Nach fast zwei Jahren Corona-Krise wird immer deutlicher: Viele Menschen sind heillos verstrickt in einen Knäuel aus Angst, Kontrollzwang und Aggression gegen Andersdenkende. Wie konnte es zu dieser Massenpsychose kommen, in der irrationale Handlungsmuster zur Bürgerpflicht aufstiegen?

Nichts klingt derzeit charakteristischer für den Zustand des Landes als das nahezu frivole Bekenntnis „Ich will ich“. Unter dieser Überschrift listet ein Autor der ZEIT die „fesselndsten Texte“ der Gegenwart auf, allesamt „autobiografischer Natur“ und damit Abbilder unserer Zeit: Es handelt sich um die Identitätssuche homosexueller Männer aus der Provinz, die mit ihrem Erfolg in der Großstadt nicht klarkommen; einen „queerfeministischen Ansatz“ zur Entlarvung von Sexismus; die In-vitro-Fertilisation einer Lesbierin; Klagen über White Supremacy – und das Rührstück, wie aus einem jugoslawischen Kind ein deutscher Schriftsteller wurde. Damit identifiziert der ZEIT-Autor unwillkürlich den ersten von fünf Faktoren, die zur pathologischen Formierung der Gesellschaft in der Corona-Krise geführt haben:

I. Egokult

Wo das eigene „Ich“ ohne Rücksicht auf die Befindlichkeit anderer als Absolutum in den Mittelpunkt rückt wie in all diesen Geschichten, darf man getrost die Diagnose Egoismus bemühen. „Ich will Ich“ ist der schamlose Höhepunkt einer Entwicklung, die den Einzelnen zum Maß aller Dinge setzt. In banalsten Alltagssituationen ist zu beobachten, wie sehr sich sozial inkompatible Ichbezogenheit ausgebreitet hat: Wer als Autofahrer eine Parklücke erspäht, stellt sein Gefährt bequem quer über zwei Parkplätze – was schert ihn das gleichberechtigte Bedürfnis seiner Mitmenschen.

Der zeitgemäße Bruder des Egoismus ist ein sich immer mehr ins Rauschhafte steigernder Bohei um die eigene Befindlichkeit, wie ihn die ZEIT durchdekliniert. Einst zu Hause im (sozial)pädagogischen Milieu, hat das stete Kreisen ums „Wie fühlen wir uns heute?“ die esoterischen Zirkel verlassen – Introspektion ist Allgemeingut geworden. Was lange als zu intim für die Öffentlichkeit galt, wird nun grell erleuchtet ausgestellt, ob sexuelle Orientierung oder Krankheit. Autobiographische Bekenntnistexte schießen wie Unkraut aus dem Boden, um jedem, der es nicht hören will, Details des Seelenlebens uns Unbekannter aufzudrängen, stets hart am Wind des Zeitgeistes segelnd. Die Tyrannei der Befindlichkeiten hat große Teile der Wissenschaft befallen, den Journalismus fast gänzlich zerstört und die Gesellschaft anfällig für manipulative Erzählungen gemacht, die persönliche Betroffenheiten wie Ängste zum Maß aller Dinge erheben: Die Corona-Zwangsgemeinschaft ist eine Geburt aus dem Geist des Egoismus.

Eine vernunftgeleitete Unterscheidung in Realängste und paranoide Konstruktängste hat der egoistische Mensch allerdings verlernt – ersteres würde ihn im Falle der Pest zu einer strikten Abschottung veranlassen, letzteres ist die Ausgeburt von Hysterie im Falle einer Ansteckungskrankheit, deren Todesrisiko für die meisten Menschen geringer ist als die Teilnahme am Straßenverkehr. Allzu viele haben in der beschriebenen Selbstbespiegelungsspirale eine Hypochondrie entwickelt, einhergehend mit einem „aseptischen Gesundheitsverständnis“ (Heribert Prantl). Es wurde lange vor Corona gezüchtet, etwa indem man Kinder mit möglichst totaler Sterilität vor jedem Krankheitserreger schützen will, statt sie wie früher Sand essen zu lassen, ohne in Panik zu verfallen.

