Im Emotionsgewitter des Spitzenfußballs mischen Ideologen immer dreister mit. Stadien werden zu Arenen der politischen Indoktrinierung und zur Bühne für Korrektheitsgesten. Medien diktieren die richtige Haltung zum Spiel. Doch spätestens, wenn Fans oder Spieler vom Skript abweichen, verstrickt sich der Polit-Ball in seine inneren Widersprüche.
Zunächst eine Entwarnung: Sie müssen nicht Fußballfan sein, um aus dieser Geschichte die eine oder andere Erkenntnis zu ziehen. Der Fußball taucht hier nur als der berühmte Spiegel der Gesellschaft auf. Der zugrundeliegende Aufreger ist auch ohne Fußballwissen leicht zu verstehen: Kürzlich wurde in London König Charles III. gekrönt. Die Krönung fand an einem Wochenende statt, an dem auch zahlreiche Partien der höchsten englischen Fußballliga anstanden. Also empfahl der Fußballverband den austragenden Clubs „sehr nachdrücklich“, aus Anlass des historischen Datums in ihren Stadien vor dem Anstoß die Nationalhymne zu spielen. So geschah es, und nirgends hatte man damit ein Problem – außer im antiroyalistischen Liverpool. Dort buhten die Hardcore-Fans die Hymne nieder. Was in konservativen Kreisen gar nicht gut ankam.
Das nun wiederum rief zuverlässig den „Guardian“ auf den Plan – stets zur Stelle, wenn die regenbogenbunten Vorlieben der Champagnersozialisten verteidigt werden müssen. Wobei diese Zielgruppe dafür vermutlich eher das Wort „Menschrechte“ verwenden würde. Warum also haben die Liverpool-Fans völlig zu Recht gegen die Hymne protestiert? Guardian-Autor Jonathan Liew nimmt Zuflucht zu einem Zitat von Louis Armstrong. Der weise schwarze alte Mann erwiderte einst auf die Bitte, das Wesen des Jazz zu erklären: „Wenn du das fragen musst, wirst du es sowieso nie verstehen!“ Soll wohl heißen: Liverpool-Fans buhen bei der Nationalhymne, weil es … die Nationalhymne ist, stupid.
Um aber noch ein paar Worte mehr über das Thema zu verlieren, kam dem Guardian als personifiziertes Feindbild Peter Shilton gelegen. Der legendäre frühere England-Torwart mit dezidiert konservativem Weltbild war so unfreundlich, seine Meinung zum Thema Nationalhymne im Gespräch mit dem ehemaligen Brexit-Minister Jacob Rees-Mogg kundzutun, einem weiteren Watschenmann der Lefties. Und zu allem Überfluss sprachen beide im Fernsehsender GB News – einem Medium, vor dem die englischsprachige Version des Weltgewissens Wikipedia bereits im zweiten Absatz warnt, dass es „rechtslastig“ sei. Zum Verhalten der Liverpool-Fans sagte der emotional angefasste Shilton in dem Gespräch: „Wir haben Kriege geführt. Menschen sind gestorben, um das Land und seine Hymne zu verteidigen.“ Von daher sei es unvertretbar, dass eine kleine Minderheit im Stadion sie niedermache.
Shilton zieht aber auch wirklich alle Trigger, die beim Guardian Schaum vor dem Maul produzieren. Vor einigen Monaten hatte er im selben Sender auch noch mit dem Gottseibeiuns gesprochen: Nigel Farage, ehemals Chef der brexitfreundlichen UK Independence Party (UKIP) und heute Moderator bei GB News. Dürfen solche Kräfte die Deutungshoheit über das Thema „politische Beeinflussung des Fußballs“ erobern? Natürlich nicht. Denn Liew zufolge leben wir „in einer Zeit, in der das Sportstadion zunehmend als Protest-Arena genutzt wird, in einer Zeit, in der das Recht, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, in Frage gestellt und oft unterdrückt wird. Wem gehören diese Räume, und wer darf darin sprechen? Und – wichtiger noch – wer darf kontrollieren, was gesprochen wird?“
Die Frage stellt sich exakt so beispielsweise auch für Twitter, dessen Meinungskorridor bis zum Kauf durch Elon Musk vollständig und ausgeklügelt von links-woken Brigaden bewirtschaftet wurde – und nach dem Antritt einer neuen Twitter-Chefin mit WEF-Führungserfahrung vielleicht auch bald wieder wird. Es ist die Grundbedingung für die Werbemilliarden der US-Konzerne. Aber dasselbe Problem herrscht eben auch im Fußballstadion. Denn die Sportarena selbst mag unwichtig sein, höchstens Versammlungsort von ein paar Zehntausend Menschen, die ihre basalen Triebe abführen. Aber die Kameras übertragen von dort emotionale Bilder in Hunderte Millionen Wohnzimmer weltweit. Bilder, auf denen ebenfalls Werbebanner ohne Zahl zu sehen sind und die schon deshalb nur stubenreine, genehmigte Botschaften transportieren dürfen.
