Ein Berliner Blogger wütet gegen die Erbärmlichkeit der spätkapitalistischen Existenz – und den eigenen Arbeitgeber, den er nie verlassen würde. Ist das nicht irgendwie inkonsequent? Versuch eines Interviews.

Gesellschaftskritik kann man als Lehrerfortbildung verpacken, wie in der „Zeit“. Oder aggressiv, anarchistisch, mit tödlichem Witz und zahlreichen F-Wörtern, wie im Kiezneurotiker. Der in Berlin-Prenzlauer Berg lebende „Mike Stevenson“ filetiert in seinem Blog inkompetente Bürokraten, schnöselige Mitte-Mütter, gierige Spekulanten, bröckelnde Schulen, den täglichen Nepp in der neoliberalen Kampfzone namens Gesellschaft. 

Über niemanden aber zieht der Autor im Schutz der Anonymität gnadenloser her als über seinen Arbeitgeber. Der erscheint als faschistoid-konformistischer Heuschreckenkonzern, Borgwürfel genannt. Gegen dieses in einer nicht genannten Branche asozial vor sich hin wirtschaftende Unternehmen wirkt Bernd Strombergs fröhliche Versicherungshölle wie das Arbeiterparadies auf Erden.

Allerdings vesorgt der Borgwürfel den Kiezneurotiker, der im Unterschied zu seinen Arbeitskollegen über Straßenerfahrung als obdachloser Schnorrer verfügt, mit einem für Berliner Verhältnisse großzügigen Gehalt. Davon kann der alleinerziehende Vater mit seinem Kind leben, ohne jeden Euro umdrehen zu müssen. Und so macht er in der Firma die verlogenen Rituale des verhassten Job-Kollektivs mit und kämpft öffentlich den Kampf des Kapitals, ohne je aus der zur Perfektion eingeübten Rolle zu fallen.

Umso mehr im anonymen Blog. Wie vereinbart man das Unvereinbare von Lohnsklavendasein und literarischer Rebellion, von (a-)sozialer Assimilierung, Vaterschaftsverantwortung und Ich-Verteidigung? Oder muss man das gar nicht vereinbaren? Und warum führt der gärende Zorn bei den Millionen Mike Stevensons im Land nie zur Revolution? Eine Email-Korrespondenz.

Warnung, Leser: Langer Text. Viele böse Wörter. There will be blood. Wer sich auf ein Interview mit einem Experten für blanke (statt passiver) Aggression einlässt, kann nicht erwarten, das Gespräch zu „führen“.

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Oliver Driesen (OD): „Stevenson“, so heißt doch seit der Erfindung der Dampfmaschine kein Mensch mehr in der Arbeitswelt. Bis auf einen, den ich im Netz finden konnte: Auf XING gibt jemand an, für Novartis in Berlin als „Quality Trainer“ tätig zu sein und Fähigkeiten wie „work culture improvement“ oder „process mapping“ zu haben.

Mike Stevenson (MS): Quality Trainer klingt großartig. Die größte Bullshitjobbeschreibung aller Zeiten. Ich könnte eine Hackfresse bei KPMG sein. Ein Mutant von PriceWaterhouseCoopers. Oder ein schäbiger Freelance-Unternehmensberater mit BWL von der Fernuni. Ein dreckiger kleiner Optimierer. Ich finde diesen Mike Stevenson hier übrigens ziemlich gut: „Long before he became a paranormal investigator, he had many experiences of both the paranormal and spiritual in nature“. Großartig, oder? Und erst das Foto. Besser wird es nicht mehr. I’m afraid of no ghosts.

OD: Sie zitieren Ghostbusters, einen Film von 1984. Wie alt sind Sie eigentlich? Ich schätze mal 33, höchstens 35.

MS: Ehrlich, Herr Driesen, die Frage nach dem Alter müssen Sie geschickter angehen. Fragen Sie, ob ich Abi gemacht habe und ob Gerhard Schröder da gerade Kanzler geworden ist. Oder abgewählt wurde. Oder Stoiber sich zur Kandidatur gestottert hat. Inwieweit mich die Agenda 2010 dazu bewogen hat, Zivildienst zu machen. Ob das als Staatsbürger nicht bräsig macht, wenn man als Erwachsener immer nur Angela Merkel hatte. Einfach so „Ich wette, Sie sind 33, maximal 35“ als lecker Frolic hinzuwerfen, ist zu plump. Da spring ich nicht, sondern lecke mir mein linkes Ei. Es hängt tiefer als mein rechtes. Da komm ich ran.

