Wie ergeht es einem Pfarrer, der sich lieber auf die Bibel beruft als auf die „Pseudo-Religion des Coronismus“? Hanns-Martin Hager geriet ins Räderwerk einer modernen Inquisition. Mit TWASBO sprach er über die Regierungsfrömmigkeit der Geistlichen, das Ausbluten der Amtkirche – und über den Ausweg „Reformation 2.0“

Hanns-Martin Hager (63) war bis 2021 als Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern tätig. Zuletzt war er Gemeindepfarrer in Grainau in der Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen. Von 1990 bis 2018 arbeitete er als Seelsorger in verschiedenen klinischen Einrichtungen. Von 1999 bis 2017 hielt Hager Vorträge zu medizinethischen Themen an der Evangelischen Akademie Tutzing. 2021 legte er nach einem Zerwürfnis mit seiner Kirchenleitung wegen seiner Kritik an den Coronamaßnahmen alle kirchlichen Ämter nieder und lebt seither im Ruhestand.

TWASBO: Herr Hager, was waren die schwersten Sünden der Amtskirche in den Zeiten von Corona?

Hager: Erstens haben sich beide christlichen Kirchen in Deutschland widerspruchslos von der Regierung aufzwingen lassen, dass die Seelsorger in der Zeit des ersten Lockdowns ihre Kranken und Sterbenden nicht mehr besuchen durften. Und zweitens haben sie sich widerspruchslos verbieten lassen, Gottesdienste zu feiern – vor allem an Ostern, dem höchsten christlichen Fest. Beides sind beispiellose Vorgänge in den gesamten 1600 Jahren, seit eine christliche Staatskirche geschaffen wurde. Die gibt es heute zwar juristisch nicht mehr, aber de facto immer noch. Selbst in Zeiten der Pest, die eine noch wesentlich höhere Sterblichkeitsrate als Covid-19 hat, fanden Gottesdienste statt.

TWASBO: Wie haben Sie im Lockdown die Not der Gemeindemitglieder aufgrund dieser Isolation der Menschen voneinander und von ihren Seelsorgern erlebt?

Hager: Ich erhielt natürlich Anrufe, vor allem von Älteren. Sie fragten: „Was sollen wir denn jetzt machen? Sie können uns doch nicht einfach alleinlassen!“ Was ich auch nicht getan habe – ich bin nach wie vor zu den Menschen hingegangen, sozusagen illegal. Das ist meine Aufgabe, die ich durch meine Ordination übernommen habe. Und dazu stehe ich auch, im Namen der Menschlichkeit und des Mannes, nach dessen Botschaft ich gearbeitet habe: Jesus von Nazareth.

TWASBO: Psychischer Stress, Angst und Vereinsamung in den Gemeinden aufgrund der Lockdowns und anderer Coronamaßnahmen müssen doch zu allen Kirchenfunktionären durchgedrungen sein. Wie konnten sie da ihr kirchliches Maßnahmen-Regime und ihre Staatsfrömmigkeit aufrechterhalten?

Hager: Meine Gemeinde in Garmisch-Partenkirchen hatte zwei Pfarrer, zwei Pfarrerinnen und eine Klinikseelsorgerin. Und alle außer mir sagten: „Gut, wenn das von oben so angeordnet wird …“ Es war eine totale Obrigkeitshörigkeit, die dem Protestantismus von seinem Selbstverständnis her eigentlich fremd ist. Im Protestantismus ist die alttestamentlich prophetische Dimension einer kritischen Distanz den Herrschenden gegenüber traditionell sehr ernst genommen worden: Jeder übt seinen Dienst als Prediger und Seelsorger nach Schrift und Bekenntnis eigenverantwortlich aus. So steht es im Pfarrdienstgesetz.

TWASBO: Ich hätte gedacht, dass die Kirchenoberen in ihrer Entscheidungsfindung zunächst die Heilige Schrift oder andere religiöse Texte bemüht hätten…

Hager: Eine theologische Auseinandersetzung mit diesen staatlichen Maßnahmen hat es nicht gegeben. Meiner Wahrnehmung nach gab es nicht einmal den Ansatz eines Diskurses darüber, dass etwa durch die 2G-Regelungen ungeimpfte Gläubige von Gottesdiensten ausgeschlossen wurden. Damit war Artikel 7 der nach wie vor verbindlichen Bekenntnisschrift Confessio Augustana von 1530 nicht mehr für alle Kirchenmitglieder in Kraft: „Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ Es ist – zumindest zeitweilig – einer Exkommunikation gleichgekommen, wenn man nicht 2G entsprochen hat. Man durfte dann nicht einmal als negativ Getesteter zum Gottesdienst, das muss man sich vorstellen! Auch darüber gab es keinen Diskurs. Man hat sich kritiklos einfach nur an die wöchentlich von den Kirchenleitungen über die Dekanate herausgegebenen Corona-Richtlinien gehalten, die sich zu immer absurderen und zum Teil unlogischen Ausdifferenzierungen entwickelten. Dabei haben Richtlinien, anders als Gesetze oder Verordnungen, die geringste juristische Bindung. Aber nichts davon durfte hinterfragt werden.