Von wem genehmigt? Das ist die Frage. Von den Inhabern der Macht im Staat und ihren Vasallen natürlich. Zu denen darf sich der traditionell labour-linke und neuerdings mit dem woken US-Kapital verbandelte Guardian im konservativen Königreich derzeit nicht zählen. „Einen Monarchen zu feiern, ist ein offen ideologischer Akt“, rügt Liew deswegen. So etwas gehe halt gar nicht, weil das royale Establishment durch das Abspielen der Hymne den einfachen, authentischen, unverbildeten Bauern Sozialisten Fußballfans die Anerkennung seiner Ideologie aufnötige. „Es handelt sich um einen Kampf um die Macht“, so Liew, „und das ist es immer gewesen: ein ewiges Tauziehen zwischen jenen, die den öffentlichen Raum kontrollieren und jenen, die ihn bevölkern; jenen, die dort Fakten schaffen und jenen, die seine Seele ausmachen.“
Zusammenfassen ließ sich die Haltung des Guardian also wie folgt: Die Ideologie der Macht hat im Stadion nichts zu suchen. Fußballfans – und natürlich auch Spieler – dürfen nicht zur Hinnahme von oder gar Teilnahme an politischen Glaubensbekenntnissen gezwungen werden, wie es Nationalhymnen nun einmal sind. Denn die verderben die reine Seele des Fußballs.
Bis dann plötzlich das Gegenteil gilt. Am vorvergangenen Wochenende fand in Frankreich das Erstligaspiel zwischen Toulouse und Nantes statt, allerdings ohne mehrere Stammspieler von Toulouse. Diese Spieler hatten sich geweigert, mit Rückennummern in Regenbobgenfarben aufzulaufen. Das wäre nach einem Beschluss des französischen Fußballverbandes an jenem Wochenende für alle Spieler in der ersten und zweiten Liga obligatorisch gewesen, und zwar als „Geste der Unterstützung für den Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie“.
Doch in Frankreich spielen besonders viele Profifußballer mit Wurzeln in muslimisch-arabischen Ländern, und die weigerten sich schlicht mitzumachen. „Ich halte Respekt als Wert in hohen Ehren“, erklärte der marokkanische Toulouse-Spieler Zakaria Aboukhlal. „Er erstreckt sich auf andere, aber umfasst auch meine persönlichen Überzeugungen. Und ich glaube nicht, dass ich besonders geeignet für die Teilnahme an dieser Kampagne bin.“
Oh je, Guardian! Wie nun über dieses Vorkommnis schreiben? Muss man die Verweigerungshaltung anprangern, weil man selbstverständlich Anwalt der LGBTQ+/-Kämpfer*innen*ex ist? Oder muss man die Verweigerer loben, weil man ebenso selbstverständlich für die von weißen Kolonialisten und Rassisten geschundene Ehre der Muslime eintritt? Oder müsste man nicht wieder denselben Maßstab anlegen wie bei König Karl und sich auf den Standpunkt stellen, dass jedwede ideologische Einmischung in den ursprünglich unpolitischen Fußball als Übergriffigkeit zu verurteilen ist?
Im Pressehaus schien man sich aus der Affäre ziehen zu wollen, indem man dieses eine Mal weitgehend unkommentiert berichtete. Doch dann, am vergangenen Freitag, legte die Redaktion nach. Fazit der länglichen Analyse ihres französischen Korrespondenten: „Fußballspiele als Plattform für den Kampf gegen Homophobie zu nutzen, bleibt so wichtig wie eh und je.“ Und zwar gerade wegen des „Rainbow Shirt Fiasco“. Dass eine politische Propagandashow im Debakel endete, beweist mit anderen Worten ihre Notwendigkeit.
Überhaupt haben die Fußballjournalisten des Guardian umgeschult: Sie sind jetzt in erster Linie Erklärbären in Sachen politischer Etikette. Jeder dritte Beitrag handelt inzwischen nicht mehr von Spielgeschehen und Tabellen, sondern von „Diskriminierung“ wechselnder Minderheiten, von mutigen Coming-Outs, von rassistischen Beschimpfungen in den Stadien und der Forderung nach angemessenen Strafen für die weißen Täter, sowie natürlich vom „Gender Paygap“ im englischen Frauenfußball – und dem notwendigen Wechsel von weißen zu blauen Nationaltrikothosen. Die Farbe Blau gibt nämlich ein größeres Sicherheitsgefühl während der Periode.
