Jeder kennt sie: Große Freiheit und Reeperbahn, Mönckebergstraße und Jungfernstieg. Doch es sind die wenig glamourösen unter Hamburgs 7846 Straßen, die wirklich überraschende Einblicke bieten. In dieser Serie flanieren wir abseits der Reiseführerrouten mit der Kamera über den Asphalt der Hansestadt.

Zu einer Großstadt gehören Ausfallstraßen, wo sich Möbelhaus an Tankstelle an Kentucky Fried Chicken reiht. Meist wirft der Mischmasch unansehnlicher Branchenvertretungen die Frage auf, ob es nicht besser Abfall- oder Anfallstraßen heißen müsste. Die Süderstraße in Hamburg-Hamm, nicht weit vom Hafen, ist wenigstens konsequent auf einen Wirtschaftssektor fokussiert: Sie versammelt auf etwa zwei Kilometern Länge Dutzende Autosalons, Autoteilehänder, Gebrauchtwagenverkäufer und -exporteure, den TÜV, die Zulassungsstelle, Autoschilderhändler und Autovermietungen. Sonntags aber haben die käuflichen Träume vom glanzvollen automobilen Leben Ruhetag – und die Leere dieser Illusion wird greifbar. 

Ein Pappkamerad zeigt mit seinem groben Werkzeug an, was hier geboten wird: Kleinere Reparaturen und Reifenwechsel gibt es in der Süderstraße fast an jeder Ecke – ob bei großen Werkstattketten oder beim iranischen Schrauber in der Eck-Garage.

“Service bis 18 Uhr” – aber nicht sonntags. Dann sind die Showrooms der Autohändler erstarrt und die Bürgersteige der Süderstraße verwaist. Bis auf wenige Passanten aus der Nachbarschaft kommt niemand hierher, der nicht von Berufs wegen unbeingt muss. Apropos Beruf: Auch ein Autostrich gehört zu den Mobilitäts-Dienstleistungen in der Süderstraße, doch die Huren nehmen sich am Sonntagnachmittag ebenfalls frei.

Am Rande der so genannten City Süd, einer unwirtlichen Ansammlung von Betonklötzen, Vertreterhotels und Bürokomplexen, verströmt die Süderstraße wie kaum eine andere Hauptverkehrsstraße Hamburgs eine Aura von urbaner Tristesse, ästhetisch indifferenter Funktionalität und – gerade am Sonntag – spätkapitalistischer Depression.

Sieht aus wie ein Pit Stop beim Rennen in Monza, ist aber Süderstraße: Ein Reifenhandel nutzt die Abwesenheit von Liefer- und Parksuchverkehr am Wochenende, um seine nicht mehr verkäuflichen Altbestände open air zwischenzulagern – bis am Montag der Truck kommt, der alles dem Recycling zuführt. Oder möchte jemand eine kostenlose Pflanzenschale für den Vorgarten?

Die Schilderhändler der Süderstraße hängen alle am Tropf der Autozulassungsstelle gleich gegenüber. Sie verstehen es durchaus, den Filmplakatmalern früherer Zeiten Konkurrenz zu machen – zumindest was die grellen Farben und großen Formate angeht. Das Ganze gibt es auch auf Russisch und in weiteren Sprachen der Autowelt. Ganz großes Kino aber wird hier eher selten geboten.

Dieser Händler versucht wenigstens, einen Hauch von Hollywood und ein wenig gespannte Erwartung auf seinen neuesten Neuwagen zu produzieren. An diesem Sonntag ist hier sogar bis 17 Uhr geöffnet – jedoch “keine Beratung, kein Verkauf!”. Was das Ganze fast noch ein wenig trauriger macht. Wozu sich herbemühen? Um mit der Hand über das rote Samt-Imitat der Faltgarage zu streichen und dann doch nicht gucken zu dürfen – geschweige denn fahren?

Da mag der Nummernschildverkäufer optisch schreien und mit Discounttarifen um sich werfen, wie er will: Diese beiden in Ehren ergrauten Gesellen geben sich keiner noch so bescheidenen Illusion von Mobilität mehr hin.

Auch wenn die “Light Aufbereitung” des Blechpflegebetriebs für 39 Euro viel mehr verspricht als eine handelsübliche Autowäsche (Abledern, Türeinstiege säubern, Felgenreinigung inklusive): Sonntags kann die ihrer einzigen Funktion beraubte Architektur entlang des Boulevards nur eines nahelegen: Flucht. Nach links, nach rechts, egal. Nur weg. Doch gerade diesen Instinkt zu bekämpfen, um nur ein einziges Mal genauer hinzusehen, hat seinen besonderen Reiz.

Einst war er der Traum jedes anständigen Deutschen: der Wagen mit dem Stern. Heute scheint es in der Süderstraße, als ob der Zauber der Marke nur noch zu einigen Menschen südländischer Herkunft spräche. Zumindest treiben manche von ihnen einen schwunghaften Handel mit ausgemusterten Wagen dieses Typs, bevorzugt auch nach Übersee. Was für ein exotisches Nummernschild wohl diesen hier als nächstes zieren wird?

Was verband man nicht damals, zu Mercedes-Glanzzeiten, alles mit dem Automobil: Strahlend auf dem Weltmarkt tätige Aktiengesellschaften, die nach Made in Germany dufteten. In der Süderstraße geht es auch eine Nummer bescheidener, als GmbH. Oder noch bescheidener, als offene Handelsgesellschaft. Oder noch, noch bescheidener: als Great Cars GbR. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Nukleus allen Wirtschaftens: als Einmanngesellschaft. Hier kehrt das Automobil zu seinen Anfängen in der Garage zurück – ohne aber deshalb auf das Steve Jobs’sche “Great” verzichten zu wollen.

Ja, das Klima und das Auto – sie können nicht mit und nicht ohne einander. Wichtig ist aber doch auch ein Vertrauen erweckendes Verkaufsklima. Dieser Wieder-, Wieder-, Wiederverkäufer sorgt jedenfalls für Ordnung auf dem Kontakthof: Plastikstühle auf den Stapel, Autofelgen hübsch ins Hängeregal.

Was zur Sicherheit eigens hinter Gittern gehalten wird, das muss wohl über Mehrwert verfügen. Mehrwert durch Extras. Schade, dass man dieses Nummernschild im egalitären, jede Extravaganz ächtenden Deutschland nicht fahren darf – in den USA wäre das gegen einen geringen Aufpreis möglich.

Aber auch andere wilde Tiere werden in der Süderstraße weggesperrt. Ob der Freiheitsdrang dieses Kraftprotzes wohl groß genug wäre, Sonntagnachts zur Geisterstunde den Zaun einfach niederzuwalzen?

Am Ende läuft die automobile Welt der Süderstraße in größtmöglicher Bescheidenheit und Beschaulichkeit aus. Sonnenblumen im Verein mit der sonnengelb getünchten Fassade verleihen diesem Ort im herbstgrauen Hamburg etwas Südfranzösisches, vielleicht auch Toskanisches. Die Liebe zum gärtnerischen Detail taucht die Straßenfront der “Arja Autoverwertung Annahmestelle An- und Verkauf” in ein milde stimmendes Sonntagabendlicht. Und verrät, dass hier noch andere Werte kultiviert werden als nur automobile Alliterationen. Ein Leben jenseits des Autos? Geht doch!


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