Fliesen, Kutschen, Zusatzstoffe – die Außenposten der deutschen Museumslandschaft jenseits von Bismarck, Beuys und Benz brauchen unsere Aufmerksamkeit. Diesmal: Kutschenmuseum, 87541 Bad Hindelang


Das ist ein unüberschaubares Tohuwabohu. Was wiederum ein Lehnwort aus dem Hebräischen ist und „totales Chaos“ bedeutet. Aber damit geht er ja erst los, mein Besuch im „Kutschenmuseum“ eines privaten Sammlers in Hinterstein, Bad Hindelang. Im Oberallgäu. In Bayern.
Da wandert man also, weitab von Parkplätzen und anderen Errungenschaften der Zivilisation, arglos in der ausgesprochen idyllischen Fast-schon-Hochgebirgswelt mit ihren saftigen Bergwiesen. Und plötzlich steht da am Wegesrand dieses Ensemble von hölzernen Hütten und Verschlägen, zu denen der Eintritt auf Spendenbasis rund um die Uhr und rund ums Jahr frei ist – wenn man den Mut hat, sich womöglich sogar nach Sonnenuntergang durch schwere Vorhänge in schummrig beleuchtete Innenwelten vorzuwagen. Wo doch schon draußen ein furchterregendes Klimbim von jeder Fassade baumelt und in jedem noch so engen Durchgang aufgetürmt ist.

Das ist ein Museum, irgendwie, vermutlich. Kutschen sollen darin thematisch die Hauptrolle spielen. Am Ende wird man festgestellt haben, dass zwar auch welche zu sehen waren, aber vieles andere weit zahlreicher und prominenter hervorstach. Das geht los mit lebensgroßen Imitaten von Rehböcken, Bergadlern und Schmerzensmännern auf den umliegenden Wiesen, setzt sich fort mit ausgestopften Tieren der Bergwelt, Spiegeln sowie anderem Glitzerkram, hört bei zahllosen Jesus- und Marienbildchen hinter Glas noch lange nicht auf, um immer wieder in sicher mehr als 50 verwegen gekleideten Schaufensterpuppen zu kulminieren, die auch schon mal lasziv am Boden vor einem Wagenrad drapiert sind.
Viele davon erinnerten mich an Psychothriller aus Hollywood, die in düsteren Kellerräumen spielen, in denen zwischen ähnlichen Puppen schreckliche Experimente … ach, lassen wir das. Im Museum gibt es zwischen den Schaufensterpuppen immer wieder mal laminierte Textbotschaften mit Denkanstößen wie „Was ist Zeit, was ist Raum, gegen einen schönen Traum?“ Hingegen nur sehr wenige Erläuterungen zu den eigentlichen Exponaten, den Kutschen. Stattdessen überall Schnickschnack, immer mehr Schnickschnack. Und üppiger Weihnachtsschmuck, gern unter Zuhilfenahme von großzügig versprühtem Kunstschnee. Aber auch Kutschen. Ja, auch Kutschen.

Das ist eine Kutsche. Eine Hochzeitskutsche, um genau zu sein. Braut und Bräutigam sind nicht echt. Es sind nur Puppen! Man muss sich fest in den Arm kneifen und sich das in Erinnerung rufen, wenn man hier im Dämmerlicht steht, untermalt von Panflötenklängen aus der Konserve, konfrontiert mit diesen creepy people und ihren toten Augen. Selten war eine Hochzeit so fröhlich, wenn man unter Fröhlichkeit den Beginn von 50 Jahren feindseligem Schweigen versteht. Selbst der Gekreuzigte im Vordergrund der Installation wirkt vergleichsweise unbeschwert.
Aber ich werde hier keine religiösen Überzeugungen ins Lächerliche ziehen, bloß weil ich sie nicht begreife. Oh nein, das werde ich nicht. Dies ist ein freies Land, da darf jeder glauben, was ihm beliebt. Außerdem wird hier keineswegs missioniert oder gepredigt, jeder darf sich seinen Teil selber denken. Und dies ist das Allgäu. Eine Gegend, in der man noch unbehelligt Eremit sein darf, dessen Geschenk an die Welt ein (Alb-)Traum-Museum ist.

