Sten Nadolny, Autor des Weltbestsellers “Die Entdeckung der Langsamkeit”, über die unaufhaltsame Verwandlung des Landes und des Lebens. Ein Interview in vollen Zügen, während 37 Jahre am Abteilfenster vorbeiziehen.

Zwei Jahre vor seiner „Entdeckung der Langsamkeit“ debütierte Sten Nadolny 1981 mit dem Roman „Netzkarte“. Darin erkundet der Lehramtsanwärter Ole Reuter mit der Bundesbahn die alte Bundesrepublik ­– eine kleine Nation, die noch ganz bei sich ist.

Wiedervereinigung, Internet, Neoliberalismus und Migrationskrise haben das Land seither radikal verändert. Was würde Ole Reuter heute, fast vier Jahrzehnte später, beim Blick aus dem Zugfenster auffallen? Für die Literarische Welt bin ich mit dem „Netzkarte“-Autor noch einmal Bahn gefahren: im ICE von Berlin Richtung München.

Foto (C): O. Driesen

Herr Nadolny, „Netzkarte“ spielt überwiegend im Jahr 1976. Ole Reuter trifft überall auf Schülerinnen, Studentinnen und anderen Reisebekanntschaften, mit denen er überraschend umstandslos im Bett landet. Wäre die heutige Netzkarte, die BahnCard 100, immer noch ein Geheimtipp für schnellen Sex?

Nadolny: Das glaube ich nicht. Ich muss Ihnen leider gestehen, dass das schon damals gelogen war. Ich wäre zwar mit allerlei Frauen gerne im Bett gewesen, war es indes nicht, habe es aber dann sehr gerne so geschrieben. Es gibt einen Ausdruck dafür, wenn einer derart übertreibt mit seinen Eroberungen: Rodomontaden. Heldentaten, die nur in der Phantasie stattfinden.

Sehen Sie heute auf Ihren Bahnfahrten noch all diese Petitessen, die Reuter damals durchs Zugfenster entdeckte? Die Schilder mit grotesken Hinweisen, die landsmannschaftlichen Eigenarten, die Merkwürdigkeiten in Vorgärten? Hören Sie noch die unfreiwillig komischen Gesprächsfetzen anderer Bahnreisenden?

Nadolny: Zum Älterwerden gehört, dass ich schwerhörig bin und schon deswegen – auch mit Hörhilfen – weniger mitbekomme. Und vermöge meiner vielen Lebensjahre kommen mir auch einige Merkwürdigkeiten nicht mehr so merkwürdig vor. Ich war ja damals sozusagen ein junger Hund, obwohl auch schon über 30, aber ich hatte wohl noch nicht genügend mitbekommen. Jedenfalls war ich auf alles neugierig, hatte einen großen Menschenhunger, stellte die Ohren auf und blickte mich um – natürlich auch unter den Töchtern des Landes. Was heute ebenfalls nicht mehr so vordringlich ist.

Wir erreichen Bitterfeld. Nadolny fällt Gereimtes ein: „Und seh’n wir uns nicht auf dieser Welt, dann seh’n wir uns in Bitterfeld.“ Auf dem Bahnsteig küsst sich ein junges Paar zum Abschied.

Für Reuter ist es mühsam, unterwegs Kontakt zu seiner neuen Flamme Judith zu halten, die er unterwegs kennengelernt hat. Telefonzeiten müssen vorab vereinbart werden, oder man schreibt sich „postlagernd“ Briefe. Einmal erwischt er einen Intercity mit dem schönen Namen „Hölderlin“ und einem besonderen Luxus: „Hölderlin hat Telefon.“ Tut es Beziehungen gut, dass wir heute immer erreichbar und überall mitteilungsfähig sind?

Nadolny: Es ist eigentlich ganz gut, in Verbindung zu bleiben. Ich glaube nicht an den Segen der Nicht-Kommunikation. Ich bin auch kein Doktrinär des Briefeschreibens, sondern finde es ganz praktisch, dass man den anderen anrufen kann: Wo bist du gerade?

Sie lassen Ole Reuter im Jahr 1980 ganz arglos eine „Negerin“ im selben Abteil beobachten („zierliches Kraushaar, breites Näschen“). Der auf erotische Abenteuer erpichte Reuter plant spontan, sich mit ihr anzufreunden, doch schon am nächsten Halt steigt sie aus. Ist Ihnen die Stelle heute peinlich?

Nadolny: Nein, überhaupt nicht. Weil sie in einer Zeit geschrieben wurde, in der man Leute aus Afrika noch ohne weiteres „Neger“ nannte. Das war damals in keiner Weise abfällig. Aber die Political Correctness sucht sich ihre Gegenstände. Man will Zeichen setzen: Wir haben keine Vorurteile gegen Schwarze und wollen sie auch nicht mehr so nennen wie zu Zeiten des Kolonialismus. Heute würde ich deshalb ganz sicher nicht mehr „Negerin“ sagen. Ich halte jedoch wenig davon, eine solche Stelle für eine Neuauflage zu „bereinigen“: Ein Buch aus dem Jahr 1981 ist ein Dokument seiner Zeit. Umschreiben würde es ahistorisch werden lassen.

