Nach 16 Jahren Merkel gibt das Bürgertum der Berliner Republik ein elendes Bild ab: autoritätsfromm, neurotisch und konsumfixiert, zu Solidarität so unfähig wie zu politischer Emanzipation. Genau wie seine Klassenkameraden im wilhelminischen Berlin – die historischen Parallelen sind frappierend.

Jetzt, wo die alte Kaiserin Kanzlerin nach beinahe 16 bleiernen Jahren des alternativlosen Abwrackens und autokratischen Dilettierens endlich (bald, irgendwann) abzutreten geruht, könnten wir wieder zur Besinnung kommen. Wir könnten Inventur machen. Schadensmeldungen auswerten, mit den Aufräumarbeiten beginnen, Lehren ziehen. Wir könnten uns zum Beispiel einmal in Ruhe die Rolle der Klasse ansehen, die das ruinöse Regiment der Regentin erst möglich gemacht und bis zur Unerträglichkeit verstetigt hat: die Rolle des Bürgertums.

Bürgertum? Gibt es denn diese Klasse überhaupt noch? Existieren in unserer vermeintlich egalitären „Zivilgesellschaft“ nicht lediglich fluide Milieus, die von spitzfindigen Soziologen immer neu abgegrenzt werden? Aber natürlich gibt es das Bürgertum: alles, was seinen Konsum noch überwiegend selbst finanziert (während das frühere Proletariat heute als Dauerleistungsempfänger die Transferklasse darstellt). Alles, was Steuern zahlt, zumindest Berufsbildung hat, den Staat am Laufen hält, Rentner und Pensionäre mit eingeschlossen. Alles, was sich nach wie vor für „politikgestaltend“ und „werteorientiert“ hält – die einzigen Gemeinsamkeiten im Selbstverständnis dieser Klasse – und deshalb auch an Wahlen teilnimmt, passiv wie aktiv: das ist Bürgertum. (Hoch darüber thront nur der neue Club der Milliardäre, der ohne Steuern und Wahlen auskommt und sich immer mehr zur neuen Feudalherrenklasse mausert.)

Historisch gesehen sind die heutigen Bürger die Ur-Urenkel aller Lehrer, Professoren, Angestellten, Handwerksmeister und Fabrikanten aus der Zeit um 1900, die ich hier zum Vergleich stellen werde. Mit seinen vielen überlieferten Vorsilben vom „Groß-“ und „Besitz-“ über das „Bildungs-“ bis zum „Klein-“ steht das Bürgertum von 2021 am Ende des merkelinischen Zeitalters nicht ruhmreich da. Dafür jedoch in einer bemerkenswerten Kontinuität, die nirgendwo deutlicher wird als in der alten und heutigen Hauptstadt. Dort, in der nächsten Nähe der Macht, kulminieren die feuchten Träume der Bourgeoisie ebenso wie ihre angstzerfressenen Fieberphantasien. Und all ihre mühsam verborgenen Neurosen kommen klarer zum Vorschein als irgendwo sonst im Land.

Die Augen öffnet einem in dieser Beziehung ein zu Unrecht fast vergessener Historiker: Gerhard Masur (1901-1975). Der gebürtige Berliner studierte an der dortigen Universität und verfasste mit gerade einmal 29 Jahren seine Habilitationsschrift. Masur war ein Nationalliberaler: Er stand der Deutschen Volkspartei so nah wie allem sozialistischen Gedankengut fern, vor dem er die noch junge Weimarer Republik bewahren wollte. Die Machtübernahme der Nazis zwang ihn wegen seiner jüdischen Abstammung 1935 zur Emigration, die ihn 1947 schließlich in die USA führte. Dort lehrte Masur unter anderem als Gastprofessor an der renommierten UCLA, war jedoch immer wieder an der Freien Universität in West-Berlin zu Gast, auch als Mitglied internationaler Historikerkommissionen.

Alles, was sich nach wie vor für „politikgestaltend“ und „werteorientiert“ hält: das ist Bürgertum

Das war noch ein universell belesener Geschichtsschreiber, ein wahrer Gelehrter: einer, der über Fontane und Nietzsche genauso kenntnisreich urteilen konnte wie über Max Weber oder Werner von Siemens – eloquent im Stil, originell in den Nuancen, aufschlussreich im Generalisieren wie im Differenzieren. Im Jahr 1970 erschien in New York und London sein Buch „Imperial Berlin“. Hierzulande kam es ein Jahr später unter dem Titel „Das kaiserliche Berlin“ auf den Markt. Darin analysiert Masur die gesellschaftlichen Strukturen des Zweiten Reiches von der Gründung 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Eine auch heute noch lohnende Lektüre.