Wichtig und eine lange Erörterung wert auch, dass sich Gegenspielerinnen „nach einem gemeinsamen Arbeitstag“ noch auf dem Rasen küssen dürfen, weil sie im sonstigen Leben Partnerinnen sind. Skurril das Plädoyer, Newcastle-Fans sollten sich nicht als Scheichs verkleiden, weil das die neuen Eigentümer des Clubs aus Saudi-Arabien herabwürdige. Unvergessen die bis heute weiterschwelende Guardian-Kolumne des deutschen Ex-Weltmeisters Philipp Lahm, in druckfähige Worte gefasst von einem „Zeit“-Journalisten. Darin machte sich der Avatar des Nationalverteidigers unter anderem für eine turbokapitalistische „European Super League“ stark – ausgerechnet wegen „Vielfalt“. Und natürlich für den gemeinsamen antirassistischen Kniefall vor Spielbeginn, ohnehin für jeden Guardian-Fußballkommentator eine Standardsituation, die im Live-Ticker jedesmal mit einem ausführlichen Aufruf zum Haltungzeigen verbunden wird.
Da muss es wohl ein gesellschaftlicher Rückfall ins 19. Jahrhundert sein, dass das „Taking the Knee“ nach anhaltenden Buhrufen unerziehbarer Fans inzwischen kaum noch praktiziert wird. Aber wie wir ja nun wissen, ist es das gute Recht der Fans zu buhen, um sich nicht von politischen Gesten vereinnahmen zu lassen. Falls es Liverpool-Fans sind. Und falls es gegen die Hymne geht.
In seinem Interview mit Nigel Farage hatte Torwart Shilton übrigens gesagt, er sei gegen den demonstrativen Kniefall vor Spielbeginn als Zeichen des Antirassismus. Es gebe im englischen Fußball „kein schwerwiegendes Rassenproblem“, bei vielen Partien seien die Kader „voller schwarzer Spieler“. Womit er einen brisanten sozialen Gegensatz berührte, der im Guardian und all den anderen linksliberalen Massenmedien indes geflissentlich tabuisiert wird: Die Hardcore-Fans in den Fußballstadien des nördlichen Europas – besonders in England – kommen nach wie vor überwiegend aus den weißen Unter- bis Mittelschichten, deren Existenzgrundlage immer prekärer wird. Die elitären Kicker dort unten im Rampenlicht auf dem Rasen hingegen, allesamt Millionäre, sind immer häufiger dunkelhäutig.
Was diese Fans erfahren, ist also eine kognitive Dissonanz. Denn der gemeinsame Kniefall der Spieler im Mittelkreis vor dem Anstoß soll ja sagen: Es sind Schwarze, die benachteiligt werden. Verwundert es, dass diese Ultras instinktiv gegen das „knee“ revoltieren? Während ihre Buhrufe von interessierter Seite als Rassismus gebrandmarkt werden, sind sie viel eher ein Reflex der eigenen Marginalisierung, gegen die sich keine Lobby am Mittelkreis in Pose wirft. Hier macht sich nicht in erster Linie eine Rasse, sondern eine Klasse Luft – gegen eine Symbolik, die sie als Schlag ins Gesicht empfindet. Klassenkampf im Stadion: eigentlich ein unwiderstehliches Narrativ für den linken Guardian, wie der Fall Nationalhymne bewies. Doch hier schweigen die Politkommissare.
Interessanterweise erkennt auch Guardian-Autor Liew, dass die Debatte etwas mit doppelten Maßstäben zu tun hat – in seinen Augen allerdings nur bei der vergleichsweise harmlosen Problematik der Hymne. Kleingeistig-konservative Fans der englischen Fußballnationalmannschaft erklären nämlich angeblich ihre eigene Hymne zum Heiligtum, während sie sich „das Recht herausnehmen, die Hymnen der anderen 208 Nationen auf der Welt auszubuhen“. Vielleicht liegt es ja daran, dass im ritualisierten Stammeskrieg namens Fußball das Eigene höher geschätzt wird als das Fremde. Das letztlich macht die einzigartige Fußballtradition aus, auf der die Milliardenwerte von „Vereinsmarken“ gründen. Ideologische Eingriffe in diese Tradition geschehen auf eigene Gefahr.
Die Leser des Guardian durften, nebenbei, unter keinem der zitierten Artikel kommentieren und diskutieren – wie stets, wenn von der Redaktion ein heftiger Moderationsbedarf vorausgesehen wird und die Gefahr droht, dass dem Blatt die eigenen Argumente um die Ohren fliegen könnten. Eine Ausnahme bildete anfangs nur die Kolumne unter dem Markennamen „Philipp Lahm“. Doch nach Hunderten spöttischer bis vernichtender Leserreaktionen werden auch seine Texte längst von Kommentaren des Publikums freigehalten. Diese Art von Meinungs-Freiheit ist es, in der Politik im Fußball am besten gedeiht.
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