Wie sind wir an die Schwelle der Katastrophe gelangt? Ein Rückblick auf zeitgeschichtliche Ereignisse, die unser Leben erschüttert haben – und bis in die heutige Krise ausstrahlen. Die historische Timeline zu „Frei von Hoffnung leben“

Kürzlich schrieb ich hier über die nicht hoffnungslose, sondern hoffnungsfreie Lage des Landes und die zeitgemäße Art, als Betroffener damit zu leben. Was ich in dem – zugegeben – sehr langen Text partout nicht mehr unterbringen konnte, war die Beschäftigung mit der Frage: Wie konnte es historisch dazu kommen? Welche Wegmarken liegen hinter uns, an denen sich wenigstens im Nachhinein ablesen ließe, wo unsere „Vorweggehenden“ falsch abgebogen sind oder gar nicht erst nach dem Weg gefragt haben, in der unbegründeten Hoffnung, höhere Mächte würden schon zum Besten fürs Ganze entscheiden?

Jemanden wie mich, einen vor der Jahrtausendwende studierten (Wirtschafts-)Historiker und Ökonomen, treibt so etwas von Haus aus um. Daher soll sich nun dieser zweiteilige Essay mit den Verwerfungen auf dem langen Weg zur Freiheit von Hoffnung befassen. Murmeln nicht gerade diejenigen, die uns hierher geführt haben, permanent das Mantra vor sich hin, man habe aus der Geschichte zu lernen? Also lernen wir – wenn es auch zu spät sein mag.

Zu meinen Lebzeiten, die 1966 begannen, haben sich bis heute bereits sechs sogenannte Disruptionen vollzogen: Daten, an denen politisch und gesellschaftlich etwas ganz einschneidend Neues, Radikales und für uns leider in zunehmendem Maß Destruktives begann. Ich handle sie im Folgenden der Reihe nach ab. Die siebente und für unser Land vielleicht erschütterndste, die Grundversorgungs- und Stabilitätskrise, beginnt eben erst.

Sieben Erschütterungen, sechs Wegpunkte ohne Wiederkehr. Und, wie es in der Geschichte gar nicht anders sein kann: Alle hängen mit allen zusammen, sei es auch um mehrere Ecken. Nein, selbstverständlich nicht als große, zentral gelenkte Weltverschwörung. Um es mit Sarkasmus zu versuchen: Bill Gates ist an vielem schuld, aber so reich, um an allem schuld zu sein, ist nicht einmal er. Eher schon ist „alles“ eine Folge von opportunistischen, das gewachsene Sozialgefüge missachtenden Weichenstellungen auf einem globalistischen Spielfeld, das von den unterschiedlichsten Figuren und Gruppen nach und nach für ihre radikalen Zwecke gekapert wurde.

Eine alarmierende Erkenntnis: Die zunehmend heftigen Erschütterungen folgten zuletzt dicht an dicht, was deutlich auf eine klassische Eskalationskette, ein stufenweises Emporschaukeln ins Katastrophale hindeutet. Denn immer mehr Trümmer und Verwerfungen vom jeweils letzten Mal stehen einer rettenden Reaktion im Wege, während der Zeit- und Problemdruck steigt.

Ich fahre die Wegpunkte hier also noch einmal ab und sammle die historischen Schadensberichte ein, um sie kurz vor dem Ende der abgesteckten Route in Summe auszuwerten. Mein vollkommen subjektiver Referenzpunkt auf diesem Akzelerationspfad sei das Datum meiner Geburt am 1.5.1966. Es mag indes für die Erfahrung einer Generation stehen, die in der relativen sozialen Geborgenheit und politischen Naivität der Alt-Bundesrepublik aufgewachsen ist.

Wegpunkt #1
Datum: 3.10.1990
Deutsche Wiedervereinigung
Zeit seit Referenzpunkt: 24 Jahre, 5 Monate
Schadensbericht: Altlasten, Identitätskrise, Obsoleszenz

Es war einmal das Auenland. Seine Hauptstadt war Bonn am Rhein. Die damals gerade beendeten 1980er-Jahre dürften rückblickend wohl als die duftigste aller sozialen Blumenwiesen zumindest der westdeutschen Zwischenkriegslandschaft in die Geschichtsbücher eingehen. Das Bröckeln und Brodeln im Osten, schließlich die Risse im Mauerbeton, waren für uns (jüngere) Wessis eher eine gut inszenierte Telenovela – gewürzt mit einem Schuss revolutionärem Pathos. Und das große Finale namens „Einheit“ ein Festival gönnerhafter Gefühligkeit. Was in all dem Kirmesrummel unterging, war die brisante geopolitische Dimension der Wiedervereinigung.

