Sein Name ist Glumm, einfach nur Glumm. Natürlich hat er auch noch einen Vornamen, Andreas, aber der tut wenig zur Sache, wenn einer schon so heißt. Und wenn einer dann noch so schreiben kann, dann geht man hin, zumal er in Hamburg auftritt, man wäre ja schön blöd. Es war eine seiner ganz seltenen Lesungen in der Öffentlichkeit, und das – durchaus angemessen – gleich neben der graffitiverschmierten und putzbröckelnden Roten Flora im „Gebäude 73“ am Schulterblatt.

Dort, in einem Ambiente aus Tresen, Bars und Alkohol, feiernder Crowd, Widerspenstigkeit, Einsamkeit, halbgaren Gefühlen, spätem Punk und politischer Rebellion, las heute abend Andreas Glumm aus Solingen. Nach glaubwürdigen Statistiken einer der meistgelesenen literarischen Blogger Deutschlands. Er las nur etwa 30 Minuten lang einige Texte aus seinen beiden Blogs. Doch das genügte, um wieder sicher zu wissen: Hier gibt es eine Stimme, die anders klingt als das glatt gehobelte, marketingkonforme Einheitsgeplapper einer „unangepassten“ Befindlichkeitsliteratur.

Glumm war nicht allein an diesem Abend. Es lasen auch noch seine Blogger-Kolleginnen Sabine Wirschling aus Berlin und Candy Bukowski aus Hamburg. Die beiden kannte ich vorher nicht. Es war aber hilfreich, sie im selben Rahmen zu erleben. Denn das machte noch einmal die Unterschiede klar zwischen einer „Entdeckt mich, bitte!“ heischenden Form des Selbstmarketings und der eher schüchternen, im besten Sinne unprofessionellen Menschenmalerei eines Glumm.

Jenseits von Selbstmarketing

Kein Zweifel, die beiden Damen hatten den Vortrag ihrer Texte gründlicher geprobt und gekonnter inszeniert als Glumm, der Blogger aus kleinen Verhältnissen im Bergischen Land. Das flüsterte, miaute, dröhnte und kokettierte, wie es sonst nur ausgebildete Bühnen-Profis hinbekommen. Anders bei Glumms Auftritt: Da sitzt ein großer Junge von über 50 Jahren mit rheinisch-bergischem Zungenschlag, der nie von seinen Textblättern aufblickt, weil die Scheinwerfer ihn blenden und jeden Kontakt zu seinem Publikum unterbinden, was er sicher nicht für ein Unglück hält.

Dafür aber besticht er in seinen Geschichten mit einem ebenso röntgenscharfen wie unerschütterlich gutwilligen Blick auf die kleinen Leute, die diese Welt nun einmal mehrheitlich bevölkern. Wie er den schweifen lässt, das muss man am besten selbst mit- oder nachlesen. Bei Glumm zählt nur der Text, und das ist, frei nach Wowereit, auch gut so. Denn darum geht es doch: die Texte selbst zum Sprechen zu bringen, aus Buchstaben Welten zu erschaffen. Alles weitere ergibt sich im Kopf des Publikums.

Was liest man da also? Wenn man wie ich vier, fünf Jahre dabei ist, dann hat man sich unrettbar in einer Welt festgelesen, die anfangs fremd und doch irgendwann schon erschreckend vertraut erscheint. In ein Solinger Kleinstadt-Universum voller Typen, die Heinrich Zille im Berlin um das Jahr 1900 porträtiert oder vielleicht noch Kurt Tucholsky ebendort um 1930 belauscht hätte.

Es ist bevölkert von Taugenichtsen, Tresenkönigen, Quartalssäufern, Heroinjunkies, Dauerpubertierenden, Kleingeistern, Dummschwätzern, Glücksrittern, Aushilfsjobbern und Nachteulen, von reinblütigen Spinnern und Querulanten, Lottospielern, Tagträumern und schon längst vom Leben Abgehängten. Sie alle zeichnet Glumm mit ganz feiner Feder, denn er kennt sie alle und hat alles erlebt, was auch sie erlebt haben.