Denn in der alten und neuen Hauptstadt, die sich unter dem stürmischen Einfluss der Industrialisierung im Turbogang von der verschlafenen preußischen Residenzstadt zur Weltmetropole mauserte, zeigt sich wie unter einem Brennglas: Die seinerzeit aufblühende und sich ausdifferenzierende Klasse des Bürgertums hatte bereits alle Komplexe und Reflexe, die auch den Merkelismus erst möglich gemacht haben. Ständig möchte man beim Lesen rufen: „Gerade so wie heute!“

Und ganz besonders gilt das für die Zeit um 1900, mitten in jener „wilhelminischen Epoche“, als der Enkel des Reichsgründers und letzte deutsche Monarch 30 Jahre lang das Zepter schwang. Um zu zeigen, was die Bürger damals wie heute umtrieb, muss man sich erst ihren jeweiligen Endlos-Majestäten zuwenden.

Dabei versteht sich von selbst, dass Kaiser und Kanzlerin schon wegen ihres Ranges in der Staatshierarchie nicht gleichsetzbar sind. Der eine hielt sich für „von Gottes Gnaden“ eingesetzt, die andere ist bloß Pastorentochter. Der eine rüstete das Reich zur Großmacht hoch, die andere empfindet Grenzschutz und Militär bloß als peinliche Artefakte. Der eine war demokratisch unantastbar, während die andere gleich mehrfach von der Macht hätte entfernt werden können. Aber mir geht es darum, wie beide ihren bürgerlichen Untertanen zur Integrationsfigur, ja zum Fetisch taugen konnten. Und da sind Ähnlichkeiten.

Fangen wir mit Wilhelm II. höchstselbst an, der 1888 in der Reichshauptstadt Berlin als feudaler Aristokrat in all seinem aufgeblasenen Pomp den Thron der Hohenzollern bestieg. Dass „einer der ersten Akte seines persönlichen Regiments die Entlassung Bismarcks war“, stieß dem Historiker Masur sauer auf. Ebenso anrüchig war, dass der Monarch den seinerseits machtbewussten Bismarck durch einen längst wieder vergessenen Kanzler namens Leo Graf von Caprivi ersetzte. Sein Kalkül: Caprivi werde als Offizier schon alle kaiserlichen Befehle widerspruchslos ausführen.

Woran erinnert dieses zwanghafte Wegbeißen durch den neuen Herrscher? Natürlich an die frischgebackene CDU-Chefin von 2000, die nicht nur ihren 16 Jahre amtierenden Ex-Kanzler, Partei-„Freund“ und Steigbügelhalter Kohl gemeuchelt hatte, sondern ihre innerparteilichen Kritiker unverzüglich und kontinuierlich durch ergebene Speichellecker ersetzte – wodurch die CDU zu dem entkernten Elendshäufchen wurde, das sie heute ist. Machiavelli, obwohl von den meisten nie gelesen, hat dem braven Bürger als Anwendungsfall schon immer imponiert. Das Wegbeißen der Widersacher, die sich eine Blöße gaben: Da sieht er sich selbst.

Ebenso wie der aristokratische Wilhelm machte die zunehmend autokratische Angela fortan durch eine wetterwendische, sich ständig ohne rot zu werden um 180 Grad drehende Affektpolitik von sich reden. Erst Atomenergievertrag verlängert, dann – hui! – Atomausstieg. Erst „Leitkultur“ und „Integration ist gescheitert“, dann Grenzen auf und „wir schaffen das“ (im europäisch nicht abgestimmten Alleingang). Erst Lippenbekenntnisse zur Finanzdisziplin, dann Griechenland- bzw. Bankenrettung. Und der Freund von weit, weit weg ist der Feind von nebenan: Dissidenten in Belarus gut, Grundrechte-Demonstranten vor der Haustür in Berlin böse. Nach diesem Prinzip oder besser dieser Prinzipienlosigkeit ad infinitum.