„Es kann Situationen geben, in denen derjenige hysterisch ist, der nicht schreit.“ So verteidigte die ZEIT im September 2019 die Hysterie, die Greta Thunberg gerade der UN-Vollversammlung mit hassverzerrtem Gesicht entgegengeschleudert hatte: „How dare you?“ Subtext: Alle Greta-Kritiker mögen einsehen, dass wir uns in einer Situation befinden, in der zu viele hysterisch sind, weil sie nicht verbal Amok laufen. Das klingt verquer – und ist es auch. Aber diese (Un)Logik scheint nicht wenige Zeitgenossen zu überzeugen. In der Corona-Krise wurde die Hysterie-Pflicht geradezu zur Staatsräson erhoben. Dass hysterisierende Schlagzeilen sich nach allgemeiner Auffassung von Medienschaffenden besser verkaufen als Analyse und Besonnenheit, tut sein Übriges.

Ein gangbarer Weg zwischen Individuum und Staat? Stefan Kofler, Gemeinsinn und Pflicht. Der Kommunitarismus als Fundament für eine neue Wirtschaftsordnung. Manuscriptum, Lüdinghausen 2021.

II. Bindungslosigkeit

Wenn jeder zweite US-Amerikaner in einer Umfrage zugibt, keine befriedigenden Beziehungen außerhalb der Virtualität des Internets zu haben, muss man wohl von einer „Epidemie der Einsamkeit“ sprechen. Soziale Bindungen sind Mangelgut in einer entkoppelten Gesellschaft mit ihren sozial atomisierten Individuen, die zudem neue Unsicherheiten der Lebensplanung ertragen müssen, die nur „Der flexible Mensch“ (Richard Sennett) bewältigen kann. Was Globalisten als Chance preisen, die Ortlosigkeit des modernen Arbeitsnomaden als „Anywhere“, erweist sich als krankmachend, ebenso die Entgrenzung von Arbeit aus allen Verortungen unter den Auspizien einer „Digital Boheme“. Erschreckend ist der Befund, dass zwei von drei Berufstätigen ihre Arbeit als „Bullshit Job“ (David Graeber) empfinden – als sinnlos.

All diese Faktoren bedingen sich gegenseitig und schaukeln sich auf: Wer sich sozial ausgegrenzt fühlt und dem Leben wenig Sinn abgewinnen kann, entwickelt schwer zu kontrollierende Ängste und gerät in eine Frustrationsspirale, ohne sich der Ursachen bewusst zu sein. „Wenn unter diesen Bedingungen“, so der Psychologe Mattias Desmet, „eine Erzählung verbreitet wird, die auf ein Objekt der Angst hinweist und eine Strategie für den Umgang [damit] liefert, [kann] die frei schwebende Angst mit dem Objekt, das in der Erzählung angegeben wird [konkret: dem Virus], verbunden werden.“ Viele wollen an diese Erzählung glauben, auch wenn sie völlig absurd ist. Denn sie ermöglicht soziale Bindung und weist der angestauten Frustration endlich einen Sündenbock zu: diejenigen, die an der Massen-Formierung nicht teilnehmen wollen. „Es ist immer möglich“, so Sigmund Freud in „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930), „eine größere Menge von Menschen […] aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben.“

Traditionell geben „Institutionen“ (Arnold Gehlen) wie Staat, Kirche, Familie Sicherheit. Der linke Bildersturm hat kräftig am Bestand dieser Ordnungen gerüttelt. In jüngster Zeit häufen sich Versuche, manche Institution endgültig zu delegitimieren. Ein sensibles Gleichgewicht kommt ins Rutschen; ist der Kipppunkt erreicht, können gefledderte Institutionen ihre Entlastungsfunktion nicht mehr erfüllen – und lassen den Vereinzelten überfordert zurück. Mancher flüchtet sich in Lustbefriedigung via Playstation und Konsum, selten zu seinem Nutzen und Frommen: Depressive Hedonie nennt Mark Fisher den Zustand, in dem permanente Unterhaltung von der Unzufriedenheit ablenken soll. Jenen, die sich nach Ordnung sehnen, suggeriert das Korsett namens Corona-Maßnahmen geordnete Verhältnisse – nach dem Motto: besser Halteseile, die fragwürdig sind, als gar keine.

