Die Hamburger Ausstellung „Moderne Zeiten – Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“ widersteht der Versuchung, die schwindende Basis unseres Wohlstands pauschal zu verteufeln. Gerade das macht sie zum Erlebnis.
Heutzutage verlangen Leser mit netztypischer Aufmerksamkeitsspanne von einer Ausstellungskritik einfach bloß das Wesentliche: Was gibt es zu sehen? Und rentiert sich mein Besuch? Für diese Nutzwert-User also vorweg: Industriemalerei und Industriefotografie seit etwa 1850 bis heute – und oh ja, es lohnt sich.
Ich habe lange keine so klug kuratierte Kunstausstellung mehr gesehen wie „Moderne Zeiten – Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“ des Bucerius Kunst Forums in Hamburg. Wer sich anderthalb Stunden Zeit für all die offensichtlichen und hintergründigen Details dieser Bilder nimmt, wird mit einem kontrastreichen Feuerwerk von ästhetischen Highlights, historischen Entwicklungslinien und mit Denkanstößen belohnt, die noch lange nachwirken. Die Daten und Fakten für Ihre Besuchsplanung stehen am Fuß des Artikels.
So. Diese beiden Absätze haben Sie 26 Sekunden Lesezeit gekostet. Die Zeitersparnis im Vergleich zur Gesamtlänge des Artikels investieren Sie bitte zu je 50 Prozent in den Handel mit Indexzertifikaten und in den Besuch der Ausstellung. Darf ich dann für den Rest meiner Leserschaft jetzt etwas persönlicher und feuilletonistischer werden?
Um Zeitersparnis geht es auch in „Moderne Zeiten“. Schließlich ist die Entstehung und Entwicklung der Industrie bis heute überhaupt nur diesem Wunsch geschuldet: Produkte schneller (und kostensparender) herstellen zu können. Alle Fließbänder, alle Fabriken sind so getaktet. Aus diesem Grund wurde Akkordarbeit eingeführt und der Akkord dann immer weiter gesteigert. Der Mensch? Hatte sich eben anzupassen an diesen Rhythmus, wo jeder mit muss. Das fragt nicht mehr warum oder wozu, das tickt nur noch, schneller und schneller. Einmal in Betrieb, dient jede Industrieanlage letztlich vor allem der eigenen Zeitoptimierung – zur Not mit, am Ende besser ganz ohne Menschen. Es ist faszinierend und erschreckend zugleich.
Was diese Ausstellung mir aber neben vielem anderem vermittelt hat: Die ersten Fabrikanten hatten noch Zeit. Ihre Produktionsstätten aus Backstein mit Zinnen und Türmchen und Erkerchen und Fenstern mit gotischen Spitzbögen waren „Kathedralen der Arbeit“. Das hat mit Anbetung zu tun, und die funktioniert nicht im Akkord. Auch diejenigen, die diese Kultstätten des Kapitalismus im Bild festhalten sollen, durften sich Zeit lassen. Denn die Fotografie war noch nicht so weit, um 1850. Also wurde gemalt, so richtig fett in Öl.
Das Genre der Industriemalerei, anfangs beschränkt auf goldgerahmte Werksansichten im Auftrag der Fabrikherren, war geboren. Zunächst wurde gern aus erhöhter Warte gemalt, um das ganze Fabrikgelände mit allen Schloten draufzukriegen. Deren Drecksqualm in Rostrot oder Dunkelbraun war keineswegs ein zu retouchierender Makel, sondern Ausweis produktiver Potenz (und für die Maler eine willkommene neue Herausforderung statt der immergleichen Watte- oder Sturmwolkenhimmel).
Schon sehr bald entdeckten die Industriemaler dann die Magie, die eine Kokerei oder Stahlwerk im Inneren verbirgt: Wie das überall zischt und dröhnt und brodelt und lodert und kracht und stinkt und qualmt! Und die gigantischen Lasten, die da mit Kränen bewegt, in Pressen oder unter Hämmern wie für die Ewigkeit geformt werden!
Ich weiß, wie unwiderstehlich das ist (heute muss man hierzulande leider sagen: „war“). Die Führung durch eine Gesenkschmiede, ein Kraftwerk oder eine Kohlezeche war für mich als Wirtschaftsjournalist und Sachbuchautor immer ein Fest, ich konnte nicht genug bekommen. So wie die Maler damals. Sie begannen bald, die Faszination des Ortes noch auf anderen Ebenen einzufangen. Emotional. Subjektiv. Metaphorisch. Und das Bild, das mich mit seiner Vielschichtigkeit am meisten überrascht und begeistert hat, ist dieses hier:
Das Gemälde zeigt nicht etwa eine Szene aus J.R.R. Tolkiens Sagenwelt Mittelerde, wo gerade in den Minen von Moria irgendwelche Höhlentrolle und Orks gegen Zwerge kämpfen. Dies ist vielmehr die Fabrikhalle von Alfred Krupps Stahlwerk in Essen. Die Arbeiter malochen, sie sind vor lauter Anstrengung völlig blind für die sechs Dämonen, die da zwischen ihnen herumtoben.