Geopolitik – die Vertretung strategischer Interessen rund um den Erdball – überließ die militärisch und diplomatisch weitestgehend fremdbestimmte Bundesrepublik seit 1949 zwangsweise ihrem Hegemon, den USA. Deren Interessen wiederum verliehen die NATO-Partner Nachdruck, darunter zwei Atommächte: Frankreich und, allen voran, der angelsächsische US-Statthalter Großbritannien. Aber in der deutschen Frage waren sich die drei ehemaligen Westalliierten am Ende selbst mit Gorbatschows Sowjetunion einig: Als Preis für die Wiedervereinigung wurde bei den „2+4-Verhandlungen“ nichts weniger aufgerufen als die Selbstauflösung Deutschlands.

Was zeitgleich absurd scheint, Aufbruch und Auflösung, ergab als Zweistufenplan Sinn: Die neue Nation sollte zunächst eine Zeitlang im trügerischen Glanz ihres Beisammenseins baden dürfen. Aber nach dieser Anstandsfrist sollte sie dann in einem final „zusammenwachsenden Europa“ diffundieren (militärisch in der Nato ohnehin) und möglichst rückstandsfrei verschwinden. Der in Maastricht 1992 eilends beschlossene Weg in die „irreversible politische Union“ und zur Euro-Einführung zeugt davon. Ein einiges Deutschland mit geplanter Obsoleszenz.

Zu groß war die Sorge der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, ihnen könnte ansonsten erneut ein eigenständiger Gegenpol auf dem Alten Kontinent erwachsen. Vor allem fürchtete man nach dem Ende des Duopols zweier Weltmachtblöcke eine engere wirtschaftliche und kulturelle Anbindung des Industriegiganten (West-)Deutschland an Russland, den ressourcenreichen Kernstaat der Noch-UdSSR. Es war der alte amerikanische Albtraum. Schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs wirkt besonders die Achse Washington-London dieser Schreckensperspektive mit aller Macht entgegen. Der russische Ukraine-Krieg von heute bietet ihr dazu paradiesische Möglichkeiten.

Aber selbst das linksliberal gewendete westdeutsche Bürgertum war nach dem NS-Schuldtrauma und Jahrzehnten der folgenden Amerikanisierung auf den Kurs der eigenen Diffusion eingeschworen. Mit dem Volk und dem Land würde sich auch das Nazi-Erbe im Familienkeller endgültig in nichts auflösen, so die heimliche Hoffnung. Die Vereinigung Deutschlands konnte unter diesen Vorzeichen nur die Geburt eines kurzlebigen Scheinriesen sein. Zwar entwickelte der Scheinriese für ein paar Jahrzehnte trotzdem eine überraschend reale Wirtschaftsmacht. Doch umso realitätsferner war unter Konkurrenz-Gesichtspunkten von Anfang an die Illusion, das aus zwei Vasallenstaaten zusammengebackene Land werde auch einen politisch spürbaren Puls entwickeln dürfen. Es bekam diese Chance nie.

Das Konzept „Nation“ selbst, das heute die letzte Bastion gegen einen entgrenzten Global-Feudalismus der Oligarchen hätte sein können, war von Anfang an mit Ablaufdatum versehen. Und das Land, das keines bleiben sollte, blieb ohne Identität, ohne inneren Fokus. Wahrscheinlich kann man mit Politikern, die solch ein hybrides Gebilde leiten müssen, in der Krise einfach keinen Staat machen.

Wegpunkt #2
Datum: 11.9.2001
Flugzeug-Angriff islamistischer Terroristen auf die USA
Zeit seit vorigem Wegpunkt: 10 Jahre, 11 Monate
Schadensbericht: 2.996 Todesopfer, mehrere Wolkenkratzer, das Prinzip Rechtsstaat

An diesem Tag war uns allen klar, dass wir auch im Jahr 2022 noch wissen würden, wo wir damals gewesen waren und was uns beim Anblick der Bilder durch den Kopf gegangen war. Diese Bilder, die auch dem Dümmsten zu verstehen geben sollten, dass soeben vor unser aller Augen eine zeitgeschichtliche Zäsur gesetzt wurde und wir fortan zwischen „vor“ und „nach“ 9/11 unterscheiden würden. Nur warum war nicht unmittelbar deutlich und nahm erst über die folgenden Jahre Gestalt an: weil dieser Tag die USA dazu verleiten würde, als waffenstarrendste aller Demokratien ihre rechtsstaatliche Maske fallenzulassen und unter dem Markenzeichen des „Krieges gegen den Terror“ den technisierten Kampf gegen die Freiheit des Einzelnen aufzunehmen. Denn für die Amerikaner war fortan jeder Terrorist, der nicht das Gegenteil beweisen konnte. Sie aber wussten, dass sie damit auf das Niveau ihrer primitivsten Feinde sinken würden, und nahmen es billigend in Kauf.