Was Globalisten als Chance preisen, die Ortlosigkeit des modernen Arbeitsnomaden als „Anywhere“, erweist sich als krankmachend

Die Entfremdung des modernen Menschen von der Natur, vom „Heiligen“ (Mircea Eliade), das Welt und Mensch zusammenhält, von allen Traditionen und Bindungen, letztlich von sich selbst, hat in unserer sterilen Plastik- und Bürowelt dramatische Züge angenommen. Es dürfte keine allzu gewagte These sein, dass der entfremdete Mensch anfälliger für die Sirenentöne der Corona-Apokalyptiker ist als derjenige, der noch eine Ahnung hat von der natürlichen Position des Menschen im Kosmos. Die Fülle des Lebens ist eben keine „Jauchegrube chemischer Stoffe“ (Giordano Bruno), sondern „beseelter Schoß und Lebenszusammenhang aller Erscheinungen“. Wer als unreflektierter Insasse vollklimatisierter Kunstwelten jeden Regentropfen und jeden Lufthauch fürchtet, dem ist auch leicht Angst einzujagen vor einem Virus.

Ein radikaler Individualismus, geboren aus der Demontage institutioneller Ordnungen, erzeugt fast zwangsläufig Leerstellen, vakuum-artige Verlassenheits-Gefühle, oft wohl nur im Unbewussten, die gefüllt werden müssen. Corona und Corona-Angst bieten willkommene Gelegenheiten, Surrogate für das Fehlende, das Denunzierte, das Abgeschaffte und Abzuschaffende, das aber doch nicht verzichtbar ist, allen voran ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, das schon im ersten Lockdown verlogene Parolen geboren hat („Wir halten zusammen“) und spätestens mit der Impfkampagne wieder ein „Wir“ kennt, eine „Nation“, ja sogar „Volksgesundheit“ und „Patriotismus“.

Eine Vorstellung davon, was Leben im Einklang wäre: Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Rowohlt, Hamburg 1957; Suhrkamp, Frankfurt am Main 2016.

III. Digitalismus

Es ist ein bekanntes Phänomen der sogenannten Postmoderne, dass – bedingt und ermöglicht durch massenmediale Kommunikationsformen – öffentliche Rhetorik und ihre mediale Präsenz eine überproportionale Bedeutung erlangen. Dadurch bilden sich Hyperrealitäten und Simulationen heraus, in denen Bilder und Erzählungen („Narrative“) „wirklicher erscheinen als die Wirklichkeit“ (Heinz-Günter Vester). Die sogenannte konstruktivistische Wende neo-marxistischer Gesellschaftswissenschaftler hat sich dieses Phänomen geschickt zu Nutze gemacht: Ihre Propagandisten erklären, dass die Wirklichkeit, wie wir sie zu sehen meinen, in unseren Gedanken „konstruiert“ sei. Konstruktivismus ist eine Doktrin, die behauptet, die reale Welt sei nichts als der Diskurs, der über sie geführt wird. Mit diesem rabulistischen Zaubertrick können die Konstruktivisten, die in Wahrheit Destruktivisten sind, den Menschen einreden, es gäbe frei wählbare Geschlechter beliebiger Zahl – oder eine Corona-Pandemie, die den Bestand der Menschheit gefährdet. It’s the discurs, stupid!

