadtbezirk gelegen, ist unsere Kreuzung zum Glück von ähnlich berechenbarer Ruhe wie ein Geysir: Nur zweimal am Tag, wenn die Helikoptermütter mit ihren SUVs den Nachwuchs zum Gymnasialzweig des evangelischen Schulzentrums chauffieren und wieder abholen, eruptieren hier rücksichtslos tobende Kräfte. Doch jener Morgen war ein Sonntagmorgen. Und auf der verwaisten Kreuzung lagen herrenlos zwei nahezu komplettierte Star-Wars-Sammelalben.
Vielleicht waren sie Minuten zuvor aus dem Heckfenster eines Familienautos geflattert, aber warum? Vielleicht hatte sie ein Kind vom Gepäckträger seines Fahrrades verloren, doch warum sollte es? Niemals würden wir die Auflösung erfahren. Niemand außer meinem scharfsichtigen Sohn hatte bis zu diesem Moment das Wunder bemerkt. Er raffte die Blätter zusammen, die sich vor wertvollsten, seltensten Sammelbildern bogen. Bildern, die ihm als Tauschware auf dem Grundschulhof Status und Reichtum einbringen würden. Dieser Sonntag war für ihn vom selben Moment an feierlich „der glücklichste Tag meines Lebens“. Nur die Kreuzung war mein Zeuge, dass ich ihm still für die Zukunft noch glücklichere wünschte.
Ein Linienbus fährt alle zehn bis zwanzig Minuten ums Eck. Das Abbremsen und Aufheulen der Motoren ist wie die Stäbe, die am Panther vorüberziehen. Oft begegnen sich die Busse derselben Linie an unserer Kreuzung. Dann muss ein Fahrer den anderen zuerst passieren lassen, um eine Kollision zu vermeiden. Bisweilen aber wird es selbst ohne Gegenverkehr eng. Eines frühen, noch lichtlosen Morgens vor nicht allzu langer Zeit schreckte mich ein ungewöhnliches Knirschen aus dem Schlaf. Durch den Spalt der Vorhänge blinzelte ich hinab auf einen Bus, der wohl gerade erst auf der diesseitigen Fahrspur um die Ecke gebogen war. Nun stand er da, Warnblinker aktiviert. Die letzten Fahrgäste räumten soeben den Wagen und trollten sich irritiert durch die Dunkelheit davon. Da sah ich es: Von der Scheibe der hinteren Bustür war nur ein gezackter Scherbenkranz geblieben. Unklar, was sie zerstört haben könnte. Es gibt an dieser Ecke keinen massiven, auf die Straße ragenden Gegenstand. Sie stellt mich gerne mal vor ein Rätsel, unsere Kreuzung.
Zur Steigerung des dramatischen Effekts kann sie auch schweres Gerät auffahren, wenn ihr danach ist. Ein anderes Mal, am hellichten Tag, preschten aus mehreren Richtungen Streifenwagen heran und stellten sich kurz vor dem Knotenpunkt kreuz und quer, jeden nachfolgenden Verkehr blockierend. Dann dauerte es nicht lange, bis ein Dröhnen von oben näherkam und – mitten auf unserer arglosen Kreuzung! – ein Rettungshubschrauber zur Landung ansetzte. Der Wirbelsturm seines Rotors knickte Blumen in den Kästen auf unserem Balkon. Schaulustige Passanten auf dem Bürgersteig duckten sich und hielten die Mützen fest. Schon hockte das Fluggerät dort auf dem Asphalt, deplatziert wie ein Raumschiff auf einem Marktplatz des Mittelalters. Dabei war gar kein Unfallopfer zu sehen, weit und breit nicht einmal ein Blechschaden. Was also? Ein Herzinfarkt, erinnert sich C. Kaum war der Helikopter mit dem Erkrankten wieder entschwebt, wurde unsere geräumte Kreuzung neuerlich von Ereignislosigkeit geflutet. Und auf den Fluten trieben die Jahre dahin.
