Man darf mich einen Ewiggestrigen nennen – zur Welt gekommen mit dem angeborenen Drang, die Zeitachse in die verbotene Richtung zu beschreiten: zurück, immer nur zurück. Oder wenigstens Stillstand bitte! Stattdessen werde ich permanent zur Zukunft gezwungen. Doch was soll ich dort, wenn die Zukunft ein Downgrade ist?
„Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet“, schreibt Wolfgang Herrndorf im ersten Eintrag seines Internet-Tagebuchs „Arbeit und Struktur“. Der 2013 im Alter von 48 Jahren verstorbene Schriftsteller, der nach der Diagnose „unheilbarer Hirntumor“ ein Blog zu schreiben begann, hält darin als erste Erinnerung an die Welt eine Morgendämmerung fest, gesehen durch die Stäbe des Kinderbettchens.
Dieser Eindruck – und nicht etwa die Hoffnung auf eine strahlende Zukunft – wurde zum Fixpunkt seiner lebenszeitlichen Orientierung: „Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.“
Wie ich diese Sehnsucht nach einem Aufwachen in der Vergangenheit mit jeder Faser nachfühlen kann! Oder wenigstens nach Stillstand, um endlich offiziell nicht mehr hoffen zu müssen. Um stattdessen endlich zu verarbeiten, zu verstehen. Ich, der Wirtschaftshistoriker. Der Autor von Biographien, Chroniken, Romanen und Entwicklungsgeschichten, die nicht selten ein Jahrhundert und mehr zurückreichen. Der bald 57-jährige Ureinwohner dieses aufgedunsenenen, absterbenden, ausblutenden Landes.
Aufgedunsen, absterbend, ausblutend wie … ich?
Hier schreibt ein Ewiggestriger. All mein Verlangen war und ist es, und wird es mit jedem in Deutschland vergehenden Tag mehr, einmal noch die „schöne Dämmerung“ zu sehen. Tausche Zukunft gegen Vergangenheit, so lautet mehr denn je mein diskret angebotener Deal. Weil in der dehnbaren Kaugummizeit des Damals „alles besser war“? Bin ich so bieder, ist es so banal?
Ist, wer wie ich instinktiv Zuflucht in der Vergangenheit sucht, unfähig zur Zukunft? Eines kann ich sagen: Er ist jedenfalls nicht unfähig, im Augenblick zu leben. Das konnte ich immer, kann ich heute, werde ich wohl immer können: einen kleinen, versteckten, erhabenen, außergewöhnlichen Moment erkennen und mit allen Sinnen in mich aufnehmen. Bevor er die Grenze jenes fremd-vertrauten Landes passiert, in das ich ihm nicht folgen kann.
Dass die Unpassierbarkeit dieser mit Stacheldraht bewehrten Grenze die größte aller humanitären Tragödien ist, erkennt unbewusst auch die Mehrheit der Menschen an, die üblicherweise ganz im Hier und Jetzt lebt. Jedes verwackelte Smartphone-Foto auf einem Popkonzert oder bei einem Pokalendspiel, jedes Selfie am ausgestreckten Arm vor dem Hintergrund der Golden Gate Bridge ist das Eingeständnis: Dieser Augenblick hat, obwohl ich ihn daran hindern wollte, die Seiten gewechselt. Er ist nun Teil der zunehmend fremden Kultur jenseits des Eisernen Vorhangs.
„The past is a foreign country; they do things differently there“ lautet ein berühmtes Zitat aus J.P. Hartleys Roman The Go-Between, veröffentlicht im Jahr 1953. Darin geht es um einen jungen Mann, der in mehrfacher Hinsicht seine Unschuld verliert. Der Verlust der Unschuld hat viel mit verlorener Zeit zu tun.
Aber es geht eben auch um dieses bittersüße, schaurig-schuldige Verlangen, die Zeitachse in die verbotene Richtung zu beschreiten. Kein Literaturzitat fasst es besser in Worte. Das fremde Land der Vergangenheit, in dem sie Dinge auf andere Weise tun (und nicht etwa taten), sendet Gravitationswellen durchs Gewebe der Raumzeit. Resonanz – das ist, was ich dabei empfinde.
Die Zeit ist ein Nebelplanet, von dem die größten Geister bis heute nicht wissen, wie sein harter Kern beschaffen ist. Muss die Zeit zum Beispiel zwingend linear verlaufen? Der Science-Fiction-Film „The Arrival“ imaginiert eine außerirdische Spezies, deren Dasein ebenso zirkulär ist wie ihre darauf abgestimmte Schriftsprache: angelegt als endlos variierte Kreisform, Zukunft und Vergangenheit in ständiger Berührung. Könnten wir, als Sterbliche immer nur vorwärtslebend, mit solchen Zirkularwesen Erfahrungen austauschen?