Der digitalisierte Mensch hat sich daran gewöhnt, Nachrichten im Newstickerismus quasi in Endlosschleife zu konsumieren. Alles, was ihm täglich als „Eilmeldung“ und „Breaking News“ vorgesetzt wird, hält er für elementar wichtig und kommentiert es unverzüglich in Echtzeit in sogenannten sozialen Netzwerken – ein Verhalten, das die „Totalherrschaft der Gegenwart“ (Botho Strauß) in einem sich selbsterhaltenden Kreislauf erzeugt und immer weiter reproduziert. Eine Einordnung der „Nachrichten“ findet in der Besinnungslosigkeit des Augenblicks nicht mehr statt, rationale Abwägungen fallen emotionalem Furor zum Opfer. Als Mitglied des woken „Twitter-Mobs“ frönt jeder Hinz und Kunz dem Narzissmus, ein bedeutender Kommentator der Zeitläufte zu sein – und prägt die Medienlandschaft: „Twitter ist der neue Chefredakteur“ (Batya Ungar-Sargon, Bad News. How Woke Media Is Undermining Democracy, 2021).

Die Horizont-Einschränkung durch Arbeitsteilung und Spezialisierung wird begleitet von der radikalsten Horizont-Erweiterung, die dem Menschen je ermöglicht wurde. Gewissermaßen indirekt proportional zur freiwilligen Befähigungs- und Erkenntnisbegrenzung erlebt der Homo Digitalis eine World Wide Webisierung, in der jedem alles jederzeit verfügbar erscheint. Eine unbegrenzte Flut an Wissen stürzt auf immer begrenzter denkfähige „User“ ein, die sich kraft ihrer Einzelfall-Expertise für allumfassend kompetent halten – eine sokratisch entlarvte Selbstüberschätzung. Statt Demut zu empfinden vor der Erkenntnis, nichts zu wissen angesichts der Fülle von Welt, die das Internet ins Haus liefert, erliegt mancher der Versuchung, mittels Mausklick ganze Fachausbildungen auf die Lektüre von Wikipedia-Artikeln abzukürzen. Nur so ist zu erklären, warum sich im Digitalismus so viele berufen fühlen, in Windeseile zu jeder Frage und jedem Problem, das ihnen ihr Web-Account auf den Bildschirm spült, mit digitaler Scheinkompetenz Stellung zu nehmen. Der Hyperkomplexität unserer Zeit wird mit Fast-Food-Bildung getrotzt. Bescheidung wäre die bessere Antwort.

Eine unbegrenzte Flut an Wissen stürzt auf immer begrenzter denkfähige „User“ ein, die sich kraft ihrer Einzelfall-Expertise für allumfassend kompetent halten

Der Digitalismus hat Möglichkeiten erschaffen, uns „transparent“ zu machen (Dave Eggers, The Circle / Every). Bürger, die 1983 eine Volkszählung als so „umstritten“ (Wikipedia) empfanden, dass sie dem Bundesverfassungsgericht ein Urteil zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung unter Berufung auf ihre „Menschenwürde“ abrangen, statten sich heute zur „freiwilligen“ Selbstkontrolle („Das Gefängnis sind wir selbst“) mit einem Armband aus, das Pulsschlag und Herzfrequenz an ihre Krankenkasse meldet. Die smarten Verlockungen des Digitalismus führen indes keineswegs in eine bessere Gesellschaft, wie uns die „Everys“ des Silicon Valley predigen, sondern erschaffen eine Hölle von Kontrolle und Kontrollzwang – auf die Spitze getrieben im Corona-Staat. „Jeder kontrolliert den anderen, jeder kontrolliert sich selbst. Eine neue Zeit. Ein neuer Mensch.“ (Thomas Brasch)

Interessierte Kreise sind in den letzten Jahren ihrem Anspruch, den öffentlichen Diskurs in toto nach ihrem Gusto zu modellieren, um damit den „neuen Menschen“ zu erschaffen, erschreckend nahe gekommen. Dass der Meinungskorridor immer enger wird, kann niemand ernsthaft bestreiten. Alles, was „die Selbstgerechten“ (Sahra Wagenknecht), die über nahezu uneingeschränkte mediale „Produktionsmittel“ (Bert Brecht) verfügen, nicht unter „Toleranz“, „Respekt“ und „Vielfalt“ rubrizieren, fällt der Cancel Culture (vulgo: Zensur) anheim. Unbotmäßige verfallen der damnatio memoriae, etwa durch Verbannung ihrer Namen von Straßenschildern. Abweichler werden existentiell vernichtet. Dem Anspruch auf Keimfreiheit in Sprache und Denken entspricht der Wunsch nach Sterilität des biologischen Lebens, welcher sich in Zero-Covid-Phantasien manifestiert – im Wahngebilde, eine (wörtlich und metaphorisch) keimfreie Welt sei möglich und erstrebenswert.