Das ist das Gegenteil einer Hochzeitskutsche: ein Bestattungswagen aus Böhmen/Mähren, worüber mich eines der in diesem Museum extrem seltenen Hinweisschilder informiert. „Meine Liebe zu dem etwa 140 Jahre alten Stück war so groß, dass mich auch der hohe Kaufpreis nicht abhalten konnte, es zu erwerben“, teilt mir der unsichtbar anwesende Museumsbetreiber auf demselben Wege noch mit. Ob das Schild indes 1982 aufgehängt wurde oder erst letztes Jahr, und wie viele Jahre der Bestattungswagen damit exakt auf dem Tacho hat, bleibt offen. Was bedeuten schon ein Jahrzehnt oder zwei in diesem Mausoleum des eingefrorenen Stillstands?
Natürlich gibt es in der Ausstellung von daher auch (spaltweit offenstehende) Särge, in denen hoffentlich nur Schaufensterpuppen liegen. Alles hier handelt vom Werden und Vergehen unseres Daseins auf Erden, und die Kutschen sind die symbolischen Vehikel auf diesem unserem Lebensweg. So viel meine ich verstanden zu haben.

Das ist allerdings keine Kutsche, sondern ein Schlitten. In seiner hölzernen Bauart mit Aufsitz und lenkbarem Fahrgestell immerhin der Droschke eng verwandt. Sowie eine willkommene Gelegenheit, mal wieder etwas Kunstschnee einzustreuen. Auch hier gibt es ausnahmsweise schriftliche Informationen vom Museumschef persönlich: „Diesen ca. 100 Jahre alten Pferdeschlitten erwarb ich im Raum Ravensburg von einem Arzt.“ Und nicht etwa von einem Schneemann oder Zentauren. Außerdem: „Die Formgebung dieser seltenen Bauweise ist original.“
Was das Seltene daran ist, fragen Sie? Na die Bauweise, Dummchen! Und die Besatzung in Form einer weiblichen Schaufensterpuppe, die bekleidungsästhetisch – wie wir noch sehen werden – vergleichsweise glimpflich davongekommen ist. Übringens bin ich im Kutschenmuseum auch mindestens einem fliegenden Schlitten begegnet. Ich meine, dass er von einem Teddybären gesteuert wurde.
Das ist ein Videoschnipsel mit sphärischer Musik und toten Tieren, die ein Klavier umlagern. Er soll ihnen einen Eindruck davon vermitteln, wie im Museum auf allen Kanälen an alle Sinne appelliert wird, außer an den gesunden Menschenverstand. Muss ja aber auch nicht. Denn ein Eisbärfell mit Bärenkopf und ein ausgestopfter Luchs können durchaus den Anblick eines aufgeschlagenen Notenhefts genießen, in dessen Liedtext es heißt: „Trauer, Trauer, über Trauer / hab verloren meinen Ring / ich muss suchen, ich muss kriechen / bis ich finde meinen Ring.“ Das ist doch seit J.R.R. Tolkien die natürlichste Sache der Welt! Und absolut wert, in einer dramatischen Inszenierung festgehalten zu werden. Während am nachtschwarzen Himmel des Allgäu der Blutmond aufgeht, wie es uns bei unserem Aufenthalt in der Region widerfuhr.

Das ist der helllichte Tag im Außenbereich des Kutschenmuseums. Man ist nach all der halluzinogenen Düsternis so erleichtert, an die frische Luft zurückgefunden zu haben, dass man den auch dort aufgetürmten Klumpatsch aus Glas und Porzellan nicht länger bemerkenswert findet – bis man wieder einigermaßen bei Trost ist. Dann allerdings schon. Denn dann fragt man sich in etwa dies: Was sucht ein friesisches Tee-Zeremoniell im Allgäu? Welche alkoholischen Zutaten sind in den diversen Kelchen und Karaffen beigemischt? Was hat eine griechische oder sonstige Göttin dabei zu tun? Aber, ach – gültige Antworten sind rar, fast wie im richtigen Leben. Immerhin: Das Museum hat Fans. Tausende Fans. Das Gästebuch ist voll von bewundernden Einträgen aus aller Herren Länder. Viele Besucher kommen jedes Jahr einmal her.