„Es ist zeitweilig einer Exkommunikation gleichgekommen, wenn man nicht der 2G-Regel entsprochen hat.“

TWASBO: Im April 2020 gab es eine Initiative der Kirchenbasis: „Nikolaikirche ist überall – öffnet die Gotteshäuser! Jetzt!“ Der Beauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für religiöse und geistige Strömungen, Dr. Matthias Pöhlmann, warnte: Die Initiative sei „als Versuch zu betrachten, die Kirchen für rechts-esoterische und regierungskritische Zwecke zu instrumentalisieren. Wir raten von einer kirchlichen Beteiligung und Unterstützung dringend ab.“ Wie erklären Sie sich dabei speziell das Reizwort „rechts“?

Hager: Pfarrer Dr. Pöhlmann nenne ich immer den „Großinquisitor“. Er hat in der Corona-Krise offenbar genau darauf zu achten, dass in der Kirche alles entsprechend der Staatsräson abläuft. Wer also im Kirchenbereich einen Diskursraum öffnen wollte, dem erging es genau wie im weltlichen Bereich: Er wurde auf „rechts“ geframed. Natürlich argumentierte auch Pöhlmann nicht aus theologischer Sicht gegen die Maßnahmengegner, denn hätte er es versucht, dann hätte er vielmehr die Maßnahmen selbst kritisieren müssen. Man will auf kirchlicher Seite keinen Dialog, man will keine Sachfragen erörtern, denn dann müsste man von der eigenen staatshörigen Position abrücken. Ein Nürnberger Pfarrer machte damals eine Plakat-Aktion gegen Querdenker-Demos: „Du sollst nicht mit Nazis laufen!“ Das nannte er das „11.“ Gebot, denn die zehn reichten ihm offenbar nicht mehr! Es kann schon sein, dass bei diesen Corona-Demos auch Leute mit extremen Positionen mitgelaufen sind. Aber deswegen das Mitlaufen zu verbieten, das ist so, als ob ich nicht mehr ins Fußballstadion darf, weil es dort auch eine kleine Gruppe von Hooligans geben könnte und ich dann automatisch auch einer von denen wäre.

TWASBO: Der harte kircheninterne Kurs gegen alle Kritiker traf schließlich auch Sie selbst mit aller Macht. Wie lief das ab?

Hager: Meine kritischen Positionen zu den Coronamaßnahmen waren durch meine Predigten und Texte bekannt – ausgehend von dem Gefühl: Hier kann etwas nicht stimmen! Luther war diese kritische Intuition, die ihren Sitz im individuellen Gewissen hat, sehr wichtig. Man kann es auch auf die Formel bringen: „Gott mehr gehorchen als dem Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29). Den Ausschlag hat dann mein Interview auf YouTube im September 2020 gegeben, das dort gleich viral ging mit 70.000 Aufrufen in zehn Tagen. Ich bekam Post aus aller Welt, sogar von einem katholischen Bischof aus Ecuador, und fast alle hielten es für wunderbar, dass ein Geistlicher sich so äußerte.

Ich wollte dann im Herbst 2020 am Reformationstag eine Veranstaltung in meiner Kirche in Grainau machen – unter dem Thema „Zukunft der Kirche – Kirche der Zukunft?“. Damit wollte ich einen Diskursraum öffnen vor dem Hintergrund der Coronapolitik. Die Plakate waren schon gedruckt. Aber dann berief der Dekan aufgrund meines Interviews eine Sondersitzung des Kirchenvorstands ein: Es bestehe bei meiner Veranstaltung die Gefahr einer Kirchenbesetzung, zu der dieser Interviewer angeblich aufgerufen habe, und deshalb müsse das abgesagt werden. Das war völlig paranoid! Jeder der etwa 20 Sitzungsteilnehmer hatte schon ein schriftliches Statement vorbereitet, und alle diese Stellungnahmen wurden dann vorgelesen – mit einem insgesamt  vernichtenden Urteil gegen mich: Ich hätte um Erlaubnis fragen müssen, ich hätte die Kirchengemeinde diskreditiert. Eine einzige Kollegin verhielt sich in dieser Sitzung neutral und warb zumindest um Verständnis für mich. Alle anderen brachen den Stab über mich.

