In den U-Bahnhöfen deutscher Großstädte zeigt derzeit eine Fotoausstellung ortsbezogen das Leid der Zivilbevölkerung im Ukraine-Krieg. Sie dokumentiert sachlich, bewegt emotional – und lässt doch das Gefühl zurück, dass dringend noch eine weitere Ausstellung benötigt würde. Warum zeigt die eigentlich niemand?

Was Sie sehen: das digitale Werbeplakat für die Fotoausstellung „Next Station Ukraine“. Sie ist derzeit unter anderem in Berliner und Hamburger U-Bahnhöfen plakatiert und greift diese Umgebung inhaltlich auf: Gezeigt werden Fotos und Texte ukrainischer Journalisten, die den Alltag in den U-Bahn-Schächten ihrer Heimatstädte nach Beginn des russischen Angriffs im Februar 2022 dokumentiert haben. Zu sehen sind Momente aus einer improvisierten Untergrund-Welt, in der die schutzsuchende Zivilbevölkerung sich aufgrund der Raketenangriffe und des Beschusses teilweise monatelang einrichten musste.

Was Sie sehen: Die Ausstellung zeigt in nüchtern dokumentarischen und gerade dadurch eindrucksvoll emotionalen Bildern das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung, etwa in der Stadt Charkiw. Dort wurde der U-Bahnbetrieb zu Beginn der russischen Invasion eingestellt, damit sich die Bewohner der Stadt Behelfsunterkünfte in den Waggons und auf den Bahnsteigen einrichten konnten (Plakat links oben). In der ersten Nacht des russischen Angriffs suchten die Einwohner Kiews Schutz auf den blanken Treppenstufen ihrer U-Bahn (Plakat rechts oben).

Was Sie sehen: ein Bild aus einem Videofilm, der auch die Situation der Kinder im Labyrinth der unterirdischen U-Bahn-Schutzräume der Ukraine in den Blick nimmt. Kinder, deren Verständis der lebensbedrohlichen Situation noch nicht ausreicht, erleben das ihnen und ihren Familien aufgezwungene Untergrund-Dasein als eine Mischung aus Albtraum und surrealem Abenteuer. Beides können sie sich nicht erklären und versuchen intuitiv, mit den Umständen zurechtzukommen.

Was Sie sehen: einen U-Bahnsteig in der ukrainischen Stadt Charkiw, in dem sich die Menschen im Mai 2022 nach andauernden Raketenangriffen eine Art Alltagsleben unter der Erde eingerichtet hatten. Dazu zählten auch alltägliche Dienstleistungen wie das Haareschneiden oder die Maniküre.

Was Sie sehen: einen kleinen und sorgfältig fokussierten Einblick in einen großen Konflikt. Plakat für Plakat, Bild für Bild dieselbe Botschaft: Die Menschen in der Urkaine leiden unter der russischen Invasion. Mehr wird hier nicht erzählt und nicht erklärt. Aber das ist auch nicht notwendig. Warum und in wiefern das ein historisch fast einmalig bösartiger und verbrecherischer Angriffskrieg ist – an Unrecht nur übertroffen von der deutschen Invasion der Sowjetunion 1941 –, darüber informieren uns alle deutschen Medien von Tagesschau bis Tagesspiegel ohnehin jeden Tag.

Wer in einem Krieg die Seite der leidenden Zivilbevölkerung ergreift, verdient Respekt als Anwalt der Menschenwürde. Vielleicht weckt die Ausstellung bei den Vorübergehenden das Bedürfnis, für die Opfer zu spenden. Oder die Bilder lösen bei den U-Bahn-Passanten das Gefühl aus, gemeinsam mit den Ukrainern im Lager der Guten und Anständigen zu sein, im Lager der „westlichen Wertegemeinschaft“, das sich einem erbarmungslosen Angriffskrieg durch das Lager des Bösen ausgesetzt sieht. Wie auch immer: Es ist eine Ausstellung für Menschlichkeit. Sehr gut!

Und jetzt brauchen wir noch eine zweite Ausstellung. Eine, in der man sieht, was man hier nicht sieht.

Was Sie nicht sehen: den seit 2014 andauernden Beschuss von zivilen Wohngebieten in Städten mit russischsprachiger Bevölkerungsmehrheit der osturkrainischen Region Donbass. Verantwortlich dafür waren und sind das ukrainische Militär und ihm verbundene Freischärlereinheiten. Betroffen waren und sind beispielsweise Luhansk und die Millionenstadt Donezk, die fünftgrößte Stadt der Urkaine.