Das sind Freaks. Keine echten Freaks aus Fleisch und Blut, sondern wieder nur Schaufensterpuppen, die draußen am Museum lehnen. Der Mann im friesischen Fischerhemd trägt auf dem Kopf eine Cap, deren Beschriftung vermutlich der nächste hot shit nach „Make America Great Again“ werden wird. Oder ich verstehe sie einfach nicht. Kann mich jemand aufklären? Nein, schon gut, lassen Sie mal. Mir reicht der ermattete Gesichtsausdruck seiner Gefährtin im Hintergrund, die durch ihre Brille als Intellektuelle gekennzeichnet und mir daher im Geiste ähnlich ist. Da läuft nicht mehr viel zwischen den beiden. Und das Wenige will ich gar nicht wissen. Man muss nicht alles durchdringen. Es möge genügen, dass diese Figuren hier allgegenwärtig sind. Sie gehen nicht weg. Die halten das länger durch als Sie. Oder ich.

Das ist offenbar die Herrentoilette des Kutschenmuseums von außen. Ich bin nicht drin gewesen – aus Angst, dort einer weiteren Schaufensterpuppe zu begegnen, die gerade ihren Harn abschlägt, wie man wohl in gehobenen Kreisen sagt. Bzw. zum „Saichen“, wie es im Allgäuer Sprachgebrauch heißt. Ob es auch eine Damentoilette gibt, kann ich nicht sagen. Fragen Sie mich bitte auch nicht, wozu die angehefteten Körbe dienen. Oder das Hufeisen. Oder die Lederriemen. Fragen Sie mich nach diesem Museumsbesuch am besten überhaupt nichts mehr.
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Aufenthaltsdauer im Museum: ca. 30 Minuten
Highlight: Ein von Rosenblüten umflorter Brunnen, aus dem Seifenschaum blubberte.
Lowlight: Puff & Puff & Pass.
Crackerpoints: 10/10
P.S.: Wenn Sie ein irgendwie randständiges deutsches Museum mit dazu passendem Thema kennen, das in dieser Reihe unbedingt mal vorgestellt werden müsste, bitte ich um Mitteilung.
„Puff, Puff & Pass“ ist ein Prinzip, dass ich aus meiner Cannabisverräucherten Jugend noch sehr gut kenne. Beim gemeinsamen Rauchen von Haschisch oder Gras in einer Gruppe zieht jeder zwei mal am Joint (Puff, Puff) bevor er ihn an den nächsten weiterreicht (Pass).
So liebe ich meine Leser-Kommentierer: hilfreich, konstruktiv, lebenserfahren!
(Man stelle sich die populistische Bewegung vor, die mit solchen Caps aufläuft.)
Ich kann nicht für jeden sprechen, aber mit einem ordentlichen THC-Spiegel in der Blutbahn wird mir eher nicht nach Populismus zumute gewesen sein. Geschweige denn, irgendwo aufzulaufen.
Aufläufe aus dem Ofen hingegen schon.
Quatsch… Peter Fonda! aber das ist in diesem Zusammenhang nun auch egal. Liegt wohl am Moselwein…
Bei „puff, puff und pass“ könnte es sich aber auch um eine flatrate im Bordell handeln. Das Museum erinnert mich an den Roger Corman Film „Der Trip“, immerhin mit Henry Fonda und Dennis Hopper, aber ähnlich -ich formuliere mal vorsichtig- „originell“.
I can not more. I break together. 🙂
puff, puff und pass. Ich versuche es mal mit Königs Erläuterungen: „Das Kutschenmuseum beschreibt die Unzulänglichkeit der menschlichen Existenz in der Vision des kosmischen Lachkrampfes.“ Aber vielleicht ist „puff, puff und pass“ auch nur die allgäuische Variante von „Hipp, hipp, hurra“! Man weiß es ja nicht.