Der Kampf Israels gegen die Hamas, die das Land am 7. Oktober grausam überfallen hat, deckt innere Konflikte des Westens auf. Bislang mühsam übertüncht, toben sie nun auch bei uns – leider sogar innerhalb des „anti-woken“ Lagers. Dabei dürften wir als Lehre aus der Geschichte nur eine einzige Strategie verfolgen. Ein TWASBO-Kommentar.
Zu Palästina/Israel kann es nur Äquidistanz geben: Keine Seite ist die richtige. Erstens, weil wir diejenige nie ermitteln werden, die ursprünglich „angefangen hat“, wie es im Kindergarten des heutigen Politikbetriebs heißt. Zweitens, weil wir Deutsche und somit Nachkommen auch des NS-Staates sind.
Wir dürfen den Terror der Hamas oder der Hisbollah nicht „normalisieren“ oder passiv bleiben, wenn andere in unserem Einflusbereich es tun. Wir haben weniger als jede andere Nation das Recht, Israel sein Selbstverteidigungsrecht abzusprechen. Aber wir können auch nicht israelische Verstöße gegen das Völker-, Menschen- und Kriegsrecht gutheißen oder ignorieren. Nicht einmal eingedenk der Tatsache, dass Deutschland einst selbst die schwersten solcher Verbrechen an den Juden beging.
Ich schreibe dies, während Israel seine Bodenoffensive im Gaza-Streifen mit einem noch nie dagewesenen Dauer-Bombardement der abgeriegelten Region einleitet und während Hunderttausende obdachloser Zivilisten diesem seit drei Wochen andauernden Albtraum nirgendwohin entrinnen können. Wir haben aus unserer Geschichte zu lernen, und eine Lehre muss sein, dass wir Erkenntnisse über uns selbst auch auf andere anwenden. Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, egal wer es begeht. Das Abschlachten argloser junger Menschen bei einem Musikfestival und ganzer Familien in einem Kibbuz ist ein horribles Verbrechen. Bombenhagel auf eine weitehend schutzlose Zivilbevölkerung ist ein horribles Verbrechen. Das gilt für Coventry, Dresden und Gaza City.
Ich dachte, dass wir diese Lektion gelernt hätten. Warum ist dann die Debatte um die richtige Einstellung zu diesem neuen furchtbaren Krieg emotional so aufgeladen, so verhärtet, so unversöhnlich? Ich glaube inzwischen, dass es aus deutscher Sicht hier um gleich mehrere Stellvertreterkonflikte geht – stellvertretend nämlich für Kriege, die in unserem Inneren toben.
Der eine, seelische, geht um das NS-Erbe in den eigenen Familiengeschichten, um die weitergereichte Traumatisierung und nach Generationen noch immer beschwiegene Schuld. Viele möchten, wenigstens diesmal und wie schon im Fall der Ukraine, reflexhaft auf der Seite der „good guys“ sein, um das Erbe der „bad guys“ endlich abschütteln zu können. Viele möchten außerdem im historischen Siegerteam sein, das Stärke zeigt und auch noch auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Für die imaginäre Aufnahme in dieses Team sind sie bereit, die Augen zu schließen, wo es hässlich zugeht.
Aber dieser Krieg ist kein Fußballspiel, dieses Drama ist kein Hollywood-Streifen, und das Leben ist nicht bipolar. Es gibt zwischen Schwarz und Weiß Grautöne, sie wechseln selbst in Kriegszeiten auch noch ständig die Farbnuance. Wenn wir tatsächlich auch nur einen Funken dazu beitragen wollen, durch unsere Debatten den Nahostkonflikt (und den Stellvertreterkonflikt im eigenen Inneren) zu entschärfen, statt nur Selbstvergewisserung und -verortung zu suchen, dann müssen wir beide Seiten anhören. Wir müssen den Extremisten beider Seiten im Nahen Osten klar die Grenzen unserer Empathie aufzeigen. Äquidistanz. Diplomatie. Deeskalation. Etwas anderes ist gerade uns Deutschen nicht erlaubt. Und etwas anderes ist auch nicht in unserem ureigenen Interesse. Denn das kann nur die weitestmögliche Befriedung des Nahen Ostens sein.
Ganz anders sieht die Sache aus, wenn Juden hierzulande, wo wir die Regeln machen, antisemitisch bedroht und angegriffen werden. Dann ist ein klare, auch physische Parteinahme geboten. Aber nur dann. Und selbstverständlich sind islamistische Hamas-Unterstützer auszuweisen.
Leider hat die Trägödie noch eine weitere Dimension: Es gibt einen zweiten Stellvertreterkrieg, den Hamas / Israel in uns triggert. Er betrifft den ganzen Westen, also Deutschland ebenso wie etwa die USA. Und er betrifft nur unser Lager, wie auch immer es heißen soll: die Dissidenten, die freiheitlich Gesinnten, unabhängig Konservativen, die „alternativen Medien“, jedenfalls die Anti-„Woken“.