Auf einer genügend langen Zeitachse wird aus jedem Stillstand ein Beben. Bevor schräg gegenüber, am fernen Ende der Kreuzung, im Jahr 2014 das unschlüssig geformte Gebäude mit überteuerten Eigentumswohnungen fürs mittlere Management fertig wurde, stand dort ein Haus mit fast mediterranem Charme. Nun ja, bei einiger Phantasie jedenfalls. Wir hatten ja sonst nichts in der Rotklinkerwüste. Dieser nur zweistöckige, ganz untypisch weiß und türkis geklinkerte Flachbau aus den frühen Sechzigern beherbergte ein sich federleicht aufschwingendes, vollverglastes Wendeltreppenhaus, das zu einer psychotherapeutischen Praxis im Obergeschoss führte. Außerdem eine verschwenderische Dachterrasse, auf der selbst an heißen Hochsommertagen nie jemand ein Sonnenbad zu nehmen schien. Vor allem aber beherbergte er den Ünüvar.
Der Ünüvar war ein Edeka, der den Namen der türkischen Händlerfamilie führte. Zuvor war es ein Spar-Markt gewesen, bis diese niederländische Supermarktkette 2005 vom Konkurrenten übernommen wurde. Und davor wiederum, noch vor unserer Zeit als Anwohner der Kreuzung, war dort eine Pro-Filiale gewesen. Ältere Hamburger kennen ihn noch: den 1899 gegründete Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“, jene einst über die ganze Hansestadt verbreitete Konsumgenossenschaft, die allerdings 1989 nach langem Missmanagement am Ende war. Ich habe dort beim Ünüvar im Keller noch ein Werbeschild mit dem roten Schriftzug „Deine Pro“ gefunden. Oben, im Verkaufsraum, holten wir jahrelang unsere Frühstücksmilch. Es war sehr bequem, nur ein paar Schritte entfernt. Und für alle im Umkreis der Kreuzung war fußläufig gesorgt.
Doch auch die Zeit des Ünüvar lief unbarmherzig ab. Die bescheidene Verkaufsfläche rechnete sich nicht mehr, und im vom Eigentümer vernachlässigten Gemäuer saß der Schwamm. Kein Grund, nicht noch ein paar Pointen zu setzen! Die erstaunliche Geschichte vom Ende eines Supermarktes habe ich hier ausführlich in Fortsetzungsfolgen erzählt. Da sie aber bei aller Tragik des Verlusts untrennbar mit den Höhepunkten meiner Kreuzungschronik verbunden ist, dürfen hier wenigstens ein paar Impressionen vom letzten grandiosen Aufbäumen dieses außergewöhnlich untoten Hauses nicht fehlen.
Nachdem also das Ende des Frischemarktes besiegelt war, stand er eine ganze Zeitlang leer, zum Abriss freigegeben, jedoch ohne dass etwas geschah. Dann aber rückten plötzlich seltsam untypische Handwerker an und begannen allen Ernstes, das Ladenlokal wieder herzurichten. Schließlich stellte sich heraus: Hier sollte ein richtiger, aufwändiger, abendfüllender Kinofilm gedreht werden, „Die Banklady“. Der Film würde die Geschichte der ersten deutschen Bankräuberin erzählen, Gisela Werler, die in den Sechzigerjahren in Hamburg und Umgebung Sparkassenfilialen überfiel. Weil unsere Backsteinidylle so herrlich aus der Zeit gefallen und ausreichend provinziell wirkte, war der Ünüvar nach einigen kleineren Eingriffen als Geldinstitut verkleidet – in Bad Segeberg, 1968. Unsere Kreuzung befuhren für die Dauer der Dreharbeiten museumsreife VW Käfer, Opel Kadetts und andere Oldtimer. Gedreht wurde bei Tag und bei Nacht, und unser eitler Ünüvar sonnte sich im gleißenden Licht der Filmlampen.