Die Folgen dieses seit neun Jahren andauernden „Straf-Beschusses“ hat ein offizieller Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) dokumentiert: Zwischen 2017 und Mitte 2020, vor Kriegsbeginn, entfielen ungefähr 70 Prozent aller zivilen Opfer von Beschuss und Minen in der Urkaine auf nicht von der Regierung kontrollierte Zonen des Donbass – also auf die Bevölkerung der prorussisch orientierten Separatistengebiete. Dieser andauernde Staatsterror gegen seine exterritorialen Minderheiten war eine der Begründungen Russlands für die Invasion der Ukraine im Februar 2022. Er kann einen Angriffskrieg nicht rechtfertigen. Aber es litten und leiden nicht nur die Zivilisten der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung unter der letztlich kriegerisch eskalierten Lage.

Eine Ausstellung, die das zeigt, relativiert nicht das Leiden der Menschen in den U-Bahnstationen. Sie trägt dazu bei, das ganze Bild zu erkennen.

Was Sie nicht sehen: den Einsatz US-amerikanischer Streubomben, englisch „cluster bombs“, durch die ukrainische Armee gegen russische Stellungen. Streubomben bilden einen Bombenteppich aus Hunderten bis Tausenden kleiner Einzelsprengkörper, die simultan über einem größeren Zielgebiet explodieren. Ihr Einsatz ist vor allem gegen ungepanzerte, sogenannte weiche Ziele wirksam, insbesondere große Gruppen von Soldaten, aber auch Zivilisten. Ein bedeutender Anteil der Einzelbomben explodiert beim Aufschlag nicht sofort, sondern bleibt als Blindgänger im Abwurfgebiet liegen und macht es langfristig unbenutzbar. In der Langzeitwirkung entsprechen Streubomben daher Landminen.

Wegen ihrer vor allem für Zivilisten verheerenden Einsatzfolgen haben sich im Jahr 2010 nicht weniger als 111 Nationen – darunter Deutschland – durch eine Konvention verpflichtet, auf Entwicklung, Beschaffung und Einsatz dieser Waffensysteme zu verzichten. Die USA, die Ukraine und Russland gehören nicht zu den Unterzeichnerstaaten. Russland setzt im Ukraine-Krieg Streumunition ein, über zivile Opfer wurde mehrfach berichtet. Vor wenigen Wochen beschloss US-Prädident Biden (Democrats) im Rahmen der Unterstützung einer ukrainischen Gegenoffensive, US-amerikanische Streumunition an die Ukraine zu liefern. Deren Armee begann sofort mit deren Einsatz auf dem eigenen Staatsgebiet, der nach russischen Angaben auch bereits zivile Opfer gefordert hat. Die Bundesregierung kritisierte ihre amerikanische Führungsmacht für die Streubombenlieferung nicht. Sie liefert vielmehr selbst hochmoderne Angriffswaffen an die ukrainische Kriegspartei.

Eine Ausstellung, die das zeigt, macht nicht Täter zu Opfern. Sie trägt dazu bei, den Zynismus der Kriegsparteien offenzulegen.

Was Sie nicht sehen: die fortdauernde Strategie der Erweiterung der Nato nach Osten, der Schwächung und Einschnürung Russlands, die bereits in den Wirren des Zerfalls der ehemaligen Sowjetunion nach 1991 begann. Die übriggebliebene Weltmacht USA und ihre global agierenden Konzerne nutzten damals die Gunst der Stunde, um den geopolitischen Einfluss Russlands zu schwächen und möglichst einen ökonomischen Zugriff auf seine unermesslichen Bodenschätze zu erlangen. Eindrücke davon vermittelt die hervorragende, sechsteilige BBC-Dokumentationreihe Trauma Zone. In den folgenden Jahrzehnten betrachtete der von den USA geführte Westen den neuen starken Mann Russlands, Putin, zu keinem Zeitpunkt als Verhandlungsparter auf Augenhöhe. Das ließ er die russische Seite auch immer wieder spüren – selbst, als diese konstruktive Vorschläge für eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur vorlegte.

Vielmehr bauten die USA die Ukraine systematisch zu einem Brückenkopf ihrer eigenen Interessensphäre aus, um dem Staat im „Hinterhof“ Moskaus mittelfristig ebenfalls die Nato-Mitgliedschaft antragen zu können. Dazu würde zuletzt auch die Stationierung amerikanischer Atomwaffen gehören, für Russland eine ganz und gar inakzeptable Bedrohung. Alle diese überaus komplexen und teils verborgenen Vorgänge passen natürlich nicht in die emotionale Bilder-Ausstellung „Next Station Ukraine“. Sie wären bloß notwendig zum Begreifen des Unbegreiflichen: warum Russland trotz aller voraussehbarer Sanktionen und Waffenhilfen das militärische Abenteuer im Nachbarland riskierte. Und warum Zivilisten in ukrainischen U-Bahnhöfen ausharren mussten.