Hier nahm alles seinen Ausgang, was erst in unseren Tagen als Markt der Möglichkeiten für die Hightech-Hatz auf individuelle „public enemies“ voll entfaltet vor uns liegt. Die Black Sides, in keiner Karte verzeichneten Folterkammern der CIA; das Waterboarding, die von führenden US-Juristen und -Psychologen legitimierte „verschärfte Befragungsmethode“; Guantanamo, das Muster-KZ jedes zukünftigen Unrechtsstaates; die Satellitenaufkärer und Navy SEALS Teams als Exekutivorgane im rechtsfreien Raum des US-Auslands; die gern auch von Friedensengel Obama freigegebenen Drohnenschläge gegen afghanische Hochzeitsgesellschaften, missliebige iranische Militärchefs und arabische Terroristenführer. Und das ikonische Bild von Abu Ghraib: der Kapuzenmann auf der Kiste mit den Elektrokabeln an den Fingerspitzen.

Noch sollte es im September 2001 sechs Jahre dauern, bis Steve Jobs das iPhone enthüllte und das Zeitalter freiwilliger digitaler Massenpreisgabe eröffnete. Was danach zusammenwuchs: Geheimdienste im Blutrausch der Schurkenjagd, das gierige Corporate-Konglomerat „Big Data“ und die Kirche der virtuellen Selbstentblößung. Daten werden gegeben, Daten werden genommen. Erst sie, dann die Freiheit, dann die Leben. Nur der Name des „Kampfes gegen den Terror“ wechselt nach Bedarf, ebenso wie der Name der Zielgruppe und ihrer individuellen Mitglieder. Es würden sich schon bald die Begründungszusammenhänge ergeben, um all das in einem lückenlosen Kontrollnetz auf Endgerätebasis aufgehen zu lassen. Steve Jobs immerhin musste nicht mehr miterleben, wie zunächst in China die Sozialpunkte für Wohlverhalten auf den iPhone-Clones zu leuchten begannen. Oder hätte er ein neues Geschäftsfeld gewittert?

Alle Erosion des freiheitlichen Rechtsstaats westlicher Prägung, alle Hinwendung gewählter „Demokraten“ zu den Überwachungs- und Züchtigungspraktiken totalitärer Systeme steht seit 2001 unter einem Logo mit zwei Flugzeugen, die im Abstand von wenigen Minuten in zwei Türme fliegen. Das Bild aber, das mir zu 9/11 vor allen anderen im Gedächtnis blieb, lieferte 9/12, der nächste Tag. Da fuhr irgendwo in Amerika ein John Doe seinen Bulldozer durch die Straßen, auf dessen frontalem Räumschild über die halbe Straßenbreite geschrieben stand: REVENGE. In seiner Welt, in der Blutwurst mehr wiegt als Recht, leben wir seit jenem Tag. Und dieser Feldherr führt uns bei Bedarf in seinen Krieg.

Wegpunkt #3
Datum: 16.12.2008
US-Zentralbank senkt Leitzins auf Null
Zeit seit vorigem Wegpunkt: 7 Jahre, 3 Monate
Schadensbericht: Ausfall zentraler Marktmechanismen, Politökonomie, Planziel-Diktate

In den Zeitraum zwischen dem Beginn der US-Immobilienkrise 2007 und den Banken-, Griechenland- und Eurorettungspaketen bis 2015 fallen zahllose miteinander verflochtene Großschadenslagen des Weltfinanzsystems. Schwierig, ein Einzelereignis auszusondern, aber von der deutlichsten Symbolkraft war wohl die Nullsetzung eines wichtigen US-Leitzinses durch die Federal Reserve Bank im Dezember 2008. Die Europäische Zentralbank zog später nach und setzte im Euroraum sogar für eine Weile Minuszinsen durch. Damit war der Zins, das zentrale kapitalistische Marktsignal und Lenkungswerkzeug, erstmals ad absurdum geführt. Der schleichenden Enteignung von Hunderten Millionen Kleinsparern durch stilles Abschmelzen ihrer Rücklagen mittels Inflation wurde ein markanter Meilenstein gesetzt. Und der Marktwirtschaft ihr Grabstein.

