Das hier ist kein Crack House in der Bronx der Achtzigerjahre, sondern ein leerstehendes Ladenlokal in Stuttgart-Sonnenberg, Sommer 2014. Mit diesem baulichen Überbleibsel, an dem ich kürzlich vorbeikam, hat es eine zweifache Bewandtnis. Dies war – bis Ende vergangenen Jahres – Toms Laden. Ich habe Tom nie gekannt oder auch nur von seiner Existenz gewusst, habe diese Bruchbude nie zuvor gesehen, bin bis dahin überhaupt erst einmal in meinem Leben bewusst in Stuttgart gewesen.

Aber ich glaube daran, dass es einen Geist der Orte gibt. Genius Loci, wie Bildungsbürger sagen.

Je länger ein Haus steht, je intensiver darin gelebt und gearbeitet wird, desto konkreter und dem Ort entsprechender wird auch sein Geist: böse, gut, musisch, friedlich, hoffnungslos, anregend, wahnsinnig, gesellig, bedrohlich … Für diese prägenden Eigenschaften ist es unerheblich, wie prächtig oder schäbig das Haus rein äußerlich ist. Der Genius Loci kann nicht nur die Menschen, die den Ort bevölkert haben, durchaus überdauern, sondern auch das Gebäude selbst, sein leeres Gefäß.

Das ist als These jetzt natürlich ein wenig spooky, ein wenig weird, ein wenig eso – aber ich habe in meinem Leben genügend Beispiele dafür kennengelernt, bis hin zu meinem eigenen Elternhaus, doch das ist eine andere Geschichte.

Toms Laden also. Tom handelte hiermit:

Books, das ist ein altes englisches Wort und bedeutete „Bücher“. Bücher waren in vergangenen Zeiten ein Handelsgut. Man kaufte und verkaufte sie in sogenannnten Buchläden. Buchhändler zu sein, machte nicht reich, aber es war ein geehrter und geachteter Beruf, fast schon eine Berufung. So ähnlich wie Lehrer. Oder Pastor. Oder Bürgermeister.

Denn die Menschen waren auf diese Experten angewiesen. Man muss sich das vorstellen: Alles, was heute körper- und gewichtslos im Netz steht, bis es vielleicht eines Tages gnädig gelöscht wird, war früher mit Druckerschwärze auf Buchseiten aus Papier gedruckt. Wollte man einen gerade gesuchten Inhalt finden, musste man zum Buchhändler gehen. Man konnte Bücher übrigens auch nicht einfach löschen, sondern musste die dicken Papierbündel schon ins Altpapier tragen oder verbrennen, was schneller ging, aber Emissionen und manchmal schwere kulturelle Sündenfälle verursachte.

Jedenfalls, Tom war Buchhändler. Das heißt, zunächst war er Soldat der US-Armee gewesen und irgendwann zur Zeit des Vietnamkriegs in Stuttgart gestrandet. Viele Jahre arbeitete er dann bei den Stuttgarter Straßenbahnen, von denen einige bis heute genau vor diesem leerstehenden Laden vorbeirattern. Und wie um ihnen weiterhin nahe zu sein, saß draußen vor diesem Fenster, neben der heute verschlossenen Gittertür, wenn gerade keine Kunden zu bedienen waren, Tom – ein Buch lesend.

Seiner Herkunft geschuldet, waren Toms Bücher solche in englischer Sprache. Und viele davon waren sehr, sehr billig. Sie kosteten zwei Mark (eine alte Währung, die kurioserweise nur in Deutschland galt.) Im Jahr 2002, als der Euro eingeführt wurde, musste Tom kurz von seiner Lektüre aufblicken, denn er hatte etwas Geschäftliches zu erledigen. Etwas Strategisches, könnte man sagen. Er war von einer höheren Macht gezwungen worden, seine Bücher mit neuen Preisen für ein neues Zeitalter auszuzeichnen. Nachdem er überlegt hatte, wie er dies unter möglichst wenig Verzicht auf Lesezeit vor seinem Haus tun konnte, fand er eine überraschend einfache Lösung:

Kam eine neue Lieferung Bücher, war Tom schon Tage zuvor im doppelten Sinne aus dem Häuschen – wie ein kleiner Junge vor der Bescherung. Ging ein Großvater mit seinem Enkelkind am Laden vorbei, erhielt das Kind jedes Mal ein Buch von ihm geschenkt. Die Menschen im Stuttgarter Süden liebten ihn für diese großzügige Kindlichkeit, die dem strengen und sparsamen schwäbischen Naturell so entgegengesetzt erschien.

Doch dann, schleichend, kam eine Herausforderung, der Tom nicht mehr viel entgegenzusetzen hatte: das Internet. Es ließ auf seinem Weg Buchladen um Buchladen schließen, und es war absehbar, dass es auf seinem Durchmarsch auch vor Stuttgarter Originalen nicht Halt machen würde.

So schlug Tom, der Buchhändler, dem Internet ein allerletztes Schnippchen. Er war noch einmal schneller, indem er starb. Im November 2013, immer noch aktiver Buchhändler in der Sonnenberger Rembrandtstraße, kam er im Alter von 77 Jahren dem Schließungsbefehl durch das Internet zuvor. Nur etwa 100 Meter von diesem Ort entfernt wurde seine Asche auf dem Neuen Friedhof Degerloch beigesetzt.

Wie gesagt, ich weiß das alles nicht durch eigenes Erleben. Aber an der vergitterten und angesichts des baulichen Zustands wohl für immer verschlossenen Tür des leerstehenden Buchladens von Tom Mueller hing ein Zeitungsartikel, den jemand dort mit Tesafilm an die Scheibe geklebt hat.

Tom Mueller, der Buchhändler, hat im Stadtteil eine Menge Sympathien hinterlassen. Der Genius Loci des englischen Buchladens in der Rembrandtstraße ist damit ein ganzes Stück lebendiger als das orts- und ruhelose Gespenst von Amazon. Und er kann auch viel schöner erzählen.


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