Eine Ausstellung, die das erklärt, „versteht“ nicht Putin. Schon eher hilft sie, das Handeln der USA verständlich zu machen.

Was Sie nicht sehen: dass die Zivilbevölkerung in jedem Konflikt dem Terror und der Gewalt nicht nur einer einzigen Seite ausgesetzt ist. Wer das unterschlägt oder nicht wahrhaben will, wird vom Anwalt der Schwachen zum Propagandisten. Wer die Kriegsleiden nur einer Seite anerkennt, entspricht den Interessen nur einer Seite. Wer Hintergründe und Zusammenhänge konsequent ausblendet, muss sich fragen lassen warum. In jedem Krieg gibt es viele Wahrheiten, viele Ursachen und viele politisch-wirtschaftliche Interessen. Das ist kompliziert, verwirrend und erschütternd für ein geschlossenes Weltbild, das nur einen diabolischen Agressor und einen heldenhaften Verteidiger zulässt.

Eine Ausstellung, die das bewirkt, schadet nicht demokratischen Überzeugungen. Sie befähigt erst dazu.

Was Sie nicht sehen: warum wir solche Ausstellungen nicht zu sehen bekommen – weder auf den Bahnsteigen der U-Bahn noch auf den Plattformen der „Qualitätsmedien“. Das Vermitteln komplexer und teils unbequemer Zusammenhänge ist offensichtlich nicht im Interesse einer Allianz aus wechselnden Partnern, wie sie derzeit in ähnlicher Zusammensetzung an vielen Orten unser Bild vom Ukraine-Krieg prägt. Die Fotoschau wurde von „N-Ost“ konzipiert, einer von zahllosen jüngst aus dem Boden geschossenen Non Government Orgazisations (NGOs), also „Nichtregierungsorganisationen“, in diesem Fall mit journalistischem Profil. In ihrer kurzen Existenzzeit hat sich die NGO laut Selbstauskunft mit „investigativen Recherchen“ und Dokumentationen bereits einer Fülle von Osteuropa-Themen gewidmet. Unter anderem enttarnte man „russische Desinformation“.

Nichtregierungsorganisationen und Medien-Netzwerke mit solch einem Portfolio erhalten derzeit für entsprechende Projekte finanzielle und logistische Unterstützung durch Regierungsorganisationen. Ebenso durch hochvermögende „Philanthropen“ und deren globale Stiftungen oder reichweitenstarke Großunternehmen. N-Ost bekam sie hier von der Ströer SE & Co. KGaA, einem Außenwerbungs- und Medienkonzern mit Sitz in Köln, dem unter anderem die regierungsnahe News-Plattform „T-Online“ gehört. Ströer stellt seine Werbeflächen für die Ausstellung zur Verfügung. Außerdem förderte das Bundesaußenministerium, dessen Logo ebenfalls kaum lesbar die Plakate ziert, das Projekt.

Als „NGO“ ist N-Ost zudem mit einer ganzen Phalanx an Stiftungen und dezidierten Staats- und Superstaatsgebilden vernetzt: von der Allianz Foundation bis zum Visegrad Fund, von der OSZE bis zur EU-Kommission. All diese Institutionen haben sich ausdrücklich oder implizit dem Kampf gegen „Desinformaton“ durch finstere, undemokratische Mächte verschrieben. Würden sie die unabhängige Journalisten-NGO auch fördern, wenn diese über amerikanische Desinformation oder über zivile Opfer in den prorussischen Gebieten der Ukraine berichten wollte? Würde eine grüne Außenministerin sie fördern, die Russland bereits einmal in einem Nebensatz den Krieg erklärt hat?

Das fürchterliche Gemetzel im Osten Europas muss möglichst rasch beendet werden, im Interesse der Zivilbevölkerung gleich welcher politischen Orientierung, bevor es noch auf uns alle übergreift. Ein vollständiger militärischer Sieg einer der beiden Parteien wird aber Illusion bleiben, wer auch immer diese Illusion aus welchen Gründen auch immer nährt. Der Krieg wird nur über Verhandlungen, einen Waffenstillstand und einen Friedensvertrag zu beenden sein. Und der Weg dorthin führt nicht über Ausblenden und Vasallentreue, sondern über das Verstehen der Bedürfnisse und Leiden aller Beteiligten. Wir haben keinen Einfluss auf Putin. Auf die Vertreter der „westlichen Wertegemeinschaft“ schon.


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