Uns Betrachtern aber zeigen die „Krupp’schen Teufel“ (Titel des Bildes), was für übermenschliche Kräfte da im Stahlwerk entfesselt werden und doch in Schach gehalten werden müssen. Unsichtbare Kraftfelder und Energieströme als tanzende Teufel – das ist eine geniale Idee, auf dramatische Weise malerisch umgesetzt. Mit dem Segen der Krupps übrigens, nicht etwa als antikapitalistisches Plakatmotiv der Arbeiterbewegung.
Apropos antikapitalistisch: Natürlich widmet sich „Moderne Zeiten“ auch ausführlich dem Blickwinkel der ausgebeuteten Arbeiter und Arbeiterinnen. Ganze Malerei- und Fotografie-Strömungen sind in der kritischen Auseinandersetzung mit den Missständen der ungezügelten Macht des Kapitals entstanden, und man kann sie alle in der Ausstellung kennenlernen. Auch die Angriffsflächen, die das Industriesystem neben der sozialen Frage bietet – Umweltzerstörung, Landschaftsverbrauch, Ressourcenverschwendung –, werden in künstlerisch durchweg höchster Qualität und Originalität systematisch beleuchtet.
Aber eine der erfreulichsten Seiten dieser Ausstellung ist ihre weitgehende weltanschauliche Neutralität. Sie zeigt, welche ideologischen Sichtweisen des Themenkomplexes Industrie alle möglich sind – aber sie macht sich keine davon zu eigen. Fast schon eine Seltenheit heutzutage. Obwohl jeder einzelne von uns und dieses Land als Ganzes seinen mehr oder weniger vorhandenen Wohlstand dem Jahrhundert der Industrie verdankt, scheint mancherorts keine andere Position mehr erlaubt zu sein als radikale Maschinenstürmerei.
Ich will mir gar nicht vorstellen, wie etwa das benachbarte Museum für Kunst und Gewerbe (MKG) an das Thema dieser Ausstellung herangegangen wäre. Meine letzten Besuche dort grenzten an Quälerei, so sehr wurde ich dort mit linker Propaganda traktiert. Politische Einseitigkeit macht jede Schau mit aktuellen gesellschaftlichen Bezügen zu einem schmerzhaften Spießrutenlaufen für Freigeister. „Moderne Zeiten“ im Bucerius Kunst Forum hingegen atmet noch die traditionell hanseatische Offenheit des Denkens. Die Kuratoren Kathrin Baumstark und Ulrich Pohlmann haben aus allen Himmelsrichtungen 200 Gemälde und Fotografien von über 100 Künstlerinnen und Künstlern zusammengetragen. Beide Kunstgattungen beziehen sich klar geordnet aufeinander und führen tatsächlich einen „Dialog von Malerei und Fotografie“, wie es der empfehlenswerte Katalog (29,90 Euro) verspricht.
Denn wie sich herausstellt, korrespondiert das Medium Fotografie, das ab etwa 1920 immer mobiler und damit für die Industrie-Dokumentation bedeutsamer wurde, bis heute äußerst fruchtbar mit der klassischen Malerei. Beide treiben sich nach wie vor gegenseitig zu Höchstleistungen. Fotografinnen und Fotografen haben über die Jahrzehnte Blickwinkel gefunden, die mit Pinsel und Palette nicht realisierbar wären. Wir verdanken der Fotokamera etwa Momentaufnahmen unverfälschter Emotion, aber auch die abstrahierende Inszenierung reiner Ästhetik. Die seriellen Texturen, Formen und Muster des industriellen Verfahrens stellen dafür einen unerschöpflichen Fundus zur Verfügung.
Noch einmal also die klare Empfehlung: Besuchen Sie diese Ausstellung, solange es noch geht. Das gilt besonders für die Ungeimpften. Ihnen wird die ehemals liberale Hansestadt Hamburg vielleicht früher, als Sie denken, den Zutritt zu Orten wie dem Bucerius Kunst Forum verwehren oder durch einen obligatorischen Selbstzahler-Test finanziell unmöglich machen. Weil Sie Ihr persönliches Gesundheitsrisiko durch die umstrittene Corona-Impfung als zu hoch einschätzen, erklärt der Staat Sie in Kürze zum Bürger zweiter Klasse und minderer Rechte. Es sind in der Tat ganz furchtbar moderne Zeiten.
Die Ausstellung „Moderne Zeiten – Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“ läuft noch bis 26. September im Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12, 20457 Hamburg. Geöffnet täglich 11-19 Uhr, Donnerstags 11-21 Uhr. Eintritt 9 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Studenten und Studentinnen der Kunstgeschichte frei
TWASBO liebt Debatten. Zum Posten Ihrer Meinung und Ihrer Ergänzungen steht Ihnen das Kommentarfeld unter diesem Text offen. Ihr themenbezogener Beitrag wird freigeschaltet, ob pro oder contra, solange er nicht gegen Gesetze oder akzeptable Umgangsformen verstößt. Vielen Dank.