Der Dekan hatte auch einen „Senior-Pfarrer“ mitgebracht. Der hat in Konfliktfällen die Aufgabe, den Beklagten zu vertreten. Doch er erklärte sinngemäß und in blasiertem Ton: „Ich sitze hier nur für alle Pfarrerinnen und Pfarrer und den Bischof, die du beleidigt hast.“ Der Dekan hatte offenbar eine entsprechende Weisung von oben erhalten, er solle das Nötige veranlassen, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Noch in der Sitzung bin ich wegen des zerstörten Vertrauensverhältnisses von allen meinen Ämtern zurückgetreten. Damit kam ich höchstwahrscheinlich einem Disziplinarverfahren zuvor, das allerdings wohl im Sande verlaufen wäre: Ich hatte ja weder gegen weltliches Recht noch gegen die Bibel und das Bekenntnis verstoßen.

Während dieses Tribunals blieb ich trotz der massiven Angriffe noch erstaunlich ruhig. Der Zusammenbruch kam erst zuhause. Ich konnte dauerhaft nicht mehr arbeiten und musste mich in Behandlung begeben. Im Juni 2021 wurde ich pensioniert. Ich bin mittlerweile aus meinem Berufsverband ausgetreten, der seinerseits maßnahmenkritische Pfarrer und Positionen diffamiert hat. Es gab üble Beschimpfungen gegen mich aus den Reihen der im Pfarrerverein organisierten Kollegen. Auch dort wurde ein offener Diskurs konsequent unterbunden. In meiner eigenen Gemeinde breitete man lieber den Mantel des Schweigens über mein „Verschwinden“. Heute bin ich froh, dass ich in dieser Kirche nicht mehr arbeiten muss. Ich könnte das nicht mehr.

TWASBO: Hat sich die Haltung der Kirche zu Corona seit März 2020 überhaupt bewegt?

Hager: Nein, nicht dass ich es erkennen könnte. Ich bin mit einer Reihe von Kollegen in Deutschland in Kontakt, die sind verhalten kritisch, trauen sich aber nicht, mit ihrem Namen an die Öffentlichkeit zu gehen. Darunter sind auch jüngere Kollegen, die haben für Kinder zu sorgen und haben Angst, auch weil sie wissen, wie es mir ergangen ist. Und die meisten, ich schätze rund 95 Prozent aller Amtsträger, unterstützen vollkommen den offiziellen Kurs.

TWASBO: Teilen Sie den Eindruck, dass gerade die jüngere Generation der evangelischen Geistlichen den aus Amerika eingeführten Zeitgeist der „Wokeness“ verinnerlicht hat?

Hager: Einer meiner Studienkollegen ist heute Professor für Neues Testament an einer kirchlichen Hochschule. Er sagte mir schon vor vielen Jahren: Die jetzt ins Amt nachrücken, stehen nicht mehr für diese Gesellschaftskritik wie wir, die wir in den Siebzigerjahren angefangen haben. Wir haben damals gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert, wir standen kirchenpolitisch dem Staat kritisch gegenüber, es gab Protest-Gottesdienste am Bauzaun von Wackersdorf oder in Gorleben. Gerade im Umweltbereich war Kirche ja damals durchaus recht staatskritisch eingestellt, schon wegen des Motivs der Bewahrung der Schöpfung. Oder die Kirchen der ehemaligen DDR, die waren eine treibende Kraft der friedlichen Revolution. Dann wurden sie im Zuge der Wiedervereinigung vom Westen geschluckt – und mit ihnen der gesunde Widerstandsgeist. Die heutige Generation zumindest in Westdeutschland, so sagte mein Studienkollege, ist auf dem politisch kritischen Auge völlig blind. Und das beobachte ich genauso. Bei Corona hat es sich bestätigt: Das war wie ein Brennglas für gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen, die sich schon seit Jahren angedeutet haben.

TWASBO: Sollte die Kirche ihre Fehler und ihr Im-Stich-Lassen der Gläubigen bei Corona nachträglich bekennen?