Wilhelm wiederum zu seiner Zeit versuchte anfänglich mit dem Berliner Proletariat zu kuscheln (auch ein Motiv für die Entlassung des Sozialistengesetzgebers Bismarck), weil die Industrie für ihn Steuer- und Waffenlieferant zugleich war und ein Generalstreik seine größte geheime Furcht. Jedoch, so der Historiker Masur, „des Kaisers freundliches Kokettieren mit der Arbeiterklasse führte zu nichts, wie so viele seiner Unternehmungen, und wurde dann auch rasch wieder fallengelassen. Ein Jahr nach Bismarcks Verabschiedung teilte er den Soldaten mit, sie hätten auf Väter und Brüder zu schießen, wenn sie sich an sozialistischen Unruhen beteiligten.“

„Warum duldete das deutsche Volk ein solches Regime?“, stellt Masur völlig zu Recht die Kernfrage, natürlich nur in Bezug auf den zwanghaften Militaristen Wilhelm II: „Das deutsche Bürgertum nahm des Kaisers ständige Bezugnahme auf ‚mein‘ Heer, ‚meine‘ Flotte, ‚meine‘ Soldaten ohne Murren hin, obwohl die Streitkräfte aus den Steuergeldern bezahlt wurden, zu denen das Bürgertum kräftig beitrug.“ Dasselbe Bürgertum, das auch heute kaum je nach Verbleib und Nutzen der von ihm erwirtschafteten Steuermittel fragt. Klima-, Migrations- und Europapolitik – nein, interessiert vom harten Endertrag her alles nicht? Symbolpolitik und „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ sind wichtiger? Weitermachen!

Statt auf nutzbringende Realpolitik zu pochen, umschwänzelten die wilhelminischen Bürger Berlins das Königsschloss auf der Spreeinsel. Denn von dort aus bot man ihnen nicht nur panem et circenses. Dort war der Ort, wo Barthel den Most holte. Dort gab es fetteste Aufträge und Berufungen abzugreifen. Berlin um 1900, das war ein brodelnder Kessel, ein Boomtown, eine Goldgräberstadt. Dagegen ist die Immobilienblase von heute ein Pups im Wind. Unter Wilhelm II. schossen Protzbauten, Mietskasernen und Fabriken allenthalben in die Höhe, dank Armutseinwanderung aus dem Osten explodierte die Einwohnerzahl, die Elektrifizierung wirkte Wunder über Wunder, Imperien wie Siemens und die AEG gingen an den Start, Nobelpreise für bahnbrechende Entwicklungen wurden im Dutzend eingeheimst – und das alles noch unter dem Narrenhut der alten ständischen Adelsgesellschaft bei Hofe.

Ob jene Bürgerlichen, die damals etwas werden wollten und sich daher der Aristokratie andienten, oder jene, die im 21. Jahrhundert begriffen hatten, dass die neue Berliner Machtelite sich längst wieder meilenweit über die „kleine Leute“ erhaben wähnte – die Schleimspur zum Aufstieg war für beide Bürgergenerationen dieselbe: „Wer in einer Gesellschaft reich geworden ist, in der Geld nicht den ersten Wert darstellt, bemüht sich meist schleunigst um den Erwerb jener Patina, die Alter und Tradition dem Reichtum verleihen“, stellte Masur 1970 fest.

Und so wanzten sich die Berliner Aufsteiger also an den Hof heran: kauften aufgegebene Adelssitze, gaben Gesellschaften, übertrumpften sich als mäzenatische Kunstsammler, heirateten im allergrößten Glücksfall gleich in Adelsfamilien ein – alles nur, um so Zugang zum Reserveoffizierscorps zu bekommen, dem Karrieresprungbrett ihrer Zeit. Während das Berliner Bürgertum 2021 sich nur geringfügig anders verhält: sich Immobilien in politiknahen Wohnlagen kauft, in politikbekannten Restaurants speist, Doktor- und Professorentitel ergaunert, sich bei entsprechender Kaufkraft immer noch als Kunstmäzen kostümiert, das Töchterchen als Referentin in die Senats- oder besser noch Ministerialverwaltung einschleust, die Events, Clubs, Gesellschaften, Stiftungen des Establishments ausstaffiert und deren Buzzwords vor sich herbetet.