Zu den eher skurilen Begleiterscheinungen dieses Ausnahmezustands zählte, dass ausgerechnet unter einem wolkenschweren Hamburger Sommerhimmel für einige Außenaufnahmen professionelle Regenmacher mit schwerem Feuerwehr-Equipment zum Einsatz kamen. Denn dieser wolkenschwere Hamburger Sommerhimmel weigerte sich exakt für die Dauer der Dreharbeiten, seine bewährten Schleusen zu öffnen.
Ich sollte noch beichten, dass ich mich während dieser Dreharbeiten ein wenig in Nadeshda Brennicke verknallte. Die Banklady. Sie war allerdings gut bewacht, und zwar von Charly Hübner. Der ballerte als ihr Komplize vor der „Bank“ an unserer Kreuzung mit einer veritablen Maschinenpistole herum und richtete dabei ungestraft ein Massaker unter flüchtenden Sparkassenkassierern an. In einer mit dramatischer Zeitlupe verlangsamten Szene des fertigen Kinofilms überqueren die beiden auf dem Weg zum Überfall unsere Kreuzung, nachdem sie den Käfer an der Ecke abgestellt haben. Jeder federleichte Schritt Nadeshdas zarter Füße lässt Blumen auf dem Asphalt erblühen. Liebestoller Unfug, streichen Sie den vorigen Satz! Jedenfalls: Im Hintergrund ist ein Balkon im zweiten Stock eines Eckhauses im Bild … ach, Nadilein, wir zwei beiden sind uns schon verdammt nahe gekommen damals! Ich durfte nur solange nicht ins Freie. Die Aufnahmeleitung hatte uns allesamt unter Hausarrest gestellt.
Auch die Filmcrew packte nach getaner Arbeit ihre Sachen und räumte den Ort des dramatischen Geschehens, wenn auch dieses Mal nicht im Hubschrauber. Wieder wurde es still um unsere Kreuzung, wo der Ünüvar alias die Bankfiliale nun nichts weiter zu tun hatte, als das Warten auf den Abriss wieder aufzunehmen. Wartezeit gab es hier ja stets im Überfluss. Doch was längst hätte erledigt sein sollen, verzögerte sich rätselhaft weiter. Und so machte das störrische, divenhafte, unbezähmbare, lebenshungrige alte Haus im Jahr darauf sein letztes Fass auf.
Im Frühsommer 2013 wurde es zum Schauplatz eines kulturellen Nachbarschaftsspektakels. Kunst, Musik, Literatur, Ausstellungen und Klönschnack füllten für ein Wochenende noch einmal das Ladenlokal. Die blau- und rotgestreiften Markisen tauchten zusammen mit der hanseatischen Mittelmeersonne die sonst so graue Piazza in ein fast mediterranes Licht. So etwas hatte das Haus noch nie erlebt, obwohl es für die Aussicht aufs azurblaue Meer vor Rimini gebaut worden war. Der Architekt hatte nur den Stadtplan verwechselt.
Zuletzt aber brachen die Kräfte des Kapitalismus der alten Diva mit roher Gewalt das Genick. Freiwillig und mit gutem Zureden hätte sie sich ja eh nicht zum Sterben gelegt. Unser Blick aus dem zweiten Stock ging nun plötzlich unnatürlich weit über die Kreuzung hinaus, fast bis zur U-Bahn-Station. Diese Lücke nach all den Jahren war schlimmer als die Furcht davor, was sie in der Zukunft ausfüllen würde.
Diese Zukunft wuchs dann bald, nachdem der Kampfmittelräumdienst auf dem frisch planierten Baugrund keine Blindgänger aus dem Weltkrieg gefunden hatte, zielstrebig und humorlos in den Himmel. Ein durchkalkulierter Zweckbau. Ohne wenigstens eine trostspendende, schindelgedeckte Dachschräge und vor allem ohne den kleinsten Grünstreifen zur Kreuzung hin, reizte er die Bruttogeschossfläche restlos aus. Wir haben uns an ihn gewöhnt. Und die neue urbane Mittelschicht dort drüben mit den übergroßen Plasmabildschirmen an den Wänden der kombinierten Wohn-Essbereiche toleriert umgekehrt uns, die Austragsbauern gegenüber in der Rotklinkerbaracke aus Hungersteinen. Was wir indes gemeinsam haben: den Gegenpol der alten Raucher-Eckkneipe, auf die wir aus beiden Richtungen hinabblicken. Im Grunde gut aber, dass sie da ist. Sie ist der letzte ungenormte, kratzkantige Lebensort, während nach und nach alles durchformatiert wird im Umfeld unserer Kreuzung.