OD: Haben Sie übrigens Abi gemacht? Als Gerhard Schröder gerade Kanzler geworden ist, oder als er abgewählt wurde? Oder als Stoiber sich zur Kandidatur gestottert hat? Inwieweit hat Sie die Agenda 2010 dazu …

MS: 54, 74, 90, 2010. Was ist schon das Alter. Hauptsache, ich hab‘ Abitur. 🙂

OD: Ihr Smiley ist ja drollig! So ein freundliches Emoticon hätte ich von Ihnen nicht erwartet, eher von den Cupcake-Muttis aus dem Borgwürfel, zu deren Backwaren-Meetings Sie ab und zu mitgeschleift werden und über die Sie dann Vernichtendes bloggen.

MS: 🙂 🙁 😛 glg ^^ hdgdl. Kein Problem, das haben wir komplett drauf, die ganze Cupcakemütterscheiße, wobei: Cupcake ist durch, genauso wie Karottenkuchen. Jetzt fressen sie alle New York Cheesecake. Mit drei Schichten. Und Himbeere oder Blaubeere obendrauf, je nach Saison.

OD: In der Blog-Rubrik „Borgwürfel“ geht es nicht nur um Cheesecake, sondern um noch ganz andere Abgründe von Menschen, mit denen Sie zur täglichen Teamarbeit verdammt sind. Was würde passieren, wenn Sie als Autor geoutet würden?

Biste einmal aus der Gruppe Haifische ausgeschissen, kannste im Prinzip kündigen.

MS: Sie würden mich vermutlich nicht rausschmeißen, ich nenne ja keine Namen, aber das Standing wäre dahin. Nestbeschmutzer ist man schnell und biste einmal aus der Gruppe Haifische ausgeschissen, kannste im Prinzip kündigen. Und dann haben wir von den Drogen-, Suff- und Fickgeschichten noch gar nicht angefangen. Ich wäre in jeder Hinsicht sozial erledigt. So einen Blog können Sie nur anonym machen. Ich erzähle dort Dinge, die ich nicht mal meinen besten Freunden nach einer Flasche Bowmore erzähle.

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OD: Was hat den Anstoß zum Kiezneurotiker-Blog gegeben?

MS: Dass ich überhaupt mit dem Schreiben angefangen habe, war ein Vorschlag meiner Therapeutin. Ein guter Vorschlag. Das Schreiben kanalisiert den Wust, die ganzen Widersprüche, die tickenden Bomben, diesen ganzen Unrat, den ich mitschleppe und der manchmal eine große Last ist. Wenn ich schreibe, ist das weg. Das Hirn ist frei. Es ist abgelutscht, aber ich schreibe das alles tatsächlich für mich.

OD: Mit Verlaub, ins Internet schreiben Sie nur aus einem Grund: weil Sie ein soziales Wesen sind und Rückmeldung brauchen.

MS: Soziales Wesen? Nein. Nicht im Internet. Das Internet ist maximal unsozial, behauptet aber ständig, das Gegenteil zu sein. Ich brauche kein Lob. Lob macht mich misstrauisch. Wenn jemand lobt, will er immer irgendwas. Im Zweifel nur eine stumpfe Wiederholung dessen, was ihm gefallen hat. Doch das mit der Rückmeldung stimmt schon. Nennen wir es Reaktion. Ich mag es, wenn Leute aus sich rausgehen. Mal die Maske fallen lassen. Die Contenance verlieren.

OD: Es gibt Millionen Mike Stevensons im Land, Millionen brodelnde Pulverfässer in Tausenden Borgwürfeln, die nie die Maske fallen lassen, nie die Contenance verlieren. Warum machen die als Gesamtheit nicht einfach kaputt, was sie kaputt macht?

MS: Weil es keine mögliche gesellschaftliche Alternative mehr gibt. Niemand weiß mehr, wie es anders gehen soll. Die Alternativlosigkeit liegt wie Blei über dem Land und stumpft Gehirne ab. Und ja, natürlich zahlen sie kein übles Schmerzensgeld. Als Kompensation für ihren beschissenen Gesellschaftsentwurf, der das Konkurrenzdenken bis tief hinein in Schulen, Universitäten und alle Seelen getragen hat, ein Gesellschaftsentwurf, der das Schlechteste in den Menschen hervorholt und belohnt.

