Wir leben in einer Welt der Bilder. Eine Billiarde Handyfotos von halbverzehrten Mahlzeiten verstopft das Internet. Doch das ist nichts gegen das visuelle Inferno von reCAPTCHA. Wer nie wissen wollte, wie sinnlos hässlich die Welt und was für eine Sklavenseele er selbst ist, erfährt es zwangsweise trotzdem – beim Lösen der demütigendsten aller Bilderrätsel.
Das Schlimmste sind die Ampeln. Wenn die Ampeln kommen, bin ich aufgeschmissen. Zebrastreifen sind was anderes, mit Zebrastreifen kann ich umgehen. Fahrräder? Kein Ding! Taxis, Treppen, Busse, Palmen … ich finde sie alle. Ich bin vermutlich der sicherste Palmenspotter westlich von Wolfenbüttel. Hat es kranzförmige, zerfranste Blätter oben dran und sonst nur einen nackten Stamm, der aussieht wie ein Handymast? Zack, Palme!
Palmen erkenne ich bei Nebel, verwackelt, schief, überbelichtet, in mondloser Nacht. Im Lauf der Zeit bin ich zum Spezialisten für selbst grobkörnigste Palmenfotos geworden, sodass zwei, drei einzelne Palmenpixel ausreichen, und ich bekomme ein weiteres Mal vom Computer bestätigt, kein Computer zu sein. Bzw. kein „Roboter“.
Aber die Ampeln stellen mich vor ein ernstes Problem: Was gehört zu einer Verkehrsampel? Nur der Teil mit den roten, gelben und grünen Leuchten, von denen manchmal sogar bloß die Rückseite im Bild ist – oder auch der graue, hässliche Mast? Ist ein Ampelmast identisch mit der Ampel selbst, weil ohne den Mast die Leuchten nicht dort oben hängen würden, wo sie hingehören?
Ich will solche Fragen nicht beantworten müssen. Ich will sie mir nicht einmal stellen müssen. Nicht später, nicht niemals. Aber besonders nicht jetzt, wo ich einfach bloß versuche, im Internet diese Seite da aufzurufen. Oder mich für diesen Newsletter da anzumelden. Was nicht geht, ohne das zuvor korrekt angeklickte reCAPTCHA. Alle Bilder mit Ampeln. Und nicht die ohne Ampeln. Diskutiert wird nicht.
ReCAPTCHA. Die Großbuchstaben in diesem Begriff aus dem Internet-Wörterbuch des Unmenschen stehen für „Completely Automated Public Turing Test to tell Computers and Humans Apart“, oder auf Deutsch ungefähr: „Vollständig automatisierter öffentlicher Turing-Test, um Computer von Menschen zu unterscheiden“. Wer auf bestimmte Webseiten will, muss erst diesen Test bestehen und damit beweisen, dass er kein Computer-Bot ist. Denn Bots will niemand auf seine Seite lassen. Statt intelligenter Leserkommentare zum Beispiel hinterlassen sie bloß Investment-Offerten nigerianischer Prinzen mit unglaubwürdig hohen Renditen.
Nun möchte aber andererseits kein vernünftiger Erwachsener jemals in seinem Leben in eine Situation kommen, in der er aufgefordert wird, alle Felder mit Feuerhydranten auszuwählen – und dann versucht er diese Aufgabe auch noch nach besten Kräften zu lösen. Warum will man das nicht? Weil es entwürdigend ist. Weil es erschreckend dem Idiotentest ähnelt, um den es sich auch tatsächlich handelt.
Ich meine, nichts gegen Feuerhydranten. Es sind eigentlich nette, knuffige Kerlchen mit drollig ausgebreiteten Stummelärmchen. Aber hätte die Evolution beschlossen, dass es für Zweibeiner nützlich sein könnte, alle Felder mit Feuerhydranten anzuklicken, dann hätte sie uns dafür sicher ein eigenes Organ wachsen lassen. Eines mit eingebautem Feuerhydrantensensor, das dann einen Muskel aktiviert, der den Feuerhydranten auswählt.