Als Herbert Grönemeyer im September 2019 zur Begeisterung seiner Fans bellte: „Dann liegt es an uns zu diktieren, wie ’ne Gesellschaft auszusehen hat“, war Corona noch nicht am Horizont zu sehen. Was schon da war, als Fundament der „Selbstgerechten“, war „dieser Moralismus, diese Überzeugung, daß die Welt in Gut und Böse eingeteilt sei und dass man auf der richtigen Seite stehe“ (Karl Heinz Bohrer). Der Moralismus, dem wir ausgesetzt sind, praktiziert eine teuflische Umkehr aller Werte, wenn seine Vertreter von Toleranz säuseln, während sie mit entgrenzter Intoleranz gegen Andersdenkende wüten. An ergebnisoffener Diskussion ist den Moralaposteln nicht gelegen, demokratische Streitkultur halten sie für ewiggestrig, sie pflegen den Basta-Stil und gefallen sich in alternativloser Rechthaberei. Auch der Tod der Streitkultur ist kein Ergebnis der Corona-Krise, sondern ein Baustein ihrer Ermöglichung.

Formiert sich die erste globale Widerstandsbewegung des 21. Jahrhunderts? Trine Syvertsen, Digital Detox: The Politics of Disconnecting. Emerald Publishing 2020

IV. Wohlstandsverwahrlosung

Im Westen Deutschlands haben inzwischen mehrere Generationen keine Vorstellung mehr davon, was wirkliche Probleme überhaupt sein könnten, die Jüngsten, aufwachsend ohne die Erzählungen der Kriegsgeneration, nicht einmal aus zweiter Hand. Wenn solcherart wohlstandsverwahrlosten Zeitgenossen nun eine angebliche Gefahr für Leib und Leben an die Wand gemalt wird, neigen sie dazu, übertriebener Dramatisierung Glauben zu schenken, wohingegen unsere Großväter, die im Krieg waren, mit einem Virus Marke Corona sicherlich nicht zu erschrecken gewesen wären angesichts dessen, was sie er- und überlebt hatten. Einige Zeitgenossen scheinen die Grenzerfahrung einer Gefahrensituation geradezu herbeigesehnt zu haben, um die Leere ihres Daseins mit etwas Bedeutendem füllen und sich spüren zu können.

Lösung von Bindungen, die als Hemmungen empfunden werden, Befreiung von Traditionen und Institutionen, die als Gefängnisse gelten – das sind die großen Versprechen der Aufklärung. Der positive Aspekt dieser „Lösungen“ steht meist im Vordergrund. Individualisierung aber bedeutet Freisetzung: Nicht mehr die Gemeinschaft gebietet durch ihre Regeln, was gut und schlecht ist, der „freie“ Mensch muß selbst entscheiden – Freiheit gebiert somit paradoxerweise Zwang. „Der Mensch ist zur Freiheit verdammt“, „verurteilt, in einer absurden Welt ohne Gott seine eigene Existenz zu entwerfen, sich nach eigenem Gesetz in heroischer Einsamkeit zu verwirklichen“ – so die Botschaft des Existenzialisten Jean-Paul Sartre. An der Freiheit sind viele gescheitert. Tritt in dieser Situation, die verzweifelt sein kann, jemand auf, der sicheres Geleit durch die Fährnisse des Lebens verspricht, ist die Versuchung groß, sich an die Hand nehmen zu lassen von dem, der vorgibt, Schutz zu bieten gegen alle Risiken. Und der Staat akzeptiert die Rolle der Gouvernante nur zu gerne, die ihm der „freie“ Bürger in seiner Orientierungslosigkeit anzutragen gewillt ist.