OD: Wenn es das Kind nicht gäbe, wären Sie dann je in den Borgwürfel eingestiegen? Gibt es irgendein Szenario, wo Sie trotz Kind wieder aussteigen und in ein besser erträgliches Arbeitsumfeld gelangen könnten, das Sie beide trotzdem ernährt?

Ich bin so vergiftet, dass mich das giftige Klima beruhigt, weil ich wenigstens weiß, wie es funktioniert.

MS: Ja, ich wäre auch ohne Kind eingestiegen. Ich kann nur so etwas. Ich bin ein knallharter Verhandler, ziehe Dinge aus dem Nichts hoch, wenn sie schnell hochgezogen werden müssen, und löse schwierige Probleme, wenn schnell schwierige Probleme gelöst werden müssen. Ich habe sonst keine Talente als die, für die sie mich bezahlen. Ich habe nicht einmal das Talent zum Taxifahrer (vor allem, weil ich vermutlich dem ersten, der mir ins Taxi kotzt, aufs Maul hauen würde).

Und daher auch nein, ich steige nicht aus. Wenn sie da drin sind und schwimmen gelernt haben, ohne sich von den anderen unter Wasser ziehen zu lassen, versaut Sie der ganze Zirkus irgendwann auch mental. Sie werden chronisch misstrauisch und vermuten hinter jeder Nettigkeit einen doppelten Boden, eine Falle oder einen Dolch. Ich bin so vergiftet, dass mich das giftige Klima beruhigt, weil ich wenigstens weiß, wie es funktioniert. Ich glaube, ich könnte gar nicht mehr in einem Umfeld arbeiten, in dem sich die Menschen gut behandeln.

OD: Was hoffen Sie, wie das Kind später mal lebt und arbeitet?

MS: Was das Kind für einen Beruf wählen wird, werde ich nicht aktiv beeinflussen. Das Kind macht seinen Weg. Ich bin bei sowas womöglich auch keine gute Hilfe. Meine Aufgabe ist es, das Kind stark zu machen und dennoch zu vermitteln, dass Stärke eine Verantwortung für jene impliziert, die nicht so stark sind. Dass wir, wenn wir stark sind, die Schwächeren mitziehen müssen. Und zwar ausschließlich dort wo wir es können. Wo wir Dinge beeinflussen können. Wo es was bringt.

OD: Habe ich das nur geträumt oder gab es, bevor der Borgwürfel eine Drohne einen Menschen aus Ihnen gemacht hat, eine Punk-Phase in Ihrem Lebenslauf? Die müssten Sie mir bitte in einfachen Sätzen für genetisch veranlagte Kleinbürger erläutern. Und ob aus der Zeit Ihr Kind stammt.

MS: Was ist ein Punk? Ist ein Punk jemand, der Punkmusik hört? Check. Jemand, der am Rand aller Gesellschaften steht und den außer den Vertretern anderer Minderheiten keiner haben will? Check. Jemand, der von der Schule geflogen ist, weil er alles mögliche kaputt gemacht hat? Check. Einer ohne feste Wohnung, der am Bahnhof steht und schnorrt? Check. Jemand aus einem beschissenen Elternhaus, der bei der ersten Gelegenheit seine Sachen gepackt hat? Check. Jemand, dem alles egal ist? Kein Check. Nicht ein Stück. Und deshalb wohl auch kein Punk. Wann ich das Kind gezeugt habe? Spielt keine Rolle. Hat im Internet nix verloren.

OD: Aber wieso bloß ist Ihnen, offenbar unabhängig vom Kind, überhaupt nicht alles egal? Das passt nicht ins Narrativ. Ist das wieder hochgepopptes Erbgut vom Urgroßvater mütterlicherseits, gegen das Sie sich nicht wehren können?

MS: Ich sage Ihnen mal, was mir so alles nicht egal ist. Daraus ergibt sich dann das ‚Wieso‘. Mir ist der Penner nicht egal, dem das Leben so sehr in die Beine gegrätscht ist, dass er eben, im Vergleich zu stärkeren Menschen, nicht mehr aufgestanden, sondern einfach liegengeblieben ist. Mir ist es nicht egal, wenn Menschen, egal ob sie jahrelang gearbeitet haben, nach einem Jahr in die Hartz IV-Knochenmühle gesteckt werden. Mich lässt die ganze soziale Schieflage des neoliberal völlig verseuchten Landes überhaupt nicht kalt.

Während der ersten Blockupy-Proteste in Frankfurt vor ein paar Jahren stand ich in einem der zum Speien hässlichen Glasborgwürfel bei einem Empfang herum. Draußen demonstrierten die anderen, denen die Dinge nicht egal sind. Drinnen sagte einer nur halb im Scherz zu mir: „Jetzt ist soweit, jetzt kommen sie und holen uns“, worauf ich nur sagte: „Nee, hier ist doch Deutschland“ und ein paar Lacher dafür einfuhr. Doch wenn Sie genau in die Zwischentöne hören, merken Sie, dass da ganz viel schlechtes Gewissen mit bei ist. In Wahrheit haben nicht wenige von denen ganz schön Angst, wenn die, die sie verarschen und von denen sie zecken, vor ihren Palästen demonstrieren. Ich fand Blockupy im Gegensatz zu unserer servilen Medienlandschaft sehr cool, und bevor Sie fragen…

OD: Ah, eine meiner Lieblingswendungen des Establishments gegenüber uns Journalistenpack: „Bevor Sie fragen.“ Der Interviewte weiß schon, was so einer als nächstes fragen wird. Weil das ja so durchsichtig ist. Und damit man es dann auch sicher beantworten kann.

MS: …Ich habe mich bei der ersten Möglichkeit dazugestellt. So etwas ist mir nicht egal. Ich gehe immer noch zu Demonstrationen. Einige Anliegen sind mir nicht egal. Gegen Rechts. Gegen TTIP. Gegen Bonzen. Für die Schwächeren, die sich nicht wehren können. Im Zweifel für Unten. Gegen Oben. Für so etwas Altmodisches wie Solidarität.

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OD: So, verstanden. Wirklich, schon beim ersten Beispiel, spätestens aber beim dritten. Ich finde allerdings nicht, dass sich das „Wieso“ daraus erklärt. Wieso ist Ihnen das alles nicht egal? Weil alle Ihre Anliegen immanent gut, wahr und richtig sind? Weil Sie ein guter Mensch sind, die anderen aber nicht?

MS: Sehr gut, jetzt werden Sie endlich zornig. Das ist gut so. Sie sind sonst immer so spröde, es klingt immer alles so vernünftig bei Ihnen, so abgeklärt, immer mit dieser Behäbigkeit, Netz und fünffachem Boden. Sie haben wie alle anderen immer diese verklemmte Angst, jemanden zu verletzen. Das ist womöglich bereits eine Auswirkung dieser Safe-Space-Kuschelteddy-Mode, in der sich Sie und die anderen mit Watte bewerfen und die dann trotzdem noch eine Mikroaggression ist.

Ich kann so oft ‚Ficken‘ schreiben wie ich will, da passiert gar nix. Bei Ihnen ist das anders.

Aber ja, ich versteh’s doch! Sie stehen mit Ihrem Namen und Ihrem Gesicht für Ihr Zeug ein, während Ihnen gegenüber ein anonymer Troll aus dem Internet narrenfrei rauskloppen kann, was er will, ohne dass es irgendwelche Folgen für sein echtes Leben hat. Ich kann so oft ‚Ficken‘ schreiben wie ich will, da passiert gar nix. Bei Ihnen ist das anders. Sie schreiben einmal ‚Ficken‘ oder ‚Fotze‘ und jeder Personaler, dem Sie jemals begegnen werden, wird Sie fragen: „Sagen Sie mal, Herr Driesen, was war denn da los?“ Und noch während Sie im Fahrstuhl den Knopf Richtung Erdgeschoss drücken, wird er seine Praktikantin die Ablehnung schreiben lassen.

OD: Aber wenn der anonyme Troll aus dem Internet dann im Interview das Gefühl hat, er habe gerade möglicherweise anonym zu Straftaten aufgerufen, so dass man ihn aus der Anonymität zerren und zur Verantwortung ziehen könnte, dann kneift er ganz schnell und zieht die Passage zurück. Unaufgefordert, vorauseilend. Denn sonst passiert möglicherweise wohl was, eine Menge sogar. Die Grandiosität, die Sie sich da zuschreiben, dass Ihnen als wildem Kerl im Gegensatz zu mir nichts passieren kann, ist also durchaus limitiert.

MS: Na sicher ist die Grandiosität limitiert. Sie haben ja Recht. Nur hat darauf zu achten nichts mit kneifen zu tun, sondern mit Vorsicht. Jemand, der einen anderen aus der Reserve locken möchte, um ihn zu demaskieren, was ihm zwangsläufig schaden würde, darf das gerne anders sehen. Ohne die Umstände und das Talent vergleichen zu wollen: Kennen Sie Elena Ferrante? Finden Sie es gut, dass sie jetzt Anita Raja heißt?

Ehrlich, wie Sie da von Ihrer Webseite schmunzeln. Ich mag Sie. Viele dürften Sie mögen. Sie würden in einem Borgwürfel gut überleben.

Die ganze Herrlichkeit der anonymen Grandiosität wird sogar noch mehr limitiert werden. Sie werden der Gewinner sein, Herr Driesen. Es wird irgendwann nur noch Typen wie Sie im Internet geben. Hochglanzinternetpräsenz. Sympathisches Bildchen. Joviales Lächeln. Klarname. Super Referenzen. Voll nett. Kein böses Wort. Niemand wird herabgesetzt. Keiner furzt. Ein borgwürfeleskes Dasein. Meinen Glückwunsch. Ehrlich, wie Sie da von Ihrer Webseite schmunzeln. Ich mag Sie. Viele dürften Sie mögen. Sie würden in einem Borgwürfel gut überleben. Und da wird der Weg hinführen. Sie bleiben. Ich gehe.

So einen Blog voller Herabsetzungen aller versammelten Vollidioten (die ich hasse, ehrlich, ich hasse die wirklich, alle) werden Sie in ein paar Jahren gar nicht mehr öffentlich schreiben können. Da wird es neue Vorschriften geben, für die die einschlägigen Lobbygruppen gerade den Boden bereiten. Dann reicht ein Klick und Ihre Anonymität ist im Arsch, Auskunftsersuchen, Klarnamendatenblatt hinter jedem Benutzernamen, von Cupertino bis Mountain View, abgeglichen mit dem lokalen Melderegister. Und vergessen Sie nicht: Es gibt immer einen, der Falschparker ans Ordnungsamt meldet. Sie werden sich noch wundern, was möglich sein wird. Ich werde über kurz oder lang verschwinden, Sie werden bleiben.

OD: Merkwürdig, das sehe ich eher umgekehrt kommen. Nicht für die virtuelle, aber die wirtschaftliche Existenz. Was mich an der Szene beim Frankfurter Stehempfang interessiert: Wie haben Sie sich gefühlt in Ihrer Haut, als Sie für „Das ist doch Deutschland“ die Lacher auf Ihrer Seite hatten? Oder damit, dass Sie überhaupt auf dieser Seite der Glasscheibe anzutreffen waren?

MS: Was soll ich gefühlt haben beim Lacher der Drohnen? Wie wäre es mit Genugtuung, dass ich bei fast jedem Idioten, der meinen Weg kreuzt, die richtigen Knöpfe drücken kann. Oder Enttäuschung, dass den doppelten Boden wieder keiner kapiert hat. Nein. Nichts. Nichts fühle ich, wenn ich so etwas tue.

OD: Beides wäre mir lieber und verständlicher als nichts. Nur Soziopathen fühlen gar nichts, wenn sie andere Menschen manipulieren. Was absolut Borgwürfel-kompatibel wäre. Die Assimilierung, schreitet sie fort?

Und vergessen Sie Moral. Moral muss ein Umfeld haben, in dem sie Sinn ergibt.

MS: Das triggert jetzt wieder, nicht wahr? Die Assimilierung schreitet nicht nur fort, sie ist abgeschlossen. Zumindest wenn ich morgens diesen Puff betrete, in dem Sie nur zwei Taktiken anwenden können, um zu verhindern, dass Sie gefressen, verdaut und ausgeschissen werden: Sie sind von Natur aus ein manipulativer Arsch oder Sie wenden die (funktionierenden, das ist es ja) Taktiken eines manipulativen Arschs an. Es ist klassische Schauspielerei. Reine Technik. Die jeder üben kann wie die Technik, vor 200 stupiden Kuhaugen dumme Reden mit möglichst wenig Inhalt zu schwingen.

Ich habe früher immer gedacht, man bräuche dafür ein besonderes Talent, um da mitzuspielen. Bei diesem ganzen Zirkus voller Small Talk, Gute Laune-Machen, Socializingfuck, diesen ganzen Kitt, mit dem Menschen einen unerträglichen Ort so erträglich machen wollen, auf dass die Leute eben nicht reihenweise aus den Fenstern springen. Und das geht. Ich dachte, ich kann das nicht, doch das geht. Üben. Üben. Üben. Auch wenn Sie Purzelbäume machen: Ich fühle nichts dabei. Und vergessen Sie Moral. Moral muss ein Umfeld haben, in dem sie Sinn ergibt. Hier in der Zentrale der Unmoral erleiden Sie damit Schiffbruch und landen womöglich in einer Geschlossenen.

Einen noch: Schlagen Sie Einladungen auf ein Bier nicht aus, auch wenn es Sie schüttelt, mit diesen Leuten noch mehr Zeit als sowieso schon zu verbringen. Geben Sie sich einen Ruck. Sie können das lernen. Sie können alles lernen. Ganz pauschal: Separieren Sie sich nicht. Machen Sie sich nie angreifbar. Denn wenn Sie angreifbar sind, werden Sie angegriffen.

OD: So, wie Sie sich angreifbar machen, wenn Sie sich dann kurz darauf in Anzug und Krawatte bei den Demonstrierern einreihen.

MS: Die simple Wahrheit ist, dass es scheißegal ist, in welchem Outfit Sie sich da zu irgendwelchen Aktivisten hinstellen. Da sagt kein Schwein irgendwas. Ich stand schon in der Zeitspanne zwischen zwei Borgwürfelterminen mit einem fluffigen Schinkencroissant (mit Dijonsenf, sehr lecker, sollten Sie mal probieren) in einer Minidemo gegen eine Zwangsräumung in Kreuzberg. Komplett im Schweineoutfit, Fucking-Hugo-Anzug mit Krawatte und drecks Budapester Arschlochschuhe mit diesem lächerlichen Löchermuster. Da sagt keiner was. Steht da halt ein Pinguin.

Die größten Bastarde von allen tragen heute casual.

Auch im schwarzen Block zwischen den superharten Hasskappenhoodies bei der „Freiheit statt Angst“ ging das bisher mindestens als ironisch durch. Krawatte, Anzug, geputzte Schuhe, meine Güte, Herr Driesen, das sagt doch gar nichts mehr aus! Die größten Bastarde von allen tragen heute casual und ficken Sie trotzdem in Arsch und Mund gleichzeitig. Das wissen Sie doch.

Sagen Sie, stört es Sie eigentlich, dass ich Sie ständig beim Namen nenne? So als Journalist? Das ist doch ein Affront, Herr Driesen, nicht? So übergriffig. Mich nervt sowas immer, wenn mir ein Vertragspartner gegenübersitzt und ständig meinen Namen wiederholt („Herr Stevenson, hören Sie … also nein, Herr Stevenson, bitte, nochmal …“ – woah, halt die Backen, du blöder Hurensohn, ich weiß selber wie ich heiße). Noch fieser ist die Kombination mit ‚Lieber‘. Dann steht Gefahr im Raum: „Also lieber Herr Stevenson, auf dieser Basis kommen wir nicht zusammen. Da müssen Sie nachlegen.“ Und das Tischtuch ist endgültig zerschnitten, wenn ‚Guter‘ rausgeholt wird: „Guter Herr Stevenson, das Angebot meinen Sie jetzt nicht ernst, oder? Ich glaube, wir gehen, Frau Schneider. Hier ist kein gutes Karma im Raum.“

OD: Mir macht das nichts, wenn Sie mich mit meinem Namen anreden. Schon im Steinzeit-TV hat Wehner den Reporter Ernst-Dieter Lueg gerne mal verächtlich mit „Herr Lüg“ angeredet. Und der hat dann seine Schlussfrage mit „Herr Wöhner“ begonnen. Sie benennen mich wenigstens korrekt. Viel übergriffiger finde ich, dass Sie mich zu Wutausbrüchen provozieren, mich mit Ihrem unbändigen Zorn auf alles und jedes infizieren wollen.

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MS: Wissen Sie, was Sie (wie übrigens die meisten Menschen) missverstehen? Sie denken, ich möchte andere überzeugen. Möchte ich nicht. Sie nicht. Andere nicht. Niemanden. Aber ich will mich hinstellen. Bei der Sache, von der ich denke, dass sie richtig ist. Positionieren, wenn es von meiner Sorte sonst keiner macht. Ob Sie da auch stehen, spielt für mich keine Rolle. Sie könnten wegen mir FDP wählen, AfD, auf den Wahlschein kacken, sich mit Waldmeistergelee vom Bündnis90-Wahlkampfstand einreiben, nichts könnte mir egaler sein.

OD: Und wenn die Positionierung aber zwingend nach sich ziehen müsste, dass Sie sich aus dem System und insbesondere aus dem Borgwürfel verabschieden? Weil Sie die kriminelle Umverteilung von unten nach oben und vieles andere von Ihnen Kritisierte sonst weiter mittragen und also mitverantwortlich sind für das Elend derer, deren Sache Sie zu Ihrer zu machen vorgeben? Dann kneifen Sie, dann kneifen Sie, dann kneifen Sie. Und schaufeln dem Borgwürfel fröhlich weiter Profite in den turbokapitalistischen Sack, denn nichts könnte Ihnen egaler sein, das ist Routine, das ist Job. Hauptsache, Sie haben sich „positioniert“.

Das ist jetzt weniger Zorn bei mir, ich bin nur einfach baff, dass Sie diese Grand-Canyon-große Glaubwürdigkeitslücke mit einem „Ist doch alles egal“ wegwischen wollen. Stattdessen hängen Sie alternativlos an dem ach so furchtbaren Job, den um Gotteswillen nur nichts im Geringsten gefährden darf.

MS: Dieser Pathos immer, mit dem Sie mich aus allen so tapfer vermuteten Reserven locken wollen. Turbokapitalistischer Sack. Grand Canyon-große Glaubwürdigkeitslücke. Hier, ich hab‘ den Längeren: Glaubwürdigkeitslücke bis zum Mond. Zum Mars! Ans Ende der Galaxie! Natürlich. Bestreitet doch keiner.

Noch einmal: Meine Terracottaarmee voller Widersprüche ist mir vollkommen egal. Alles ist vollkommen egal. Es spielt keine Rolle, was ich tue. Es spielt nicht einmal eine Rolle, wenn ich irgendwo unter lauter empörten Aktivisten stehe und mich positioniere. Es spielt keine Rolle, wer mir welches Geld bezahlt und was ich dafür tun muss. Schwänze lutschen, Akten schleppen, Reden halten. Egal. Es spielt auch keine Rolle, ob ich mich aufrege oder dazu beitrage, dass Herr Driesen aus Hamburg ein besserer Mensch wird (oder wenigstens nicht mehr FDP wählt – wählen Sie eigentlich FDP? Es kommt mir so vor, als täten Sie es, keine Ahnung warum).

Wenn Sie Orte ändern wollen, die Sie nicht ändern können, werden Sie sich zerreiben.

Ich habe den Anspruch nicht, die ganze Welt besser zu machen als sie ist. Sie können nur einen Ort  beeinflussen, zu dessen Beeinflussung Sie die Mittel haben. Ich habe einen Scheiß. Wenn Sie Orte ändern wollen, die Sie nicht ändern können, werden Sie sich zerreiben (vgl. Geschlossene). Ich ändere keinen Borgwürfel. Ich ändere keine Politik. Die Wirtschaft nicht. Versicherungen nicht. Banken nicht. Seehofer nicht. Die SPD nicht. Ich ändere schon gar nicht die ganze Gesellschaft, also nehme ich solche Dinge hin, schreibe Zeug, saufe mir die Hucke voll und ziehe ein Kind groß.

OD: Das „Zeug“ schmäht unter anderem diejenigen, denen Sie dienen, ohne dass Sie die Konsequenzen ziehen. Beißen Sie die sprichwörtliche Hand, die Sie ernährt, während Sie vorgeben, sie zu lecken? Oder lecken Sie, während Sie das Zubeißen imitieren?

MS: Beißen? Lecken? Ich beiße keine Hand. Ich schreibe Zeug ins Internet. Es hat keine Auswirkungen. Es bewirkt nichts. Wen interessiert der Scheiß denn? Bloggen ist maximal egal. Bloggen rettet keine Leben. Es verbessert nichts, abgesehen von meinem seelischen Gleichgewicht. Erinnern Sie sich, was Alphablogger mit Milliarden Followern wie Lobo und Niggemeier vor einem Jahr so alles ins Internet geschrieben haben? Ohne zu googeln?

OD: Nein, aber wenn Sie mich bloggend beleidigten, das würde ich in einem Jahr noch wissen. Und bevor Sie fragen: Nein, Sie hätten mich oder die Menschheit damit nicht vorangebracht. Pöbeln und beleidigen tun im Durchschnitt nur extremistische Nutter.

MS: Ich schreibe nur Zeug ins Internet. Ohne einen Anspruch. Aber mit allen Widersprüchen. Oh ja, natürlich leben wir alle in Widersprüchen. Die im Übrigen auszuhalten sind. Was denn sonst? Wer keine Widersprüche aushalten kann, zerreibt sich vor Verzweiflung zwischen allen Realitäten oder landet in einer der unzähligen Sekten mit geschlossenem Weltbild (Evangelikale, Homöopathen, Veganer, Gendertröten, keine Ahnung mit was sie als nächstes angeschissen kommen).

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Die Mehrheitsgesellschaft tendiert im Moment dazu, Widersprüche zuzukleistern und sie sogar wegzulöschen. Ganze Newsportale stellen ihre Kommentarleisten ein, weil sie den Gegenwind nicht mehr ertragen. Vor lauter Angst, dass mal einer den Pfad der Gerechten verlässt. Dabei hat das nur die Folge, dass Opposition heute rechts ist, sich Rechts als Outlaw, quasi als klassicher Märtyrer verkaufen kann und längst seine eigenen Newsportale, seine komplett eigenen Kanäle aufgebaut hat. Ein Treppenwitz ist das.

Die Konservativen verteidigen heute die Meinungsfreiheit, und Links entwirft gemeinsam mit Bundesministern Gesetze und Vorschriften, um Worte löschen zu lassen. Weil wir keine Widersprüche mehr zulassen, sondern Weltbilder aufdrücken. Mit Keulen. Und der Macht der Mehrheit. Kein gangbarer Weg. Es wird nicht funktionieren. Es wird schiefgehen.

OD: Vielleicht wird auch dieses Interview schiefgehen, allein schon wegen der Länge. Ich werde brutalstmöglich kürzen und verfälschen müssen.

MS: Ich frage mich sowieso, wer den ganzen Content, den wir hier produzieren, eigentlich lesen soll. Die Leute machen doch inzwischen nach zwei Absätzen à zehn Zeilen dicht und die YouTube-App auf, es sei denn natürlich, Sie beleidigen jemanden, sprechen übers Ficken oder ranten gegen irgendwas. Rants gehen immer. Werden geklickt wie blöd. Also: Nur zu, machen Sie daraus, was Sie wollen, kürzen Sie, verfälschen Sie, drehen Sie Dinge um, erfinden Sie Dinge dazu, lassen Sie aus, es ist mir ernsthaft egal.

Nehmen Sie doch mal hin, dass Sie unwichtig sind und dass Sie keine Rolle spielen.

Wir müssen es auch gar nicht autorisieren* (sowieso eine Unart), schreiben Sie einfach drauflos, denn spätestens eine Woche, nachdem Sie auf den Publishbutton gedrückt haben, wird sich schon keiner mehr daran erinnern, dass wir mit einem unheimlichen Aufwand ganz viele Buchstabensandburgen hergestellt haben, die der Wind in die Gruften unserer Archive verweht haben wird, wofür wir im Ergebnis mehr Zeit aufgewendet haben werden als die Haltbarkeit des Produkts im Internet lang sein wird.

Wer bin ich? Nur ein Niemand. Sie auch. Sie sind auch ein Niemand. In schätzungsweise 30 bis 40 Jahren sind Sie tot, und von Ihnen wird schon kurz nach Ihrem Rendezvous mit der der Holzkiste nichts übrig bleiben, das irgendwen interessiert. Ihre Domain wird irgendwann aufgelöst, wenn keiner mehr zahlt, ihr Googlekonto deaktiviert sich irgendwann von selbst, wenn sich keiner mehr einloggt, Ihr Erbe teilen die Erben unter sich auf und Ihre Grabstelle hat auch eine begrenzte Haltbarkeit, weil irgendwann keiner mehr für den vergrabenen Humus zahlen mag.

Nehmen Sie doch mal hin, dass Sie unwichtig sind und dass Sie keine Rolle spielen. Journalist in der heutigen Zeit zu sein muss hart sein. Ein Leben für die Tonne. Buchstaben. Ein paar Klicks. Ein paar Shares. Und – fuuuuush – ins große Nichts verkonsumiert. Nicht mal ein Gerippe bleibt. Und niemand erinnert sich.

*) Anm. OD: Das mit der verzichtbaren Autorisierung stimmt so nicht ganz. An der Endfassung dieser Unterhaltung, die nicht linear verlaufen ist, haben wir beide noch herumgeschraubt. Ich mehr als MS.