Am 19. Februar 1960 ist mein Schwiegervater im Alter von 36 Jahren zu einer Woche Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden. Er hat diese Strafe abgesessen. Beides war mir neu.

Ich halte das Urteil, samt fünfseitiger, engzeilig getippter Schreibmaschinen-Begründung, in der Hand, weil ich in den letzten Wochen dabei geholfen habe, das Leben meines Schwiegervaters und seiner Frau abzuwickeln. Mein Schwiegervater starb schon vor zwölf Jahren, meine Schwiegermutter erst vor zwei Monaten. Ihr gemeinsames Haus steht nun leer. Die Möbel, die Dinge, die Papiere eines jahrzehntelangen Ehe-, Familien- und Witwenlebens müssen ausgemustert werden. Es ist, wie jeder weiß, der so etwas schon einmal machen musste, für die Hinterbliebenen eine deprimierende Aufgabe. Jedenfalls dann, wenn Liebe im Spiel war, wie in diesem Fall.

Aber in dem bizarren, eigentlich bürokratisch-brutalen Schriftstück vom Amt liegt ein eigentümlicher Trost. Dabei ist es ein Dokument aus einer Zeit, als es noch eine „Obrigkeit“ gab. Als es Regeln gab, denen unnachgiebig Geltung verschafft wurde, weil es Regeln gab. „Ohne Ansehen der Person“, wie es damals hieß. Das klingt für heutige Leser unendlich spießig, gestrig, autoritär. Und doch ist es gefühlt das ganze Gegenteil: das Zeugnis einer einfacheren Zeit, als man noch seinen Platz im Leben kannte und ihn mit Witz und Bauernschläue ausfüllte, aber auch behauptete. Gegen alle Widrigkeiten, mit Schalk im Nacken, mit Resilienz und einer steifen Oberlippe, „a stiff upper lip“, wie die Engländer sagen.

Keine Multimediashow

All das fehlt uns heute, in unser Betroffenheits-, Ausreden- und Erregungsgesellschaft, in der andererseits das Recht gebeugt, getreten und gekauft wird nach Belieben. In der das Maßnehmen am Gemeinwohl abhanden gekommen ist. Und die Bereitschaft, sich „dem System“ zu unterwerfen, ohne eine multimediale Show daraus zu machen, auch.

Der Grund, warum mein Schwiegervater verurteilt wurde, war Trunkenheit am Steuer. Zitat:

Am 12.12.1959 nahm der Angeklagte an einer Weihnachtsfeier seiner Firma teil. (…) Als er gegen 3 Uhr mit seinem VW-Bulli nach Lemgo zurückfahren wollte, geriet er kurz vor Lage in der Nähe des Brinkkruges in den rechten Straßengraben. Er fuhr etwa 40 m in diesem Graben entlang, riss dabei einen Begrenzungsstein aus dem Erdreich, drückte den Kilometerstein 18,5 um und blieb schließlich vor einem Leitungsmast stehen. Da er den Wagen nicht mit eigener Kraft aus dem Straßengraben bekam, schaltete er das Standlicht des Wagens ein und machte sich, da er keine Fahrgelegenheit traf, zu Fuß auf den Heimweg. (…) Nachdem ein Funkstreifenwagen zufällig den Wagen des Angeklagten im Straßengraben stehend vorgefunden hatte, veranlasste die Polizei die Feststellung des Halters des Wagens und, da der Angeklagte nach Alkohol roch, die Entnahme einer Blutprobe. Diese ergab, dass der Angeklagte 1,69 Promille Alkohol im Blut hatte.

Um das festzuhalten: Es war nichts und niemandem, nicht mal dem VW-Bulli, etwas geschehen. Außer natürlich dem Begrenzungsstein und dem armen Kilometerstein 18,5, die es wortwörtlich geschrägt hatte.

Nun aber zur Verteidigung meines Schwiegervaters in der Hauptverhandlung vor Gericht, bei der mit allem Pippo ein eigens angefertigtes Gutachten über Blutalkoholauswirkung bei durchschnittlichem Körperbau verlesen und außerdem zwei Zeugen vernommen wurden.

Kälte und Schock gleich Grog

Er habe auf der Feier gar nichts getrunken, gab mein Schwiegervater, ein regional recht bekannter Jazz-Musiker, damals zunächst zu Protokoll. In den Graben sei er durch ein entgegenkommendes Fahrzeug gedrängt worden. Und endlich zuhause angelangt sei ihm kalt gewesen, dazu der Schock. Weiter in der Urteilsbegründung:

Aus diesem Grunde habe er sich zu Hause 2 starke Gläser Grog gebraut und getrunken, bevor er sich zu Bett begeben habe. (…) Zur Zeit seiner Teilnahme am Straßenverkehr sei dieser Alkoholgehalt jedoch noch nicht vorhanden gewesen.