Übersteigertes Sicherheitsbedürfnis und uneinlösbare Sicherheitsversprechen gehen Hand in Hand – davon lebt die Versicherungs-Branche bestens. Neueste Auswüchse dieser Mentalität sind „Safe Spaces“, um empfindliche Gemüter („Schneeflöckchen“) vor den Zumutungen des Lebens zu schützen. Agiert wird so, als säßen sie in einem Problem-Abwesenheits-Vakuum, wenn etwa an den Universitäten bestimmte Themen nicht mehr diskutiert werden dürfen, weil sie Übersensible in ihren Gefühlen verletzen könnten. Allüberall schießen Trigger-Warnungen wie Pilze aus dem Boden. Der unrealistische Anspruch der Welterlösersekte mit ihrem Willkommenskulturalismus („Leave no one behind“, „Wir haben Platz“) wurde auch zum Maßstab der Zero-Covid-Jünger: Sie glauben jeden Menschen vor dem Tod retten zu können, wenn wir nur alle zuhause bleiben. „Team Vorsicht“ bedient einen weitverbreiteten Vollkasko-Traum, macht damit aber jedes wirkliche Leben, das unweigerlich mit Risiken verbunden ist, unmöglich.

„Wie wir Stress und Überforderung entgegenwirken können“: Gernot Böhme, Rebecca Böhme, Über das Unbehagen im Wohlstand. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2021.

V. Rationalitätsraserei

Transzendenzverleugnung und Gottlosigkeit sind fast schon das Must Have unserer Zeit. Von Schöpfung und dem Menschen als Geschöpf spricht nicht einmal mehr die Kirche in ihrer modernen Schwundform. Der (Schul)Medizin ist seit langem ein kaltes mechanistisches Bild vom Menschen eigen, das den Arzt weniger als Heiler denn als Klempner definiert. Symptomatisch ist die Vorstellung, man könne Depressionen als Krankheiten der Seele „reparieren“, indem man chemische Botenstoffe ins Gehirn der Erkrankten einschleust. Nur ein solch mechanistisches Menschenbild konnte das neoliberale Selbstoptimierungs-Paradigma hervorbringen, das als Religionsersatz fungiert. An ihre Stelle treten die gefühlte Notwendigkeit eines unaufhörlichen Arbeitens (Workout“) und Verbesserns am eigenen Körper („Fit for Fun“) sowie ein boomender Markt für Erfolgs-Coachings. Nur ein mechanistisches Menschenbild konnte der Propaganda ein Werkzeug an die Hand geben, die Erlösung von Corona in der Injektion eines Genpräparats zu versprechen – und damit auf empfangsbereite Ohren zu stoßen.

Als die Physik zur Jahrhundertwissenschaft ausgerufen wurde, war Gott tot und das kleinste Teilchen, das die Welt im Innersten zusammenhält, an seine Stelle getreten. Fatalerweise ist das mechanistische Denken seit Auguste Comte aus der Ebene von Mathematik und Physik als „soziale Physik“ (heute: Soziologie) in die Wissenschaft vom Menschen eingesickert. Einen Theologen wie Hermann Timm verstört, dass „die Welt zur mathematisch reinen, sinn- und gefühllosen Räson gebracht“ wird. Doch es  ist eine Grundlage dafür, dass Politik und Medien die Menschen dazu anleiten konnten, wie gebannt auf sogenannte R-Zahlen oder Inzidenzen zu starren und aus deren teils minimalen Schwankungen die Gefährlichkeit des Corona-Virus abzuleiten. Diagramme und Kurven zeigen aber niemals die Wirklichkeit, als die sie verkauft werden, sondern eine Interpretation von Wirklichkeit. Ohnehin sollte der Mensch im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik stehen, nicht von ihm losgelöste Messwerte, wie es der Zahlenfetischismus mit seiner Pseudo-Objektivität als vermeintlicher Goldstandard vorgaukelt.