Doch auch das Monster Inflation galt in dieser zunehmend bizarren ökonomischen Weltsicht als besiegt. Das war ja gerade das Argument für die Nullzinsen: Austreiben der viel böseren Deflation. In den auf Depressionsmaße zusammengeschnurrten Ökonomien des Westens, nach den Schaumbädern der Immobilien- und Junkbond-Exzesse, drückten die Zentralbanken von nun an pausenlos Geldspritzen in die Schlagadern „der Märkte“, um ihnen wieder Lebenszeichen zu entlocken. Was, immer noch kein Puls? Noch mal hundert Milliarden Einheiten! Zu viel billiges Geld vor dem Kollaps von Lehman Brothers 2008 wurde mit noch mehr kostenlosem Geld nach Lehman kuriert. In diesem Paralleluniversum ohne Inflationsangst und Zins blieb uns Kleinanlegern fast nur noch Kapitalmarktspekulation als Geldanlage – unfreiwillig und wider besseres Wissen. Man machte uns zu Tradern, Dealern und Junkies zugleich – immer an der Nadel der Kurse und Indizes, dabei immer öfter losgelöst von echter Wertschöpfung. Die über den Globus walzende Fiat-Geld-Lawine, längst ein Tausendfaches des Wertes aller physischen Dinge auf Erden, war endgültig von den Fesseln der Realwirtschaft befreit und entwickelte ein virtuelles Eigenleben als Wert an und für sich, als Selbstzweck.

Mit diesem geisterhaften Setting war 2008 der späteste Spätkapitalismus geboren, der nichts mehr mit Tauschwert und Bedarf noch mit Maß und Ziel am Hut hat. Kurzformel: Finanzkapital ja bitte, Marktwirtschaft nein danke. So ging es auf die letzten überdrehten Runden – in einer westlichen Wirtschaftshemisphäre, die statt auf nüchterne Nachfragedaten auf politische Signale zu hören lernte: auf Indikatoren mit schillernden Namen wie Diversity, Compliance, Antikolonialismus, Klimaneutralität, Emissionszertifikate und Nachhaltigkeit. So verlangte es die in den neoliberalen Kreisen Amerikas geschmiedete Ideologie der „Wokeness“: der Anspruch einer hypermoralisch auftretenden Elite, westliche Gesellschaften samt ihrer Ökonomien nach Gutdünken mit ihren ideologischen Planzielen zu überziehen. Die Zwangsmittel dieser neuen Moral-Ökonomen gegenüber freiheitlich orientierten Abweichlern reichten von „Shaming“, öffentlicher Dämonisierung, über Boykotte, Werbe- und Kreditsperren bis zur totalen wirtschaftlichen Existenzvernichtung. Mit Hilfe der aus den USA gesteuerten Social-Media-Plattformen und einem willfährigen Medienbetrieb konnte das spaltende Gift der Wokeness auch an den gesellschaftlichen Schaltstellen Deutschlands ausgestreut und wirksam werden.

Hier sogen es begierig jene auf, die von den gelenkten Kapitalströmen einer durchpolitisierten Ökonomie ohne störende Marktmechanismen am meisten profitieren: Industrielle und ihre Apparatschiks, die aufgrund unattraktiver Produkte und fehlender Innovationen nichts mehr scheuen als die Auslese durch das Wettbewerbsprinzip. Ihnen kommt der „gemeinsame Markt“ einer EU gerade recht, die in eine gigantische Lenkungs- und Umverteilungsmaschine bis in feinste Verästelungen des Wirtschaftslebens verwandelt wurde – maßgeblich geprägt und gesteuert von grünen Ideologen. Wer aber in deren Kirche bereit ist, jederzeit die richtigen Buzzwords im Munde zu führen und dafür der Weisheit der Märkte abzuschwören, dem winken zum Dank polit-religiöse Ablassbriefe fürs notorisch schlechte Gewissen als Ressourcenvernichter. Mehr noch: Es winkt ihm der Zugang zu den Subventionen und Kredittranchen eines europäischen Green Deals. All das ermöglichte erst ein Lenkungs-Kapitalismus, in dem der Zins als Garant der Bodenhaftung und Limitierung keine Rolle mehr spielte. Ein Meilenstein der Enttabuisierung und Entgrenzung. Das einzige, was in immer engere Grenzen verwiesen wurde, war die Vernunft.

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Im folgenden zweiten Teil dieser Timeline gehe ich auf drei weitere Ereignisse diesseits der Jahrtausendwende ein, deren Nachwirkungen mit in den aktuellen Zusammenfluss all dieser Entwicklungen einmündeten: in die vom Ukraine-Krieg ausgelöste Doppelkrise der Grundversorgung und Geldwertstabilität.


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