Hager: Ja, das müsste sie, aber sie wird es genauso wenig tun wie die Politik. Sie wird es im Sande verlaufen lassen. Sie will nicht einsehen, dass sie sich bei einer Regierung angebiedert hat, die diese Gesellschaft bewusst und in vorsätzlich sittenwidriger Weise zerstört hat, indem sie ihr die Menschlichkeit geraubt hat – das Elementare und Unverzichtbare von Nähe, Berührung, Begegnung, Gemeinschaft. Diesen Kirchenfürsten ist das profane Hygiene-Evangelium heiliger als die überlieferte Botschaft der biblischen Evangelien. Die geistliche Kraft des christlichen Glaubens hat offensichtlich nicht ausgereicht, um dieser neuen Pseudo-Religion abzuschwören, diesem Corona-Kult mit dem Sakrament der Impfung und dem Bekenntnis der Unterwerfung unter die Maske. Jesus hat gesagt: „Mit mir überwindet ihr eure Angst vor Nähe! Ich umarme auch die Aussätzigen. Ich gehe zu allen Benachteiligten hin.“ Diese Kraft des Glaubens ist offensichtlich verlorengegangen. Sonst hätte sich der Coronismus in der Kirche nicht durchsetzen können. Wenn die Kirchenführung aus der mittleren und oberen Ebene auch bloß den Versuch gemacht hätte, über die Maßnahmen offen zu diskutieren, dann wäre die gesamte Corona-Krise anders abgelaufen.

TWASBO: Der Russland-Ukraine-Krieg hat Corona fast nahtlos abgelöst. Gibt es auch dazu einen von oben eingeengten Meinungskorridor in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD)?

Hager: Ja, das sehe ich so. Wenn man auf die Stellungnahme zum Krieg auf der Webseite der EKD klickt, dann ist das erste Bild dort eine blau-gelbe ukrainische Nationalflagge. Dann heißt es dort, selbstverständlich sei man als Christen grundsätzlich gegen Krieg eingestellt. Aber sehr schnell wird dann auch die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus zitiert, die eine Waffenlieferung an die Ukraine als „nicht unchristlich“ verteidigt. Auch da wird exakt wie bei Corona die Regierungssicht übernommen. Über die Hintergründe des Krieges seit mindestens 2014 wird nicht einmal diskutiert. Es wird in der EKD völlig ausgeblendet, dass die Leute im Donbass jahrelang beschossen wurden, dass dort 14.000 Menschen starben, oder dass hier auch ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA, den von ihnen abhängigen westlichen Ländern und Russland tobt.

„Man segnet heute zwar keine Waffen mehr in der Kirche, aber man segnet die Regierungspolitik ab.“

TWASBO: Was würde passieren, wenn ein Pfarrer seiner Gemeinde sagte: „Ich weiß nicht, was in diesem Konflikt die Wahrheit ist, im Krieg bleibt keine Seite unschuldig, lasst euch nicht einseitig vereinnahmen und traut eurem eigenen Urteilsvermögen“?

Hager: Dem würde es vermutlich ähnlich ergehen wie mir. Wir leben in Zeiten, in denen der Meinungskorridor sehr verengt ist.

TWASBO: Und gesetzt den Fall, Deutschland würde militärisch in den Konflikt hineingezogen – würden die Kirchen-Hierarchen auch das noch mittragen?

Hager: Sie würden hinter der Regierung stehen. Sicher händeringend: „Es fällt uns sehr, sehr schwer …“, aber am Ende doch. In Zeiten des Krieges werden seit je die Feldgeistlichen gerufen. Und schon die Corona-Krise wurde ja als „Krieg“ deklariert, wenn auch nicht mit militärischen Mitteln. Der französische Präsidenten Macron hat es in seiner TV-Ansprache in martialischen Worten ausgesprochen. Man segnet heute zwar keine Waffen mehr in der Kirche, man klettert also nicht auf den Geschützturm eines Leopard-Panzers, aber man segnet die Regierungspolitik ab.

TWASBO: Die beiden Amtskirchen sind personell in einem dramatischen Niedergang, die Austrittszahlen stiegen seit Corona noch einmal enorm. Wir haben offiziell in Deutschland die Trennung von Kirche und Staat. Warum funktioniert das nicht, warum so viel Filz?