Einen Geschmack auf der Zunge wie alter Weinbrand entfalten bis heute Sätze aus der weiteren Urteilsbegründung:

Gegen diese Behauptung des Angeklagten spricht insbesondere die von dem Zeugen K. bekundete Tatsache, dass der Angeklagte auf die Frage, ob er Alkohol getrunken habe, erklärt hat, er habe überhaupt nicht getrunken. (…) Der Angeklagte hätte jedoch keinerlei Interesse daran gehabt, diesen nachträglichen Alkoholgenuss zu verschweigen, vielmehr hätte er, wenn er wirklich noch zu Hause Alkohol getrunken gehabt hätte, Interesse daran gehabt diesen Alkoholgenuss durch Vorzeigen der Rumflasche bzw. der sonstigen Trinkgefäße unter Beweis zu stellen.

So geht das Seite um Seite. Dieser ganze Aufwand, diese Staatsräson. Immer in dem ernsthaften Bemühen, dem zarten Pflänzchen Recht Geltung zu verschaffen und zukünftige Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung abzuwenden. Hoch verdächtig natürlich vor diesem Hintergrund, dass der Angeklagte seine Tat gar nicht aus eigenem Antrieb der Polizei gemeldet und sich auch nicht um Zeugen für den hoch abnormen Sachverhalt bemüht hat. So jemand kann „kein gutes Gewissen haben“, versteht sich.

Die Unmöglichkeit der Bewährung

Entsprechend geht es irgendwann nur noch um die Frage, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könnte. Aber das erweist sich als unmöglich:

Dem Angeklagten ist, wie er zugegeben hat, bekannt gewesen, dass Trunkenheit im Verkehr eine beonders große Gefahr mit sich bringt und daher von den Gerichten streng bestraft wird. Auch durch Rundfunk und Presse wird immer wieder darauf hin. (…) In der Tat des Angeklagten liegt – wie bereits ausgeführt – ein erheblicher Urechtsgehalt. Er hat nicht die nötige Widerstandskraft gegenüber der Versuchung, Alkohol zu trinken, gezeigt. (…) Abgesehen davon ist eine Strafaussetzung zur Bewährung aber auch deseen nicht möglich, weil das öffentliche Interesse die Vollstreckung der Strafe erfordert. Das Rechtsgefühl eines recht und billig denkenden Menschen würde bei voller Kenntnis der angegebenen Tatumstände die Vollstreckung als Sühne für das leichtfertige und verantwortungslose Verhalten des Angeklagten verlangen.

Und was das Rechtsgefühl verlangt, das bekommt es. Mein Schwiegervater fuhr am 5. April 1960 ins Landgerichtsgefängnis Detmold ein. Eine Woche später, am 12. April, wurde er ordnungsgemäß unter Auszahlung von 57,57 DM „eigenem Geld“ entlassen. Dem Gesetz war Genüge getan, dem Recht Geltung verschafft.

Man verlor weder Job noch Humor

Das klingt, schon klar, wie eine schrullige Schmonzette aus der Zeit, als Dick und Doof noch in ruckelndem Schwarzweiß über die Fernsehschirme flimmerten. Man kann sich über die Witzfiguren des Richters, des Staatsanwalts, des Angeklagten und natürlich auch des „Justizangestellten Multhaupt“ köstlich amüsieren. Hach, was für eine bekloppte Zeit.

Wenn man aber gerade erst vor Wochen seine Schwiegermutter zu Grabe getragen hat, in ihrem leeren, verwohnten Haus steht, sich auch des vor über einem Jahrzehnt verstorbenen Schwiegervaters und Jazzmusikers erinnert und die letzten Schwingungen ihrer beider Epoche in sich nachhallen spürt, dann, wie gesagt, wirkt all das nicht in erster Linie komisch. Sondern es spendet einen merkwürdig unverhofften Trost. Das also war der womöglich größte anzunehmende Schrecken im Leben eines Normalsterblichen. Solche Sorgen hatte man damals, wenn man wirklich welche hatte. Und gleichzeitig war die hochnotpeinliche Schuld, mit abgeleisteter Strafe, dann auch getilgt. Man verlor nicht den Job, nicht den Ruf, nicht die Fassung und nicht den Humor.

Mein Schwiegervater hat nie ein großes Aufhebens von dieser Episode gemacht. Er hat sein Leben einfach fortgesetzt, genau wie der Staat, der ihn verurteilte. Kein Groll, keine verletzten Gefühle, keine posttraumatische Belastungsstörung. Kein Amoklauf im Gerichtssaal. Es waren spießigere, langweiligere, ernsthaftere, rebellischere, verrücktere, romantischere Zeiten.

Ich würde sie gerne eintauschen.