Wir leben in einer hochspezialisierten Welt, wo Arbeitsteilung die Glieder einer Produktionskette zu kleinen Rädchen degradiert. Besonders weit fortgeschritten ist die Spezialisierung in der Wissenschaft, wo man dem Paradigma huldigt, ein guter Forscher sei, wer von ganz wenig sehr viel weiß. Die Krone des Besten gebührte da wohl demjenigen, der alles von nichts weiß. Die Fragmentierung des Wissens führt nun aber nicht zur Vorsicht bei Aussagen, die über den Erkenntnischarakter von Fragmenten hinausgehen – im Gegenteil: Physiker wollen mit dem kleinsten Teilchen „the entire world“ erklären; Chirurgen reduzieren sich zu Experten für „die Hand“, pochen jedoch darauf, den ganzen Menschen zu verstehen; Virologen halten das Geschehen in ihren Petrischalen für ein Abbild der Welt in ihrer Totalität. Bedrohlich wird es, wenn all diese Spezialisten für ein winziges Fachgebiet als Generalisten auftreten, die sie nicht sind und per definitionem gar nicht sein wollen – die Öffentlichkeit aber der Anmaßung ihrer Kurzschlüsse aufs Ganze folgt wie Gottesanbeter einem Götzen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts maß man dem Fortschritt die „Kraft einer Religion“ bei (Stefan Zweig), man glaubte an ihn mehr „als ehedem an die Bibel“. Franz Werfel, Jahrgang 1890, wuchs auf „im Geiste der Fortschrittsgewißheit, im naiven Ammenglauben an Weltverbesserung durch Wissenschaft“. Hundert Jahre böser Erfahrung später hielt so mancher Zeitgenosse blinden Fortschrittsoptimismus für überwunden – eine Täuschung. Was 1903 die Gründer des Deutschen Museums bewegte, ein „Gefühl der Ehrfurcht vor jenen Großen [Erfindern, Ingenieuren, Technikern], die in selbstloser Hingabe die Menschheit befreien halfen aus der Willkür der Naturkräfte“, treibt neue Blüten. Etwa dann, wenn Bill Gates den Corona-Impfstoff als „wissenschaftliche Meisterleistung“ preist, der „die Pandemie stoppen“ werde oder Christina Berndt in der SZ fabuliert, Geimpfte würden sich fühlen, „als hätten sie in Drachenblut gebadet“. Machbarkeitswahn und Technikvergottung sind quicklebendig und allgegenwärtig.

Das Virus (richtiger: die Erzählung von der Gefährlichkeit des Virus) traf auf eine Gesellschaft, die sich seit langem die Gewissheit suggerierte, jederzeit alle denkbaren Unwägbarkeiten durch Wissenschaft und Technik beherrschen zu können; die sich eingerichtet hatte im Glauben an eine vollständige Kontrolle der Welt; die sich einredete, alle Risiken erfolgreich ausgeschaltet zu haben. Bricht in dieses Trugbild der heilen Welt etwas ein, das nicht beherrschbar erscheint, muss zwangsläufig Panik ausbrechen. Es ist eine Tragödie, dass „die Wissenschaft“ in größenwahnsinniger Selbstüberschätzung verspricht, durch Berechnungen und (technische) Erfindungen die Natur (das Virus) beherrschen zu können – und damit auf ganzer Linie versagt. Corona offenbart nichts deutlicher als den Tod dieser Art von Wissenschaft.

Rationalität, wenn sie nur falsch genug verstanden wird, erzeugt Irrationalität. Die Absurdität der wissenschaftsbasierten Corona-Wirklichkeit belegt dies jeden Tag.

Über die Grenzen „rationaler“ Erkenntnis – und was darüber hinaus sein könnte: Hans Peter Dürr, Der Wissenschaftler und das Irrationale. Syndikat, Frankfurt am Main 1981


Jürgen Schmid (Jg. 1968) ist Historiker und freier Autor in München


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