Wir sind es doch, die dafür kämpfen, weiterhin unseren westlichen Lebensstil leben zu dürfen – gegen alle Attacken der „Woken“, der Diversen, der Globalisten, die uns Neo-Kolonialismus vorwerfen, weißen Suprematismus, Rassismus, kulturelle Aneignung und weiß der Teufel was. Wir sind es doch, die im Grunde unseres Herzens überzeugt sind von unseren „westlichen Werten“, die wir nur in unserer Politik und Gesellschaft nicht mehr repräsentiert sehen.
Was aber geschieht derzeit? Da gibt es ein kleines Land in der Wüste, den „Vorposten westlicher Demokratie“ in einem feindlich-antiwestlichen Umfeld. Es verteidigt angeblich diese Werte, indem es auf einen überraschenden Überfall seiner Feinde reagiert. Ganz direkt und kompromisslos und mit massiver Waffengewalt.
Und jetzt, wo das endlich einmal jemand stellvertretend für den ganzen, als dekadent und verweichlicht verschrieenen Schneeflöckchen-Westen tut, so wie wir es in unseren enthemmtesten Träumen vielleicht auch tun wollten, aber nicht die Mittel dazu haben – da soll das auch wieder falsch sein? Da soll das ein Übermaß an Vergeltung sein, ein religiös und ideologisch befeuerter, rasend auf Unschuldige niedergehender Amoklauf der Rache? Der nichts bewirkt, als die nächste Generation von Rächern hervorzubringen? Das kann, das darf nicht wahr sein!
Daher wollen es viele auch nicht wahrhaben. So kommt es, dass prominente Dissidenten und Widerständler gegen die politreligiösen Haltungszwänge des Establishments plötzlich „in unverbrüchlicher Solidarität“ und unkontrolliertem Maulheldentum „ohne wenn und aber“ auf einer Seite des Konflikts stehen – auf der israelischen. Menschen, die eben noch als reflektierte und standhafte Vorbilder kritischer Vernunft im Kampf gegen die tyrannischen Corona-Regimes oder den selbstzerstörerischen Ukraine-Kurs des Westens hervorgetreten waren. Menschen, die glaubwürdig Empathie für die kleinen Leute und zivilen Opfer skrupelloser Machtspiele verkörpert hatten.
„Dissidenten und Widerständler gegen die Haltungszwänge des Establishments stehen plötzlich in unkontrolliertem Maulheldentum ‚ohne wenn und aber‘ auf einer Seite des Konflikts.“
In den USA zählt dazu etwa der unabhängige Präsidentschaftskandidat Bobby Kennedy jr., Neffe von JFK, den ich im August ’22 auf der Querdenker-Demo in Berlin mitreißend habe sprechen hören. Seit dem 7. Oktober redet er, als ob er auf der Paylist des Israel Defense Force stünde. Bei uns in Deutschland positionierte sich Julian Reichelt, Ex-BILD-Chef, YouTuber und neuerdings „Nius“-Journalist, im Camp der gnadenlos Verblendeten: Am 25. Oktober rechtfertigte er bei „Nius“ die eskalierenden Bombardements des Gazastreifens durch die IDF mit der historischen Parallele, dass auch die Allierten Nazi-Deutschland angeblich nur durch Terrorbombardements gegen Zivilisten vollständig hätten besiegen können.
Oder Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel, standhafter und siegreicher Verfechter der Meinungsfreiheit in Verfahren gegen Konzerne wie YouTube und Facebook. Am 28. Oktober twitterte er auf Englisch: „We are in a religious war here. I am with Israel. Do whatever the hell you have to do to defend yourself. Level the place.“ Die zitierenden Anführungsstriche – denn es war ein Statement des US-Republikaners Lindsey Graham – ließ er weg, als „Experiment“, um die Reaktionen auf solche rhetorische Härte zu testen, wie er schrieb. Aber Grahams Position macht sich Steinhöfel ausdrücklich zu eigen.
Hier sehen wir den anderen Stellvertreterkrieg toben: den Konflikt im eigenen Lager zwischen einer eigenständig-unabhängigen Haltung und einer Manipulierbarkeit bis hin zur hirnlosen Vasallentreue. Und wir hatten geglaubt, diese Gefahr jedenfalls drohe unsereinem nicht.
Der Krieg zwischen Israel und der Hamas trifft auch uns mitten ins Herz. Aber als ein Volk, dem nach der Katastrophe des NS-Systems alles Kriegerische über Jahrzehnte systematisch ausgetrieben wurde, können wir mit dem Phänomen eines echten, unnachgiebigen und hasserfüllten Krieges offenbar ebensowenig rational und deeskalierend umgehen wie die Krieger-Nation, die uns einst maßgeblich zu Friedenstauben umerzog – die USA.
Frustrierenderweise ist es indes ausgerechnet unser Lager, das freiheitliche, das normalerweise jeden Bekenntniszwang und jeden Solidarisierungs-Exzess ablehnt, aber hier nicht die notwendige geistige Unabhängigkeit aufbringt. Sonst würde es die einzig angemessene Linie in Reaktion auf diesen Krieg fahren: Äquidistanz. Diplomatie. Deeskalation.