Noch gibt es Vertrautes. Noch bellt in regelmäßigen Abständen ein pensionsreifer Polizeiobermeister mit Leuchtweste auf dem Dienstfahrrad Kommandos, im Schlepp eine Kolonne autoritätsgläubiger Kinder beim Zweirad-Sicherheitstraining. Noch hält sich die scheinbar immergleich an- und abschwellende Geräuschkulisse des Kreuzungsverkehrs. Doch wer in der relativen Ruhe des Spätabends genau hinhört, bemerkt bei spaltweit geöffnetem Fenster ein neues Geräusch: das leise Jaulen des starken Elektromotors, wenn das klimakorrekte „Moia“-Sammeltaxi vorbeirollt. Und einmal, ganz tief in der Nacht, war da dieser große Junge auf seinem E-Scooter. Unter Einfluss irgendeiner Substanz stürzte er auf dem regennassen Kopfsteinpflaster der Länge nach hin. Stieg still wieder auf. Stürzte nach fünf Metern erneut. Kam hoch, fuhr los, stürzte. Fuhr weiter, schlug hin. Raffte sich auf und verschwand schlingernd im Nieselregen. Klaglos, ohne einen Fluch. Im Rausch gibt es kein Wort für Schmerz.
Und in der digitalen Epoche überlagert „augmented reality“ mit einer Zuckerschicht die Härten des Lebens. Einmal markierte jemand aus dieser virtuellen Parallelwelt unsere Müllcontainer an der Kreuzung als Pokemon-Arena. Sogleich strömten Dutzende, wenn nicht mehr als hundert junger Männer und Frauen, die wohl aus dem nahen Park kamen, den Bürgersteig entlang: eine Zombie-Brigade, nur auf das Smartphone vor jedem einzelnen Gesicht fixiert. Unter unseren ungläubigen Augen zogen sie wie Pilger auf dem Jakobsweg zur neuen Kultstätte am Sammelplatz unseres Biomülls. Dort bildeten sich aufgeregt schnatternde Menschentrauben, ebenso vor der Raucherkneipe, die sich wohl als weitere Arena ein üppiges Zusatzgeschäft mit den Mobilzombies versprach. Die Pokemon-Erscheinungen verblassten dann aber zum Glück recht bald wieder. Niemand würdigt unsere Biocontainer heute noch eines Blickes.
Während sich all dieses Nichts ereignet, sterben die Alten weg. Die Nester, so wie unseres, leeren sich. Die Energiesanierer pappen mit Pseudoklinker verblendete Styroporschichten vor die rissigen Fassaden. Aber nur dort, wo nicht schon bröckelnde Balkone krachend aus dem vierten Stock abstürzen und es endlich Grund gibt, die ganze störende Altsubstanz abzureißen. Wer sich die inflationierten Genossenschaftsmieten nicht mehr leisten kann, wird wie überall in die Vorstadt verdrängt. Neue, besserverdienende Normgesichter aus den angesagten Wohnlagen, die selbst sie nicht mehr bezahlen können, kriechen bei uns im Rotklinker unter. Hier treiben sie die Neueröffnung veganer Safe Spaces für nachhaltigen Konsum voran. Eines Tages werden nach unseren Kreuzungskindern auch wir, Anna Chronismus und ich, von hier fortgehen müssen.
Wohin? Wollen wir hoffen, dass die alte Bekannte dort unten uns dann die Richtung weisen wird.
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