Zerbrechlich wie Glas

Und dann gibt es die Familie, den inneren Kreis. Für ihn schreibt Glumm sich die Seele aus dem Leib. Für die „Gräfin“, seine blaublütige Lebenspartnerin Susanne Eggert, die sich als Bildhauerin und Malerin durchschlägt und dabei immer für überraschende, warmherzige, zutiefst lebenskluge Aphorismen und Erkenntnisse über das Dasein als solches gut ist. Für die Hündin Frau Moll, die zum Haushalt gehört und Glumm und Gräfin täglich zu weiträumigen Spaziergängen durchs Bergische, Kleinbürgerliche nötigt.

Für die bescheidenen, anspruchslosen, nichtsdestoweniger geliebten Eltern, die irgendwann beide ans Ende ihrer Tage gelangen, was wir in allen menschlichen Facetten bis zum allerletzten Schluss und darüber hinaus miterleben (wer dabei nicht weint, wie beide am Ende ganz gläsern werden und dank Glumm doch ihre Würde behalten, der ist wahrscheinlich selbst schon tot). Nicht zu vergessen die engen, stets wiederkehrenden Freunde und Saufkumpane – alle schon vom Leben gezeichnet, aber warum sollte Glumm das nicht auch noch einmal tun.

Seine Erzählungen sind Geschichten vom Rand des sozialen Geschehens, aber mit einer solchen Fokussiertheit, dass wir stets vor dreidimensionalen, unvergleichlich präsenten Figuren stehen, deren Glaubwürdigkeit durch nichts zu erschüttern ist und mit denen man sofort bedingungslos fraternisiert.

Dass all dies nicht selten auch zu Lachtränen hinreißt, liegt an der schamlosen, aber eben nie würdelosen Art, wie Glumm diese Figuren durchs Leben stolpern lässt. Da muss dann bisweilen selbst der eigene Vater dran glauben, dessen Sackfalte im Urlaub am Gardasee während des Nickerchens sehr irritierend unter dem Badehosensaum hervorlugt – es sind alles nur Menschen wie du und ich.

„Wir sind Kriechtiere“

Das atmet eine Weisheit und Gewitztheit, aber auch einen gutmütigen Witz, wie sie vielleicht nur eine Existenz an der Grenze des Erträglichen hervorbringen kann. Der Autor selbst hat eine Menge durchgemacht mit halluzinogenen Substanzen, viel länger und kompromissloser als vertretbar, aber da fängt es schon an: nach welcher Norm eigentlich vertretbar? Glumm hat sein Lebtag nie dem Anspruch stattgegeben, nach bürgerlich-profitablem Maßstab verwertbar zu sein.

Er hat sich diesem Verwertungsinteresse stets so konsequent verweigert, dass daraus nur Literatur werden konnte – mit der traurigen Pointe, dass bis heute kein Verlag den Mut oder das Können aufbrachte, Glumms antibürgerliche Lebensskizzen endlich zum überfälligen Kurzgeschichtenband oder, was gleichviel wäre, zum philosophischen Standardwerk zu verdichten und auf den Markt zu bringen.

Aber nicht nur an der Verlagsindustrie, auch am Autor kann die Fangemeinde in dieser Hinsicht bisweilen verzweifeln. Wenn man Glumm fragt, wann die Gräfin und er denn mit ihren kreativen Potenzialen endlich aus dem Schatten ins mediale Rampenlicht zu treten gedenken, dann sagt er typischerweise etwas wie: „Wir sind Kriechtiere, so was dauert bei uns unendlich lang.“

Dabei wäre es verdammt noch mal höchste Zeit, dass genau dies passiert. Dann würde einer noch größeren Kundschaft vor Augen geführt, dass es eben doch ein richtiges Leben im falschen gibt: eines, das allen Zumutungen der Außenwelt zum Trotz mit Gebrüll und Melancholie bis zur Neige gelebt wird. Ganz ohne Bausparvertrag.