Eine unserer besten Eigenschaften ist es, uns nicht – mehr oder weniger künstlich – unwohl zu fühlen, wenn wir Menschen begegnen, die anders sind, als wir es bisher gewohnt waren.

In Vorortzügen herrscht seit der Migrationskrise ein babylonisches Sprachengewirr. Es gibt Deutsche, die dabei Fremdheit im eigenen Land empfinden. Würden Sie Ole Reuter dieses Gefühl thematisieren lassen, wenn Sie die „Netzkarte“ heute schrieben?

Nadolny: Dem Thema würde ich wahrscheinlich nicht entgehen. Aber da würde sehr stark mein Standpunkt einfließen: Man hat das gefälligst auszuhalten! Schon der Begriff „im eigenen Land“ ist diskussionswürdig. Ich finde, eine unserer besten Eigenschaften ist es, uns auf Situationen und Notwendigkeiten einstellen zu können und keine Ressentiments zu pflegen. Uns nicht – mehr oder weniger künstlich – unwohl zu fühlen, wenn wir Menschen begegnen, die anders sind, als wir es bisher gewohnt waren. Wenn in einer Bahn um mich herum Gespräche in anderen Sprachen stattfinden, habe ich damit auch kein Problem, denn ich bin kein Lauscher. Solange derjenige nicht direkt mit mir spricht, muss ich ja gar nicht verstehen, was er sagt.

Halle an der Saale. Wie alle Bahnhöfe seit Berlin war dieser hier noch vor weniger als 30 Jahren für westdeutsche Bahnreisende ein weißer Fleck auf der Landkarte: terra incognita.

Ole Reuter fuhr auf Transitstrecken von Westberlin durch die damalige DDR nach Westdeutschland. Er passierte dabei eine massiv gesicherte deutsche Grenze, die sich niemand zurückwünscht. Weniger als 40 Jahre später gilt schon die bloße Idee von Grenzsicherung vielen als inakzeptabel – Ihnen auch?

Nadolny: Das offizielle Weltbild der DDR, sich gegen „aggressive Invasoren“ aus dem Westen abgrenzen und schützen zu müssen, war Teil ihrer Lebenslüge. In Wahrheit richtete sich das gegen die Menschen, die raus wollten. Aber das war ein Sonderfall. Ich finde, Grenzen sollten so offen wie irgend möglich sein, und innerhalb Europas sowieso. Es fördert das Kennenlernen der Menschen, den Austausch der Wirtschaft. Es ist wunderbar, wenn Grenzen eben nicht bewaffnet und gesichert sind. Allerdings muss man in bestimmten Situationen eben doch filtern, prüfen und steuern. Es gehört zur Navigation eines Staates, der für seine Bürger sorgt, dass er da Lösungen findet. Und je klüger und sachlicher und humaner diese Lösungen sind, desto besser.

Foto (C): O. Driesen

Wenn er keine physische Grenze mehr hat – durch was für einen Raum fahren wir hier dann gerade? Ein Niemandsland? Eine Region Europas? Einen Wirtschaftsstandort?

Nadolny: Ich kann nur sagen, dass mir die Vorstellung ziemlich fremd ist, das da draußen sei nun nicht mehr Deutschland oder sei irgendwie „entgrenzt“. Identitätsprobleme – bloß durch die Tatsache, dass jetzt mehr Menschen aus anderen Ländern hier sind? Die Welt ändert sich, die Zeiten ändern sich. Wir können nicht immer nur daran hängen bleiben, wie wir früher einmal unser Land, unsere Identität meinten definieren zu sollen. Man kann sich der Globalisierung oder etwa auch der Aufnahme von Flüchtlingen nicht einfach nur aggressiv entgegenstellen. Sondern man muss sich auch fragen: Was kann ich an den negativen Folgen dieser Situation ändern, ohne ein Verbrecher zu werden? Es gibt Leute, die etwas ändern wollen, indem sie anfangen, an den Grenzen zu schießen, statt Fluchtgründe zu prüfen. Und das kommt überhaupt nicht in Frage! Oder sie hoffen den alten Zustand zu bewahren, indem sie Flüchtlinge erschrecken und vergraulen. Wenn wir als Europäer solche Schäbigkeiten bis hin zu Verbrechen begingen, würden wir die Folgen in uns selber lange spüren, nicht unähnlich der Schande, die wir Deutsche uns mit den Nazis eingebrockt haben.

In „Netzkarte“ gab es noch Raucherabteile in der Bahn. Hat die Gesellschaft eine Chance zur Integration all ihrer zerstrittenen Lager vertan, indem sie auch gegen das Rauchen noch strikte Verbote aufstellte?

Nadolny: Ob das Rauchen zwingend zur Demokratie gehört, da habe ich meine Zweifel. Menschen können auch ohne zu rauchen zueinander kommen. Ich sehe im Rauchverbot in der Bahn keinen großen Verlust. Selber rauche ich fast gar nicht mehr, vielleicht haben die Bahn und viele andere mich mit den Verboten auch sanft umerzogen. Die Demokratie kommt dadurch nicht zu Schaden!

Bamberg: „Der Ausstieg ist in Fahrtrichtung links“. Dazu stehen die Menschen schon zehn Minuten vorher Schlange im Gang. In Deutschland nimmt man das Aussteigen sehr ernst.

Was lieben Sie an der modernen Welt des Bahnreisens, das Ole Reuter noch nicht kennen konnte?

Nadolny: Ich habe es sehr gerne, wenn ich in einem Zug wie diesem mein Notebook aufklappen, ins Internet gehen und die E-Mails checken kann. Darüber hinaus weiß ich es im vorgerückten Alter sehr zu schätzen, wenn Bahnsteig und Einstieg in die Bahn auf einer Ebene liegen. Das hat sich hie und da verbessert in den letzten Jahren. Und dass man von Berlin nach München nicht mehr ganz so lange braucht, das kommt mir auch sehr gelegen. Ich bin froh, wenn ich früher am Ziel bin und noch was erledigen kann.

Für eine Fahrt mit Netzkarte muss man jung genug sein. Später im Leben wird es leicht zum Rückblick auf gescheiterte Hoffnungen.

Sie haben Ole Reuter 18 Jahre später, 1999, im Roman „Er oder Ich“ wieder auferstehen lassen. Noch einmal reist er mit Netzkarte durchs Land, um sein früheres Lebensgefühl wiederzufinden …

Nadolny: … ja, das war die Idee. Aber da ist er nun inzwischen ein mittelalter Mann mit Familie, der vieles im Leben falsch gemacht hat. Er ist ein depressiver, mit sich selbst hadernder Mensch und hofft verzweifelt darauf, dass die Netzkarte ihm noch einmal zur Lebenshilfe wird. Nur funktioniert das nicht mehr. Für eine Fahrt mit Netzkarte muss man jung genug sein, dann ist das Planlose, das Ungebundene sehr belebend. Später im Leben wird es leicht zum Rückblick auf gescheiterte Hoffnungen. Die Zukunft steht Reuter nicht mehr offen. Und er hasst seinen hohlen Job als eine Art PR-Berater. Als Konsequenz versucht er, sich umzubringen – ein ziemlich schwarzes Buch, und nicht mein bestes.

Vor Erlangen fährt unser ICE aus unklaren Gründen nur noch Schritttempo. Eine Lärmschutzwand scheint kein Ende zu nehmen. Erschreckend, vor was sie Schutz bietet: vor uns.

Ihr Debütroman erschien, während Sie bereits an der „Entdeckung der Langsamkeit“ arbeiteten. Darin wird der historische John Franklin erst durch seine – von Ihnen erdichtete – motorische Trägheit zum großen Entdecker. Sind uns die Tugenden der Langsamkeit heute, im Zeitalter von ICE und Turbokapitalismus, vollends abhanden gekommen?

Nadolny: Wir brauchen Langsamkeit für alles, was gründlich bedacht werden muss und nicht übereilt werden darf. Gerechtigkeit etwa hängt sehr stark mit sorgfältigem Abwägen zusammen. Dennoch wurde Langsamkeit schon immer geringer geschätzt als der Rausch erhöhter Geschwindigkeit. Das ist nicht erst seit ICE und Internet so, das ist einfach menschlich. Aber auch heute sind wir klug genug zu wissen, dass wir ohne Langsamkeit nichts von Dauer schaffen können. Deshalb wird der Berliner Flughafen auch zweifellos der beste der Welt (lacht)!

In Ihrem jüngsten Roman „Das Glück des Zauberers“ von 2017 blickt der Titelheld auf ein mehr als hundertjähriges Leben in Deutschland zurück. Keine Bahnfahrt, aber eine Lebensreise. Muss man Zauberer sein, um am Ende mehr Licht als Schatten zu sehen?

Nadolny: Ich verrate Ihnen etwas: Zauberer gibt es gar nicht! Meiner steht in der Wirklichkeit für einen Menschen, der einen eigenen Kopf hat und besondere Fähigkeiten wie Neugier und Erfindergeist. Solch ein „Zauberer“ ist gerade autoritären Regimen immer suspekt, weil sie ihn nicht unter Kontrolle haben. Die Freiheit meines Helden ist also oft bedroht, ihm stößt im Leben viel Tragisches zu, aber seine Menschlichkeit weist ihm letztlich Wege. Sie hält ihn wach für die Möglichkeiten des Glücklichseins und der tätigen Hilfe.

Ausstieg in Nürnberg. Im Hauptbahnhof kauft eine junge afrikanische Mutter, von Kopf bis Fuß im Leopardenlook, am Brezen-Stand eine „Weltmeister-Breze“.

Interview: Oliver Driesen

Foto (C): O. Driesen

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