Oder vielleicht ist Zeit nur eine Illusion, wie manche glauben. Aber wir unterliegen alle ihrem realen Einfluss, der in unverhandelbarer Weise so aussieht: Verfall, Vergehen, Entropie. Oder, profaner ausgedrückt, Tod. Kann eine Illusion wirklich so stark sein, dass sie das erzwingt?
Was ist denn der Sekundenzeiger einer Uhr, den wir ruckweise voranschreiten sehen? Ist er die verstreichende Zeit selbst, oder ist er nur deren für Menschen verständliches Abbild – oder deren Konsequenz? Und warum scheint es die Natur so eingerichtet zu haben, dass das einzig unüberwindliche Tabu, nachdem alle anderen gebrochen wurden, die Rückkehr eines Körpers in die Vergangenheit ist?
Aber Zeitreisen sind wirklich möglich! So rufen die Physiker seit Einstein und schicken leise hinterher: wenn auch mit einem gegen unendlich gehenden Energieaufwand. Ja, Zeitreisen in die Zukunft sind möglich. Nicht hingegen, niemals und unter keinen noch so bizarren Verrenkungen der Physik, die Rückkehr in die Vergangenheit – in das bereits nach einer Planckzeitlänge für immer verschlossene Land.
Doch was verboten ist, das macht uns gerade scharf. Sigmund Freud ist hat uns gelehrt, dass der Mensch zeitlebens in den Mutterleib zurückkehren will. Die Ur-Sünde ist demnach die Geburt, die Anmaßung, zur Welt kommen und das Paradies verlassen zu wollen. Von da an ist die Nabelschnur zerrissen, die uns mit unserer Unschuld verband, unserem Gleichklang mit Gott. Und das Band wird bis zum Schluss nie wieder geflickt. Wenn ich nun aber doch so gern zurückwill, auch noch weit hinter den Zeitpunkt meiner Geburt?
Im vergangenen Jahr erschien ein Band über die 200-jährige Geschichte der Berliner Messe, zu dem ich einige Kapitel beigesteuert hatte. In einem davon ging es um die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 im Treptower Park, eine Leistungsschau der Wirtschaft des Kaiserreiches. Zur Zeit Wilhelms II. wurden dort in Berlin ein halbes Jahr lang die damaligen Triumphe deutscher Industrie und Wissenschaft präsentiert – in temporären Pavillons, die selbst nach heutigem Maßstab wahre Tempel der Fortschrittsbegeisterung waren.
Stars wie der Flugpionier Otto Lilienthal gaben sich die Ehre, an diesem Ort der Wunder Vorträge zu Technologiethemen zu halten. Elektrisch erleuchtete, automatische Cafés versorgten Tausende mit dem Vorläufer von Fastfood, ein Vergnügungspark lockte mit einem begehbaren Alpenpanorma.
Berüchtigt sei die Ausstellung von 1896 indes, so erkläre ich in dem Kapitel, für etwas anderes: Im Begleitprogramm wurden – wenn auch nach freiwilliger Anwerbung und gegen Entgelt – Menschen aus den damaligen deutschen Kolonien in nachgebauten „Eingeborenendörfern“ ausgestellt. Ein zeittypischer Abgrund waren die „rassenkundlichen“ Begleitforschungen deutscher Ethnologen an diesen Komparsen.
Trotz allem schrieb ich nach einem halben Jahr der Recherchen zur Berliner Gewerbeaustellung in Archiven und Literatur gegen Ende des Kapitels: „Es ist eine reizvolle Fantasie, diese Schau im Glanz des beginnenden Elektrizitätszeitalters im Geiste zu durchwandern und sich von ihrer Begeisterung für Modernität und Größe mitreißen zu lassen.“
Und das war nicht nur so dahingeschrieben. Ich würde einiges dafür geben, einen halben Tag lang durch das wilhelminische Berlin schlendern zu können, bevor ich mit der Pferdebahn oder auf einem Spreekahn zum Ausstellungsgelände nach Treptow führe. Mit dem Wissen von heute würde ich allzu gerne diese Phase des Optimismus und der selbstgewissen Pracht erkunden, in der alles beherrschbar schien, kein Ziel zu hoch gesteckt, kein technologischer Gipfel unerreichbar.
