Eine Serie über die Verwertbarkeit unserer Emotionen – marktwirtschaftlich kühl analysiert

Trauer ist das vielleicht privateste Gefühl – und zugleich das beständigste. Es ist ein Rückzug, eine Verpuppung. Wer trauert, dem verlangsamt sich die Zeit, er gerät in einen Tunnel, enger und enger werdend, stiller und stiller, in dem er allein ist mit seinem Verlust. Nur hier, im Tunnel der Trauer, kann dieses Paradox innere Realität sein: allein sein mit jemandem. Ohne Gegenüber, und doch in inniger Zwiesprache mit ihm. Der oder das Andere besteht nur noch in der Erinnerung, und die Trauer ist die allmähliche Verarbeitung des Schocks, dass dies so ist: von nun an für immer.

Damit ist die Trauer die Ausrichtung eines Gefühls auf die Ewigkeit. Nie mehr wird etwas Vertrautes so sein, wie es war. Überhaupt nicht mehr wird es sein. Das augenblickliche Gefühl muss aller Zeit der Welt, die vor ihm liegt, ins Gesicht sehen. Dafür sind Gefühle, diese Kinder des Augenblicks, eigentlich nicht gemacht. Die Trauer allein ist eine Emotion, die zugleich ein Prozess ist: Im Tunnel, der zu Beginn unendlich scheint, schrumpft sie allmählich auf das irdische Maß zurück. Und hat sie dieses Maß erreicht, ist sie von Neuem nurmehr Gefühl: Augenblick, Erinnerung, im besten Fall Glück, zumindest Erleichterung.

Es fühlt sich unwirklich an, wenige Stunden nach dem Attentat von Hanau, bei dem ein geisteskranker Verschwörungstheoretiker zehn Menschen und sich selbst erschoss, über das Intime und Leise an der Trauer zu schreiben. Denn seit gestern dröhnt ihre öffentliche Variante durch den Äther, verstärkt und vervielfältigt von einer stichworthörigen Medienmaschine: „Meine tiefe Trauer und Anteilnahme gelten den Opfern und ihren Angehörigen“, verlautbart Steinmeier, der Bundespräsident. „Nach dieser grausamen Nacht sind unsere Gedanken bei den Toten, ihren Familien und Angehörigen“, lässt sich Außenminister Maaß vernehmen. „Wir sind geschockt und wir trauern. All unsere Gedanken sind bei den Opfern, Angehörigen und Freunden“, lautet der Text bei SPD-Chefin Esken.

Neben der Offensichtlichkeit, dass es sich hier um abrufbereite und immer wieder abgerufene Textbausteine handelt, irritiert noch mehr an diesen Zitaten. Zum einen die schiere Unmöglichkeit: Wenn ein weit vom Schauplatz entfernter Politiker oder sonst ein nur medial von der Sache Unterrichteter vorgibt, seine Gedanken seien bei wildfremden Menschen, deren Namen er nicht kennt und mit denen er nie ein emotionales Band hat bilden oder gar aufrecht erhalten können, dann braucht der Blinde keinen Krückstock zum Sehen: Es kann nicht sein.

Die Gedanken des Funktionsträgers sind vielmehr bei dem Umstand, dass er nun möglichst schnell ein solches Statement publizieren muss. Sie sind bei der Reichweite, die dieses Statement über die Medien erzielen soll. Sie sind bei der Pose, die er dabei einnimmt, und bei der Wählerwirkung, die dieser Auftritt zeitigt. Und sie sind bei dem politischen Kapital, dass sich aus der Sache schlagen lässt. Alles andere ist Illusion. Politik ist im 71. Jahr der Nachkriegsrepublik ein vollendet zynisches Geschäft. Wer es darin zu Spitzenposten gebracht hat, dem ist darüber längst die Fähigkeit zu trauern verloren gegangen.

In den USA heißt es bei Gelegenheit eines Massenmordes noch eine Spur bigotter und schablonenhafter: „Our thoughs and prayers are with the victims“ – unsere Gedanken und Gebete sind bei den Opfern. Diese größte aller intimen Lügen immerhin ist im un-christlichen Deutschland mittlerweile weitgehend unsagbar. In den Staaten ist und bleibt sie oberste Christendarstellerpflicht. Indes: Ein Trump, eine Clinton, die ehrlich und in sich gekehrt für die Seelen von unbekannten Terror-Toten beten? Man hat schon Pferde kotzen sehen, aber dies noch nicht. Dies noch nicht.

Zum anderen lässt es die inszenierte, ökonomisierte Trauer nie bei sich selbst bewenden – im krassen Gegensatz zum echten Gefühl, dessen Heilwirkung gerade auf dem Sich-selbst-Genügen beruht. Der politischen Trauer muss auf dem Fuß der ebenso inszinierte politische Zorn folgen. „Wut und Trauer“ war nicht zufällig stets die Kampfparole, die das intimste aller Gefühle mit seiner ideologischen Engführung verband: Trauer darf nur der Impetus sein, der dem politisch-revolutionären Handeln die moralische Weihe verleiht.

So auch nach Hanau: Die Leichen waren noch warm, als die ersten Forderungskataloge laut wurden, meist nur durch ein Komma getrennt von der Trauerbekundung, und an Radikalität stetig zunehmend: Auf die Straße! „Rechts“ bekämpfen! Einheitsfront bilden! Gesetze verschärfen! Rädelsführer enttarnen! Brandstifter unschädlich machen! Parteien verbieten!

Dies sind nicht die Worte und Absichten trauernder Menschen. Es ist etwas anderes, Dynamisches, sich gegenseitig Bestätigendes und immer weiter Aufschaukelndes. Es ist ein Gewittersturm, der die Gelegenheit zur Entladung nutzt und auf das Land niederfährt. Es ist vieles, nur eines nicht: Trauer.

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