Hager: Weil es de facto eben keine Trennung von Kirche und Staat gibt. Allein die Tatsache, dass die Kirche ihre Kirchensteuer durch den Staat einziehen lässt, dass wir Pfarrer faktisch einen unkündbaren Beamtenstatus haben, macht das deutlich. Und was kaum jemand weiß: Die Gehälter der deutschen Bischöfe kommen nicht aus der Kirchensteuer, sondern werden aus den allgemeinen staatlichen Steuertöpfen bezahlt. Wer also aus der Kirche austritt, finanziert diese Gehälter als allgemeiner Steuerzahler trotzdem zwangsweise weiter. Es gibt zwar keine offiziellen Absprachen zwischen Regierung und Kirchenoberen, aber hinter verschlossenen Türen hat Ministerpräsient Söder in Bayern ganz bestimmt mit den Bischöfen beider Konfessionen darüber gesprochen, wie die Coronamaßnahmen in der Kirche umzusetzt werden müssen. Loyalität wird erwartet. Dafür hat die Kirche nach wie vor ihre Privilegien. 

TWASBO: Kirchliche Kindergärten und Schulen werden geschlossen, um Geld zu sparen, manche Kirchengebäude werden für andere Zwecke umgewidmet. Ist die Amtskirche am Ende?

Hager: Die Amtskirche heute, das ist für mich symbolisch die im April 2019 ausgebrannte Kathedrale Notre Dame in Paris. Sie war eines der prächtigsten Gebäude der Christenheit, war nach dem Feuer aber nur noch ein Gerippe, dem das Leben fehlt. Wann das Ende kommt, weiß ich nicht, aber es geht sehr stark bergab. Die Kirchenfürsten wissen das ganz genau. Und es wird ihnen bis zum jüngsten Tag nachgehen, dass ihre Coronapolitik gegen ihre elementaren Grundprinzipien verstoßen hat. Sie schämen sich insgeheim dafür, aber sie dürfen es nicht sagen. Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass große Teile der Bevölkerung nach zweieinhalb Jahren Corona wissen, dass sie von ihren Oberen belogen und missbraucht worden sind. Aber wenn man so eine missbrauchende Beziehung erlebt hat, kann es Jahrzehnte dauern, bis man sich das eingestehen kann.

„Das Symbol für die Amtskirche ist heute die im April 2019 ausgebrannte Kathedrale Notre Dame in Paris – nach dem Feuer nur noch ein Gerippe.“

TWASBO: Brauchen wir heute das Gegenteil der „Konstantinischen Wende“, durch die aus einer Kirche der versprengten Gemeinden vor 1600 Jahren eine Staatskirche wurde?

Hager: Die findet ja bereits statt. Ich nenne das „Reformation 2.0“. Heute gibt es nicht mehr die großen Reformatoren, die wie Martin Luther mit dramatischer Geste ihre Thesen an ein Kirchentor schlagen. Sondern die Menschen selbst, ganz viele, sagen: Wir brauchen die da oben nicht. Die Gläubigen, die in Scharen aus der Amtskirche austreten, finden einen Ausweg: den Rückzug ins Häusliche. Sie ziehen von der sichtbaren in die unsichtbare Kirche um, kurz: dorthin, wo die Botschaft Jesu ihren Anfang nahm. Mich erreichen ganz viele Nachrichten von Menschen: „Ich will meinen Glauben leben, aber in dem großen öffentlichen Kirchenraum ist das für mich nicht mehr möglich.“ Im kleinen, privaten Zuhause schon. Da ist dann auch ein Pfarrer dabei, da wird gesungen, gebetet, werden Kinder getauft. Ich war in solchen häuslichen Kreisen auch schon dabei.

TWASBO: Wäre das der Kern einer neuen christlichen Kirche, in der Sie sich vorstellen können, wieder mitzuarbeiten?

Hager: Vor allen Dingen wäre das eine Kirche, in der es keine „verengten Meinungskorridore“ gibt. Eine Kirche, in der die Geistlichen mit jedem Menschen reden und sich jedem ganz persönlich und direkt zuwenden – auch den Ausgestoßenen, den sogenannten „Rechten“. Es gibt keine Kontaktschuld. Man bräuchte sich nur auf wenige Bibeltexte und Bekenntnisschriften berufen. Unverzichtbar ist natürlich das Neue Testament, besonders die Evangelien und die Orientierung an der Persönlichkeit Jesus von Nazareth, der zu den Minderheiten, Verfolgten und Aussätzigen ging. Er hat das alles vorgelebt.


TWASBO liebt Debatten. Zum Posten Ihrer Meinung und Ihrer Ergänzungen steht Ihnen das Kommentarfeld unter diesem Text offen. Ihr themenbezogener Beitrag wird freigeschaltet, ob pro oder contra, solange er nicht gegen Gesetze oder akzeptable Umgangsformen verstößt. Vielen Dank.