Hallo, hallo, Hamburger Verkehrsverbund? Hier Kunde! Erde ruft sozialistisches Paralleluniversum: Kunde will nur fahren und ankommen, brumm, brumm, fertig! Kunde nix wolle duzi duzi! Kunde auch nix Politik-Reklame! Huhu, Krischan? Du und ich, wir bald wieder Freunde und Genossenbrüder? Hallo HVV, wolle machen besser!?
Moin Christian,
wir kennen uns nicht. Du, das macht aber nichts, denn in großen sozialistischen Kollektiven wie beispielsweise Volkseigenen Betrieben (VEB) kennen sich nicht zwangsläufig alle Mitmachenden. Und im VEB Hamburger Verkehrsverbund (HVV) sind wir alle ein großes Kollektiv.
Lass uns also für den Augenblick so tun, als ob wir Genossen und Brüder im Geiste Lenins wären. Ich, der Oliver, ein (nach-)namenloser Anwendungsfall des offenbar von dir organisierten „Marken-Relaunches“ des HVV – und du, der Christian, „verantwortlich für Markt und Customer Expericence“. Dein Nachname? Ebenso unwichtig wie meiner, denn Nachnamen existieren nicht für die lockeren, lustigen Vögel, die wir in deiner Gleichtakt-Gesellschaft alle sind.
In deinem Hamburger Kollektiv von HVV-Machenden und HVV-Fahrenden gibt es daher nur noch Menschen mit Vornamen, also ohne individuelle Identität. Menschliche Massenware wie die Markusse und … ähm … Christians in meiner alten Schule. Alle hier sind austauschbar, aber alle per du miteinander. Und nicht etwa per Du, denn schon die Großschreibung wäre zu viel der bürgerlich-reaktionären Ehre. Nein, im HVV sind auch die Omis und Opis total fresh, save, diverse, easy und eqal unterwegs. Weil sie es sein müssen. Die relaunchte Customer Experience („CX“) will es so.
Wenn so ein 57-jähriger Senior wie ich dann die monatliche Online-Rechnung für sein „Deutschlandticket“ erhält, dann jetzt als zeitgemäße CX wie folgt:
Total süß ist am Schluss, dass du mir von deinem „hvv switch Team“ auf diese Weise jeden Monat liebe Grüße ausrichten lässt. Das nenne ich CX! Da möchte ich doch gleich ganz lieb zurückgrüßen, euch alle natürlich, nicht nur dich, und tue das am Ende dieses Briefes auch. Aber vorher – wir sind in Hamburg – erst noch Butter bei die Fische:
Darf ich Krischan sagen? Ich bin der Olli! Weißt du, Krischan: Mit 57 Jahren hat man schon einiges erlebt, nicht nur sein 20-jähriges Abo-Jubiläum im HVV. Wenn man in der sogenannten Kommunikationsbranche unterwegs ist, hat man in dem Alter schon mit Bundesministern und mit Konzernchefs gespeist, was kein Ritterschlag ist, sondern der Job … oh, sorry, sehe gerade: Ich hätte „mit Bundesminister*innen und Konzernchef*innen“ schreiben müssen, denn das Gendern nahmt ihr beim HVV als Teil der neuen „CX“ schon im Mai 2022 sehr ernst.
Moment, wenn jetzt aber die konkreten Konzernchef*innen, die ich traf, zufällig alle männlich waren – dann muss ich den Wordteil nach dem Trenner * einfach weglassen, ja? Also männliche Mehrzahl „die Konzernchef“? Nee, sieht komisch aus. Oder hänge ich von den Konzernchef*innen nur das Pluralsuffix „-nen“ dran? Mithin männliche Form „die Konzernchefnen“? Auch doof. Wo ist bloß das altbekannte Plural-S für die Chefs geblieben? Gibt es heute keine mehr? Aber du bist doch auch einer von den Chefinnen*s! Nein, diese Gender-Grammatik! Muss wohl an mir liegen, dass ich damit nicht klarkomme.
Was ich schreiben wollte: Wenn man in diesen Kreisen am Tisch gesessen und Konversation betrieben hat (man könnte es auch Interviews nennen), dann war man eigentlich immer ganz froh um diese Distanziertheit, die das Deutsche mit der Sie-Form bot. Schließlich war eh klar, dass man als journalistischer Zaungast nicht zur Familie gehörte. Das „Sie“ war also ehrlich.
Und zweitens schützte das „Sie“ zumindest ansatzweise vor „Du Arschloch!“ im Kreis von Leuten, mit denen ich mich gar nicht duzen will. Nicht, dass das jemals gedroht hätte, man war ja kultiviert bei Tisch. Aber so sprachlich abgesichert war es eigentlich immer ganz in Ordnung.
Und jetzt habe ich es also im Kollektiv mit Menschen zu tun, die vermutlich 1/2 bis 2/3 so alt sind wie ich und die Anrede einfach mal ungefragt ganz anders angehen. Ich habe dann neulich bei deinem hvv switch Team – liebe Grüße! – angefragt, ob das eigentlich so sein muss, dass ich jetzt für euch der Oliver bin, obwohl ich euch gar nicht kenne und euch auch normalerweise gar nicht duzen geschweige denn von euch geduzt werden will.
Daraufhin bekam ich auch nach wenigen Tagen eine Antwort:
Zwar nicht per Anrede „sehr geehrt“, aber immerhin individuell gesiezt, benachnamt und nicht gegendert – geht doch! Und man respektiert ausdrücklich meinen Wunsch, zumindest dieses eine Mal. Denn am infantilen Kumpel-Geduze per Rechnungsmail hat sich hinterher natürlich trotzem nichts geändert. Kein Problem auch, dass es für mich als Problemkunden am Ende diesmal nur „viele“ statt „liebe“ Grüße gibt. Aber Krischan, wir müssen trotzdem reden.
Wenn einer sagt: „Wir begegnen unseren Kunden auf Augenhöhe“, die Kunden aber erleben diese Begegnung nur deswegen auf Augenhöhe, weil sie angesichts des Niveaus in die Knie gehen – dann ist das zwar formal korrekt, inhaltlich aber fragwürdig, oder?
Wenn einer sagt, er handle „aus einem Gefühl heraus, dieser Stadt und den Menschen verbunden zu sein“, aber Hunderttausende überwiegend ältere Menschen (zahlende Kunden) dieser Stadt höchst ungebeten ankumpelt – trügt dann das Gefühl nicht vielleicht einfach?
Und wenn einer behauptet, „Wir benutzen das Du nicht aus fehlendem Respekt, sondern aus einer neuen Haltung heraus“ – ist dann die neue Haltung nicht einfach doch die gute alte Respektlosigkeit, weil man die eigene progressive Attitüde über bewährte Konventionen erhebt, anderen sogar noch seine Sprachmarotten aufzwingt und vielleicht in Wirklichkeit bloß keine Umgangsformen gelernt hat?
Wer übrigens die „Nähe“ zu mir als Kunden sucht, der ist gut beraten, mir für mein sauer verdientes Geld einfach ein gutes Produkt zu verkaufen. Und euer Produkt heißt nicht Gender. Es heißt auch nicht Gleichheit. Oder Sozialismus. Sondern, ich darf daran mit allem „Respekt“ erinnern: Es ist eine Beförderungsdienstleistung von A nach B! Pünktlich, sicher, einigermaßen komfortabel und bezahlbar. Dann ist schon alles gut. Dann, und nur dann, habt ihr meine „Nähe“.
Was mich bzw. euch hingegen in eine unendliche Ferne versetzt, sind Anblicke wie dieser, wenn ich in der U3 an der Haltestelle Saarlandstraße aussteige:
Ja, das war vor einem Jahr. Da habt ihr diverse U-Bahn-Stationen einfach mal kurzzeitig umbenannt, um als zehntausendster Staatspropagandist auf den Klimawandel aufmerksam zu machen: Sahara = heiß! Ein Wortspiel aus der Hitzehölle. Du, das hat mich wirklich betroffen gemacht, Krischan.
Aber nur, weil ich zuerst nicht glauben wollte, dass sich ein Verkehrsverbund dazu aufschwingt, hier ungefragt und öffentlich Klima-Agitation zu penetrieren und ortsfremde Fahrgäste zu irritieren, die an der Saarlandstraße aussteigen wollen. Was glaubt ihr, wer ihr seid? Die Volkshochschule auf Rädern?
Echt mal, eure ebenso ranzigen wie muffigen Wokeness-Parolen könnt ihr euch sonstwo hinschmieren, am besten ins Fahrgestell, wo sie vielleicht wenigstens das Räderwerk ölen. Leider hilft das nicht dabei, Personal zur Wiederaufnahme all der in letzter Zeit durch Fahrermangel ausfallenden Busverbindungen zu finden.
Ich will auch gar nicht mehr von den drei unheilvollen Corona-Jahren anfangen, als digitalisierte Gouvernantenstimmen in Bahnen und auf Fähren uns mit cringe-würdigen Durchsagen über die Maskenpflicht, Impfzwänge und Beförderungsverbote für Menschen zweiter Klasse (Ungeimpfte) aufklärten.
Mich wundert eigentlich, dass ich eure Position zu Israel/Hamas noch nicht vom Bahnsteiglautsprecher vorgesungen bekommen habe. Denn auch beim Ukraine-Konflikt musstet ihr natürlich euren wertvollen Senf dazugeben:
„Stoppt den Krieg in 6 Minuten“, hihi! Eine Forderung, die wörtlich so von TWASBO übernommen sein könnte, nur ohne das sportliche Zeitlimit. Das Problem ist und bleibt: Ihr seid kein Nachrichtenmagazin, keine Bischofskonferenz und keine Landeszentrale für politische Bildung, sondern ein Nahverkehrsunternehmen. Was euch nicht vom Predigen auf allen Kanälen abhält. Aber sollte ich je wieder erzogen werden wollen, geh ich zu einer Domina, da stimmt wenigstens die CX.
Lass es mich noch mal in vier einfachen Worten ausdrücken, Krischan: Ihr. Habt. Kein. Mandat. Von niemandem. Ihr seid weder demokratisch gewählt noch das Sturmgeschütz der Demokratie. Weder zahlen wir euch Kirchensteuer, noch habt ihr die spirituelle Kompetenz des Dalai Lama. Selbst die ist übrigens begrenzt.
Ihr dürft uns Fahrgästen gern alle möglichen guten Wünsche oder auch Handlungsempfehlungen mitgeben, privat, nach Dienstschluss. Im freiwilligen Zwiegespräch an der Bahnsteigkante oder besser noch an der Bar. Und nicht per Rechnungsschreiben, Bestellbestätigung, Lautsprecherdurchsage, Leuchtschrift und schrecklich peinlichem Reklameplakat.
Wenn euch das nicht genügend Raum für euren politischen Missionierungszwang lässt, dann kündigt beim HVV und heuert bei den Grünen oder Linken oder anderen spinnerten Splittergruppen an, die das ungefragte Belehren und Bekehren nicht lassen können. Im Bundestag gibt es sogar Geld dafür.
Ach, entschuldige, Krischan, ich bin ein wenig emotional geworden. Aber du, das ist sicher gut so, wenn der Kunde seine Bauchgefühle mal ausleben kann im HVV. Wer verstünde das besser als du? Eine emotionale Customer Experience ist doch dein Kerngeschäft.
Liebe Grüße, bussibussi, auch ans hvv switch Team! Dein und euer
O. Kunde
P.S.:
In dem abgebildeten Antwortschreiben vom „hvv switch Team“ heißt es außerdem zur Duz-Problematik: „Leider haben wir keinen Einfluss auf die automatisch per Mail versendeten Rechnungen.“ So ein kollektives „Wir“ hat ja überhaupt meist keinen Einfluss auf nichts. Aber so ein Chef*in*um wie du, Krischan, der/die/das hat diesen Einfluss doch sicher?
Danke für den wunderbaren Text.
Ich fühlte mich gleich heimisch.
Grüße aus der Hauptstadt from „The LÄND“. Hier ist es nicht besser.
Gern geschehen. Sie haben es ja auch wirklich nicht leicht, da, wo Sie leben.
Zum Thema Vor- und Nachnamen habe ich – gut, ich bin tux0r, steht im Ausweis, das ist beide Namen in einem, aber darauf wollte ich jetzt nicht hinaus – tatsächlich einen Einwand: Nachnamen sind das Gegenteil von Individualität. Sie entstammen einer Zeit lange vor unserer Geburt, wurden meist nicht selbst ausgesucht und bezeichnen eben nicht das Individuum, sondern die Sippe. Kaum überraschend, dass man beim Militär und in anderen unappetitlichen Kontexten einander den Nach- und nicht den Vornamen entgegenbrüllt. Die vergleichsweise geringe Auswahl an Vornamen, die vom Amt genehmigt werden, steht dem ja nicht entgegen.
Das ist ja alles schön und richtig, was Sie schreiben. Aber ist der Gedanke nicht naheliegend, dass es die Kombination aus Vor- und Nachnamen ist, die dem Menschen eine (oft) unverwechselbare Identität verleiht? Der dazu unverzichtbare Nachname aber wird uns Zwangsgenossen selbst in der brieflichen Kommunikation einfach verweigert. Denn wir sollen austauschbar sein.
Sind Menschen, die zum Beispiel Andreas Schmidt oder Thomas Müller heißen, weniger austauschbar, wenn man sie mit vollem Namen nennt?
Vielleicht sollten wir die Staatsbürger wieder durchnummerieren, um eine eindeutige Kennzeichnung zu erwirken.