Da draußen gibt es Einnahmequellen, die wir im 21. Jahrhundert nicht mehr auf der Rechnung hatten. Aber sie sprudeln trotzdem immer weiter. TWASBO besucht längst totgesagte Märkte, die vermutlich ewig leben.
Doch, ja, natürlich gibt es Litfaßsäulen im 21. Jahrhundert, eine Menge sogar. Vielleicht mehr denn je. Es sind hochglänzend verglaste, inwendig langsam rotierende, gleißend hintergrundbeleuchtete Monstren der sterilen Straßenrandmöblierung, und genau deshalb werden sie von mir ignoriert.
Diese Werbepuff-Mutanten, diese vollverspiegelten Reklame-Androiden sind allerhöchstens illegitime Nachkommen der eigentlichen, klassischen Litfaßsäule (Abbildung), die sich nicht dreht und nicht blinkt und einem nicht hinterrücks nachläuft und die es aus vielerlei Gründen zu feiern gilt.
Erstens begeht die Litfaßsäule dieses Jahr ihr 160. Jubiläum. Nur ganz wenige Menschen, die so rund sind, werden so alt. Es war 1855, als im Namen ihres Berliner Erfinders, des Druckers Ernst Litfaß, in dessen Heimatstadt die ersten Exemplare aufgestellt wurden (wie übrigens auch die erste Ampel und die erste U-Bahn in Berlin zu bestaunen waren; wohingegen die erste asphaltierte Straße Deutschlands unser Hamburger Jungfernstieg war).
Zweitens resultiert aus dieser Genesis auch die Benamsung der Säule, und die wiederum hat den besonderen Charme, dass sie die Duden-Rechtschreibung durcheinanderbringt. Ich darf mal kurz zitieren:
„Die Regel, dass nach einem kurzen Vokal -ss zu schreiben ist, gilt für das Substantiv Litfaßsäule nicht. Das Wort geht zurück auf den Namen des Erfinders, des Buchdruckers Ernst Litfaß, und Personennamen sind von den allgemeinen Rechtschreibregeln nicht betroffen, sie bleiben in der Regel unverändert.“
Jaaaaa, höre ich die Orthographiepriester unter den TWASBO-Lesern aufschreien, aber in der Überschrift steht LITFASSSÄULE mit drei S!
Richtig, Ihr Orthographiepriester, also eben eigentlich: falsch! Kann ich aber nichts gegen tun, mein WordPress-Layout setzt die Headline automatisch in Majuskeln, da geht halt nur SSS, solange das große „ß“ sich nicht endlich etabliert hat, was ich seit Ewigkeiten fordere.
Doch genug davon, der eigentliche Feier- und Existenzgrund der Litfaßsäule ist nämlich Grund Nummer 3: Was da alles beworben wird!
Angenommen, Sie sind arbeitslos und möchten etwas dagegen tun. Im Leben nicht werden Sie eine zu diesem Wunsch passende Beratungstelefonnummer im Werbefernsehen oder im Internet eingespielt bekommen. Also runter vom Sofa, raus auf die Straße, einmal in frischer Luft um den Block flaniert und vor der Litfaßsäule zur Salzsäule erstarrt! Da steht sie ja, genau die Nummer, die Ihr Leben zum Besseren verändern wird!
Oder Sie möchten sich als Pierre-Brice-Nachfolger bewerben und wissen bloß gerade nicht, wo die berühmten Bad Segeberger Karl-May-Festspiele stattfinden. Da, an der Säule, steht es ja! In Bad Segeberg!
Interessant übrigens auch die weißen Flecken auf der Säule, die bei längerem Davor-Verweilen leise flüstern: „Sommerloch, Sommerloch, weitergeh’n, hier gibt’s nichts zu seh’n! Komm’se gern im Frühherbst wieder!“
Ich werde das jetzt absichtlich nicht googeln, um nicht enttäuscht zusammenzusacken, aber ich wünsche mir in jeder Stadt ein Litfaßsäulenplakatierungshauptamt mit einem ergrauten Hauptamtsleiter, bei dem man seine zu plakatierenden Litfaßsäulenplakate zwecks inhaltlicher und formaler Prüfung einzureichen hat.
Nach bestandener Sichtung („So so, junger Mann, Sie möchten also für eine Damen-Schlammcatchen-Belustigung werben! Na, Sie sind mir ja ein Filou. Aber woll’mer mal nicht so sein, was! War ja auch mal jung! Gehen Sie, kleben Sie, und viel Erfolg auch auf Ihrem weiteren Lebensweg!“) entrichtet man seinen Obolus, erhält einen Stempel und darf dann also mit Leiter und Quast zum Anleimen schreiten. Herrlich würdevoll und urban-souverän.
Litfaßsäulen. Ein Spiegel unserer zunehmend bunten Gesellschaft. Gar nicht wegzudenken aus dem 21. Jahrhundert.
*) Nachtrag: Ein kleines Wunder! In der Version für Mobiltelefone überträgt mein WordPress-Layout das SS in der groß geschriebenen Litfaßsäulen-Headline selbstständig in ein (großes?) „ß“!
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Ich muss sagen, dass ich von diesem Artikel über die Litfaßsäule wirklich berührt war. Es hat mich an meine Kindheit erinnert, als ich die bunten Plakate an diesen Säulen bewunderte. Die Tatsache, dass die Litfaßsäule dieses Jahr ihr 160. Jubiläum feiert, ist wirklich beeindruckend. Als Marketingfachfrau kann ich bestätigen, dass diese Säulen trotz ihrer langen Geschichte immer noch eine effektive Werbeplattform sind. Ich habe kürzlich eine Kampagne auf einer solchen Säule gestartet und war überwältigt von der positiven Resonanz. Es ist erstaunlich, wie ein so traditionelles Werbemittel immer noch so relevant sein kann. Ich glaube, dass die Litfaßsäule ein Symbol für die Zeitlosigkeit guter Werbung ist.
Ähm, das ist ja alles sehr interessant, aber haben Sie bemerkt, dass der Artikel von 2015 ist? *Damals* war das 160. Jubliäum der Säule! Heute ist sie somit schon 168 Jährchen alt … was Ihre Argumente ja eher nur noch bestätigt.
Übrigens, Alex Finsterbusch: Dieser anderswo abgegebene Kommentar von Ihnen, einer von überraschend vielen in überraschend vielen Blogs, ist ebenfalls sehr informativ: „Der Artikel über das Ende der Litfaßsäulen ist sehr interessant und nostalgisch. Er erzählt die Geschichte und die Bedeutung dieser besonderen Werbeträger. Er erklärt auch, warum sie immer seltener werden und was mit ihnen passiert. Ich habe selbst eine besondere Beziehung zu den Litfaßsäulen. Ich bin Grafiker von Beruf und habe schon einige Plakate für sie entworfen. Ich finde es schade, dass sie verschwinden, denn sie sind ein Teil der Stadtgeschichte und der Kultur. Ich hoffe, dass sie nicht ganz aus dem Stadtbild verschwinden.“
Finden Sie auch, Alex Finsterbusch, dass Chatbots Litfasssäulen nicht ersetzen können?