Ich würde durch die Straßen und Alleen einer neuen Weltstadt schlendern, in der noch nichts „gebrochen“, dekonstruiert, erniedrigt, in den Schmutz getreten und „entmächtigt“ war. Eine Stadt, deren Bürger ganz selbstverständlich an sich und ihre unbegrenzten, keineswegs grenzenlosen Möglichkeiten glaubten.
Ich würde ihnen sogar die naive Schaulust nachsehen, mit der sie die fremdartig dunkelhäutigen Menschen aus „unseren Protektoraten“ begafften. Denn sie wussten es nicht besser. Für viele war es der erste Kontakt, sie waren neugierig und glaubten wie die Londoner und Pariser an die goldenen Zeiten des Kolonialismus, die man ihnen versprach.
Und siehe da, in dieser traumtänzerischen Vergangenheit glaube auch ich plötzlich an die Zukunft! An Orten wie dem Treptower Park eröffnet sich mir ein surreales Tempus namens Paläo-Futur: immer schon wieder verschüttet, bevor es Gegenwart werden kann. Seiner Vergegenwärtigung am nächsten kamen noch die 1960er-Jahre in den USA, als ein schieres „Yes, we can!“ die Saturn-V-Rakete in den Himmel hob und auf ihren Kurs zum Mond schickte.
Doch selbst da war ich gerade erst geboren. Zu spät! Zur Unzeit! Alle auf die Mondlandung folgenden Pläne, Saturn-Flug bis 1980, Marskolonie 1990, sind heute unter Tonnen von Vergangenheitssediment begraben. Dennoch denke ich, jeder Mensch verdient einen Ort in der Zeit, an dem für den Augenblick noch alles Gold ist, was glänzt. Wie 1969 in Cape Canaveral, wie 1896 im Treptower Park.
Was meine paläofuturistischen Ausstellungsbesucher von Treptow allerdings nicht ahnten: Viele von ihnen würden nach der ursprünglichen auch noch ihre bürgerliche Unschuld verlieren. Die zweite Nabelschnur würde ebenfalls zerreißen. Zwei Weltkriege standen ihnen bevor. Der erste die Konsequenz eines europäischen Hurra-Militarismus, dem auch die Berliner am Neuen See des Treptower Parks bereits huldigten: Fünfmal täglich fanden im Wasserbecken „Marinespiele“ statt, ein Schiffeversenken durch maßstabgetreue kaiserliche Zerstörer-Modelle. Die Propapaganda wirkte, der Kaiser bekam nicht viel später sein Flottenprogramm.
Der zweite Krieg: ein Höllenbrand, befeuert von Hybris und Herrenmenschenfuror. Die rassenkundlichen Untersuchungen hinter den Kulissen der Gewerbeausstellung waren nicht bloß ein akademischer Spleen gewesen. Es kam der Tag, da zeitigten sie Ergebnisse. Die Kaisertreuen und Kolonialisten, die auf den Treptower Wiesen vor Kraft kaum laufen konnten, waren die eigentlichen Gegenspieler des Mephisto im Faust: schon Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.
Denn offenbar ist auf unserer Zeitachse die Selbstgefälligkeit der Zukunftsgewissen nur dazu gut, am Ende pulverisiert zu werden. Wann immer jemand die totale Zukunft als Ziel ausgibt, pflanzt er bereits den Keim der Zerstörung. Mit Utopisten und anderen Ideologen konnte ich deshalb nie umgehen, ich scheue sie wie Mephisto das Weihwasser.
Nein, Vergeblichkeit ist der Endpunkt der Timeline. Der Totenkopf, Symbol der Vanitas, ziert nicht umsonst die Stillleben der alten Meister. Ich akzeptiere das, doch ich bin in die falsche Zeit hineingeboren. Was ich in meinen Büchern an vielen Vergangenheiten wieder und wieder nachvollzogen habe, steht den neuen, hypermoralischen Futuristen und ihren Opfern erst noch bevor.
Das ist eine melancholische Erkenntnis: zeitversetzt zur Welt gekommen zu sein, lebenslänglich schon der Gegenwart hinterherhecheln zu müssen und meine Verspätung gegenüber der vorgeschriebenen Zukunft niemals aufholen zu können. Als ich ungefähr 18 Jahre alt war, also ungefähr 1984, schrieb ich ins Poesiealbum unter der Überschrift „Noch mal hier“ Verse, die ich damals fühlte, aber erst heute verstehe: „Augenblicke kleben in den Ecken / und in stillen Speichern / stapeln Stunden sich zuhauf / Nein, ihr seht sie nicht / Die Trauer einzukreisen / bleibt an mir“.
Zugegeben, die lyrische Qualität war pubertär. Das Lebensgefühl hat sich bestätigt.
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