Apropos Professorentitel: Bevor der erste Wilhelm, der Großvater des zwoten, 1871 auf den Thron stieg, waren gerade im stolzen Berlin viele Hochschullehrer noch auf ihre geistige Freiheit bedacht gewesen. „In dem Maße, in dem das Reich von Erfolg zu Erfolg schritt, verlor das Bildungsbürgertum jedoch immer mehr von seinem anfänglichen Idealismus und neigte dazu, seinen Frieden mit dem zunehmenden Nationalismus und Materialismus des neuen Deutschland zu machen“, analysiert Masur und löst damit das elfte oder zwölfte Déjà-vu bei mir aus. Nur „Nationalismus“ ist heute gegen „Globalismus“ auszutauschen.

Warum aber waren die Professoren so feige und liebedienerisch, keinen der wilhelminischen Missstände hörbar zu missbilligen, beispielsweise die kleingeistige und ehrpusselige Presse-, Kunst- und Buchzensur ? „Universitätsprofessoren waren letzten Endes Staatsbeamte“, stellt der Historiker lakonisch fest (bezüglich des 19., nicht des 21. Jahrhunderts), „und unterlagen der allgemeinen Gehorsamspflicht, die damals ganz Deutschland beherrschte. Trotzdem kam es zuweilen vor, dass die Universität sich weigerte, des Kaisers Wünschen nachzukommen, und entschlossen ihre Autonomie verteidigte.“

„Universitätsprofessoren unterlagen der allgemeinen Gehorsamspflicht, die damals ganz Deutschland beherrschte.“

Nun, das war dann immerhin mutiger als heute, wo beinahe niemand mehr aufmuckt, der an einer Berliner oder sonstigen deutschen Hochschule auch nur den Rang einer wissenschaftlichen Hilfskraft innehat. Gender, Identitätspolitik, Klima, Deplatforming und Cancel Culture – sie machen rundweg alles mit. Was uns noch einmal zu den kläglichsten aller Bürgerlichen führt, den Intellektuellen oder „Bildungsbürgern“.

„Der Einfluss des Bildungsbürgertums entsprach bei weitem nicht dem der besitzenden Klassen“, urteilt Historiker Masur über das wilhelminische Berlin. „In erster Linie fehlten ihm die Mittel, um sein Gewicht in vergleichsweiser Form geltend zu machen. Es verfügte weder über einflussreiche Presseorgane, noch besaß es Interessenvertretungen. Die Besitzbürger hatten den Zentralverband deutscher Industrieller in Berlin und außerdem den Bund deutscher Industrieller, wovon der erste die Belange der Schwerindustrie, der zweite die der Konsumgüterindustrie schützte.“

Auf den ersten Blick scheint sich da etwas geändert zu haben: Das deutsche Bildungsbürgertum von 2021 – sofern man es am Akademikergrad festmacht – beschickt ausnahmslos alle Leitmedien, Verlage, NGOs und Stiftungen mit Personal. Doch die Agenden, Narrative und vor allem Geldmittel der privaten Medien kommen auch heute noch ganz überwiegend von weiter oben: aus der elitären Schicht des am Vermögen bemessenen Großbürgertums – und sogar von noch höherer Stelle, wie etwa die Zuwendungen Bill Gates‘ an den Spiegel und andere Leitmedien. Einen weiteren, immer mächtiger werdenen Einflusskanal baut der von Lobbyisten und Globalisten gekaperte Parteienstaat aus: Er münzt (wiederum bürgerliche) Steuer- und Gebührenmilliarden in blanke Propaganda um – etwa im „Kampf gegen rechts“, den er unter anderem über ARD und ZDF führt.

Nicht nur deshalb sind die Bildungsbürger, heute wie vor 120 Jahren, eher schwindsüchtig in der Vertretung ihrer tatsächlichen, ureigenen Interessen. Schon im Berlin um 1900 war es, Masur zufolge, so: „Die einen hatten Beamtenstatus und somit kein Koalitionsrecht, außerdem sahen sie keine Notwendigkeit, sich zu organisieren, da sie sich durch ihre Pensionsberechtigung genügend geschützt fühlten; und den anderen, den Anwälten, Ärzten, Journalisten und Künstlern war in ihrem Individualismus jede Art von Zusammenschluss zur gemeinsamen Interessenvertretung fremd.“

Nicht einmal das Problem der Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das so offensichtlich ihrem Einfluss schadete, veranlasste die wilhelmischen Intellektuellen, in der Öffentlichkeit ihre Stimme zu erheben. Kommt uns das bekannt vor? