Dies ist eine traurige Geschichte. Bloß eine Kurzgeschichte, genau genommen, eine traurige Kurzgeschichte. Sie hat sich heute vor meinen Augen zugetragen, aber alles ging in solcher Kürze und Geschwindigkeit vor sich, dass nicht einmal ein richtiger Schock zurückbleibt, es reichte nur für eine Anwandlung, die irgendwo zwischen tragisch und grotesk und eben todtraurig oszilliert. Der Ort des Geschehens ist so unbedeutend und einer Tragödie so unverdächtig, dass ich seinen Namen beim Aufschreiben schon wieder vergessen hatte und erst nachschauen musste: Bredstedt, ein Kaff in Schleswig-Holstein. Ein Kaff mit einer Tankstelle und als kulturellem Highlight einer McDonald’s-Filiale in der Tankstelle – und mit einer Bahnstation.

Eine Bahnstation mit ganzen zwei Bahnsteigen. Auf einem der beiden wartete ich als Transitreisender, der aus keinem anderen Grund als dem des Verkehrsmittelwechsels jemals hier warten würde, auf den Zug nach Hamburg. Das hatte ich schon eine sehr lange Dreiviertelstunde getan, und dann kam er auch endlich, mit fünf Minuten Verspätung, wurde vom Punkt am schnurgeraden Horizont zum Fleck am schnurgeraden Horizont zum mit Gedröhn sich nähernden Zug, beileibe nicht mehr am Horizont, sondern wie an der Schnur gezogen schon fast am Bahnsteig. Und das war der Moment, als ich ihn sah:

Ich habe sehr wenig Ahnung von unseren heimischen Vogelarten, im Zweifel kann ich eine Amsel von einer Kohlmeise unterscheiden, das war es auch schon. Und ich hatte weiß Gott andere Dinge im Kopf, profane Dinge wie die möglichst baldige Ankunft am Ziel meiner Reise in Hamburg nach sehr frühem Aufstehen auf einer Hallig in der Nordsee. Aber zuverlässige Quellen im Internet haben im Nachhinein ergeben, dass es sich um ein Wintergoldhähnchen handelte, nebenbei der kleinste Vogel Europas, sagt Wikipedia. Ausgewachsen gerade mal acht bis neun Zentimeter lang, und dieses Exemplar hier war ein Jungtier. Vielleicht sechs Zentimeter, optimistisch geschätzt. Und es saß auf meinem Bahnsteig, wie aus dem Nest gefallen.

Ich hatte noch nie in meinem Leben bewusst ein Wintergoldhähnchen gesehen. Sie brüten nicht auf Bahnsteigen, sie bevorzugen dafür Kiefernwälder, wenig überraschend. Hier war weit und breit kein Kiefernwald. Aber hier war ein Wintergoldhähnchen. Ab dem Moment, in dem ich verstand, dass dieses kleine Flauschbällchen da vor meinen Füßen ein lebender Vogel war, ereignete sich alles im Sekundentakt.

Der Zug hat den Bahnsteig fast erreicht. Ich reiße meine Reisetasche auf und entnehme ihr wiederum die Umhängetasche mit meiner Kamera, von der ich nicht gedacht hatte, dass ich sie heute nach der Abreise von der Hallig Langeneß noch brauchen würde.

Der Zug ist jetzt am Bahnsteig angekommen.

In die wenigen Wartenden kommt Bewegung, die Bewegung zielt einheitlich in Richtung der Abteiltüren.

Ich reiße nun auch die Kameratasche auf, entnehme ihr die Kamera, schalte sie ein, entferne die Verchlusskappe vom Objektiv.

Der Zug kommt zum Stillstand.

Ich gehe auf dem Bahnsteig auf die Knie, etwa 50 Zentimeter vom Jungtier entfernt, und beginne es zu fotografieren. Man kann im Nachhinein sagen: Warum fotografiert der, warum setzt er das Tier nicht einfach dahin, wo es sicherer ist? Das kann man fragen, aber wenn man wie ich sehr, sehr gerne fotografiert, dann fragt man in solchen Momenten eben nicht. Dann nimmt man auch keine Gefahr wahr – was nicht nach Krisengebietsfotografie mit schusssicherer Weste klingen soll, es geht ja nicht um Gefahren für mich als Fotografen. Sondern man freut sich an dem ungewöhnlich hübsch gemusterten Federkleid und der insgesamt sehr putzigen kleinen Gestalt. So viel ist ja nun auch wirklich nicht los am Bahnhof von, ähm, Bredstedt.

Das Vögelchen bewegt sich nicht von der Stelle, es ruckelt nur ein wenig mit dem Kopf. Ich mache fünf, sechs Aufnahmen in schneller Folge, die Schärfe stimmt aber nicht exakt. Zu wenig Zeit.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass kaum jemand aussteigt – wer will nach, wie hieß das, Bredstedt? -, dass aber die ersten einzusteigen beginnen und ich nur noch wenige Sekunden Zeit habe, mein Zeug zusammenzuraffen. Ich will ja hier nicht zurück bleiben, ganz bestimmt nicht.

Ich komme also wieder hoch und beginne mich meinen Taschen zuzuwenden. Das Vögelchen sitzt weiter starr am Ort. Die Sichthöhe ist sehr knapp über dem Pflaster dort unten, man hat keinen Überblick und wird mit sechs Zentimetern Länge über alles seinerseitsschon gar nicht gesehen.

In diesem Moment stapft ein gedrungener Rentner mit weißen Haarkranz und Nickelbrille eiligen Schritts aus dem Hintergrund des Bahnsteigs auf die noch immer offene Abteiltür zu. Er hat einen Tunnelblick, er sieht nur die Tür. Auch er will nicht hier zurückgelassen werden. Er will mit. Dazu muss er an mir vorbei, an der Stelle, wo ich vor Sekunden noch auf Knien etwas offensichtlich sehr Kleines fotografiert habe, was er nicht wahrgenommen hat, weil ihn nur sein Zug interessiert.

Sein Blick ist starr auf die Tür geheftet.

Und dann ist es auch schon geschehen und er besteigt, immer noch starren Blicks, den Zug, dessen Tür sich schließt und der losfährt und der auch mich an Bord hat, und hat nichts mitbekommen und weiß es nicht und hat keine Gewissensbisse und keine anderen Sorgen als noch vor wenigen Sekunden.

Und ich habe ein Foto gemacht von einem Lebewesen, das vor Sekunden noch lebte und hübsch war und hilflos und geradezu kitschverdächtig niedlich und die Zukunft noch vor sich hatte und nun tot ist.

So habe ich gelernt, was ein Wintergoldhähnchen ist und dass Menschen über Leichen gehen, um pünktlich in Hamburg zu sein. Oder für ein Foto.