Hat sie aber nicht. Stattdessen hat sie uns Allzweckwaffen wie Augen, Arme und ein hoch entwickeltes Gehirn gegeben. Mit denen lassen sich unendlich viel nützlichere Dinge verrichten, und man verliert nicht jedesmal zehn Sekunden unwiederbringliche Lebenszeit dabei. Einer der ursprünglichen Entwickler des CAPTCHA-Sicherheitstests, Luis von Ahn, gestand sich laut Wikipedia später selbst ein: „Er hatte ungewollt ein System erschaffen, das in Zehn-Sekunden-Schritten Millionen Stunden einer äußerst wertvollen Ressource verschwendete: menschliche Hirnschaltkreise.“
Selbst mit dem Finger auf der Fernbedienung das ZDF anzuklicken, um dann das heute journal zu schauen, ist sinnvoller, als alle Felder mit Feuerhydranten auszuwählen. Na ja, schlechtes Beispiel vielleicht. Das einzig Gute, das sich über Felder mit Feuerhydranten sagen lässt: Es gibt keine Felder mit Feuerhydrantenmasten, die dazugehören könnten oder auch nicht. Meist ist ein Feld mit einem Feuerhydranten ganz gut vom Rest der Welt zu unterscheiden:
Allerdings komme ich auch beim idiotenfreundlichen Feuerhydranten nicht umhin, ihm und seinesgleichen eine atemberaubende Hässlichkeit zu attestieren. In der Welt der reCAPTCHAS, in der ich im Internet zunehmend gefangen bin wie Bill Murray in „Täglich grüßt das Murmeltier“, ist überhaupt alles atemberaubend hässlich. Das liegt daran, dass reCAPTCHA-Fotos aus dem unermesslichen Fundus der automatisierten Straßenfotografie von Google StreetView entnommen werden und der größte Teil davon wiederum in den USA aufgenommen wurde. Auch reCAPTCHA, mit dem Sie hier kostenlos herumspielen können, gehört natürlich Google.
US-Städte sind aber nun mal der Inbegriff von Hässlichkeit. Vor allem die grauenhaften Suburbia-KFC-Waschstraßen-Wallmart-White-Trash-Betonwüsten des Mittleren Westens. Der Inbegriff dieses Inbegriffs von Hässlichkeit wiederum sind die Ampeln. Die sind in den USA aus unerfindlichen Gründen immer auf der entfernten Seite der Straßenkreuzungen angebracht, da, wo man bei Grün erst noch hinkommen möchte. Und sie werden supergerne an Quermasten über die ganze Breite des Highways aufgehängt. Und meist noch mit irgendwelchen Elektrokabeln garniert wie mit Weihnachtsgirlanden. Uärks. Willkommen in meiner CAPTCHA-Welt.
Mein Gott, dieses Universum ist aber auch hässlich. Je mehr man sich darin vertieft, desto dramatischer wird es im Detail. Schauen Sie sich doch nur den obersten linken Quadranten an. Ist das wirklich die Welt, in der wir heute leben? Eine pink asphaltierte Straße, die ich anklicken muss, um alle Fußgängerüberwege abzuhaken? Dagegen ist ja selbst die Baerbocksche Dorfstraße fast geschmackvoll gestaltet. Übrigens: Der rechte Quadrant ganz unten zeigt eine Palme. Ich bin absolut sicher. Ich kann das inzwischen sogar ohne Blätter erkennen, nur am Stamm. Aber nützt es mir was? Nein. Fußgängerüberwege wollen sie schon wieder. Oder es geht nicht weiter. Keine Ausnahme, keine Diskussion.
Keine Angst jedoch, wenn Sie nicht auf Anhieb die drei versteckten Ostereier finden. Dann folgt gleich das nächste reCAPTCHA. Um Ihnen noch eine Chance zu geben, sich etwas weniger blöd als der Bot anzustellen. Und dann noch eine, und noch eine. Dabei summiert sich die verlorene Lebenszeit: plus zehn Sekunden, plus weitere zehn, plus weitere … und schon ist Ihr Leben vorbei. Wir lernen aber: Es ist dieses Leben selbst, das in all seiner Einfalt hässlich ist.
Und da hilft es auch nichts, dass immer mal wieder ein knuffiger Feuerhydrant mit Tropenhelm im Bild ist – nein, geben wir es nur zu: Der Großteil der Welt, durch die wir uns täglich bewegen, sieht aus wie die Kachel unten links in der folgenden Sechsergruppe. Oder meinetwegen unten Mitte, wenn wir viel Glück haben. Und dann müssen wir auch schon wieder Treppenhäuser wie das unten rechts emporsteigen, weil der Aufzug kaputt ist. Um uns, oben angekommen, final in die Tiefe zu stürzen. So hässlich ist das alles.
Warum gibt es eigentlich noch nicht das reCAPTCHA „Wählen Sie alle Felder mit Leichenteilen“? Vor meinem inneren Auge ersteht eine in neun saubere Kacheln zerteilte Landschaft mit Äckern voller Arme, Beine und … sonstigem. Es wäre so angemessen. Hier wird uns das Leben so realistisch gezeigt wie nirgendwo sonst.
Aber in der Welt, mit der uns reCAPTCHA gegen unseren Willen immer dann konfrontiert, wenn es gerade überhaupt nicht passt, liegen noch mehr tiefe Weisheiten verborgen. Zum Beispiel: Moderne, hochautomatisierte künstliche Intelligenz ist auch nicht dümmer als die meisten Menschen. Würden die Grünen auf die Idee kommen, als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme fortan alle reCAPTCHAS von 520-Euro-Jobbern handfotografieren zu lassen – das Ergebnis sähe auch nicht anders aus. Wenn ich so durch die Straßen gehe und mir anschaue, was und vor allem wie echte Menschen mit ihren Handys fotografieren: reCAPTCHA, übernehmen Sie!
Falls Sie sich fragen, warum all diese Bilderchen nicht nur schief und krumm sind wie aus der frisch operierten Hüfte geschossen, sondern so grobkörnig wie Paparazzi-Fotos von Lady Dianas Wagen im Tunnel, dann gibt es darauf eine überraschende Antwort: weil das Computer-Bots noch mehr ärgert als Menschen. Unsere Bio-Gehirne können sich einen derart verunstalteten Bildinhalt immer noch besser zusammenreimen, als eine Schadsoftware das könnte. Vielleicht, weil wir aus Erfahrung fatalistisch sind und wissen: Die Welt an sich ist beschissen, stinkt und wird nicht besser, wenn man sie scharfstellt. Eine KI hingegen geht vermutlich davon aus, dass die Welt ihrer Schöpfer perfekt ist und auch so aussieht. Sieht sie nicht so aus, ist die KI beleidigt und geht nach Hause.
Die Erfinder von reCAPTCHA scheinen aber berücksichtigt zu haben, dass selbst Menschen von einem Übermaß an Hässlichkeit zu sehr deprimiert werden können, um ihre Sicherheits-Bilderrätsel noch lösen zu wollen. Sie bieten deshalb am unteren Rand ihres Foto-Mosaiks eine zweite Variante an: das Audio-reCAPTCHA. Das macht es leider nicht besser. Statt des grobkörnigen Bilderrauschens nutzen sie hier das bekannte akustische Hintergrundrauschen, um den Bot zu verwirren. Und sie wählen völlig willkürlich ausgewählte Tonfetzen gesprochener Sprache aus vermutlich schlimmen Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die soll man dann wortwörtlich sinnwahrend verschriftlichen. Viel Spaß mit Beispielen wie diesem:
„Obastaffnkräffnun“? Kann man das so sagen? Und was noch viel bekloppter ist: Kann man das so hinschreiben? Wie schreibt man das? Vielleicht doch eher „Oba Stafftn Kräftn-uhn“… hallo, Duden? Keine Antwort. Es klingt wie ein Ausschnitt aus der Führerrede in Chaplins „Großem Diktator“. Nehmen wir lieber das nächste Audio-reCAPTCHA:
Äh … ja. Sehen Sie, das ist Demütigung! Ein älterer, distinguierter Herr, der bislang zehn Bücher eigenhändig verfasst und sogar mal einen Literaturpreis gewonnen hat, wird gezwungen, so etwas hinzuschreiben:
Aus unerfindlichen Gründen fand reCAPTCHA, dass meine Hörtextwiedergabe so in Ordnung war. Aber das half nur bedingt weiter, denn nun erschien in alarmroter Schrift der Hinweis: „Es sind mehrere richtige Lösungen erforderlich. Bitte weitere Aufgaben lösen.“ Gern. Wo wir uns gerade so nett unterhalten und ich nichts Besseres zu tun habe.
Zehn Sekunden Lebenszeit. Tick, tack, tick, tack …
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Top 10 Worst Captchas
https://web.archive.org/web/20190125172637/http://www.johnmwillis.com/other/top-10-worst-captchas/
Ich finde die Captchas auch sehr nervig und versuche sie zurück zu nerven. Ich meine, mal irgendwo gelesen zu haben, dass sie mittlerweile verwendet werden, um Trainingsdaten für maschinelles Lernen zu generieren und häufig nur beim ersten von zwei die Ergebnisse bekannt sind.
Seitdem lasse ich absichtlich manchmal Teile von Ampeln weg, also auch von den Kästen mit den Lichtern drin, nicht nur die Masten. Und in den meisten Fällen wird es trotzdem akzeptiert.
Die nordamerikanischen Ampeln auf der anderen Kreuzungsseite fand ich bei einem Aufenthalt dort hingegen sehr praktisch, da man, wenn man als erster an der Ampel steht, nicht so komisch den Kopf verdrehen muss, um noch erkennen zu können, wann die Ampel auf grün springt.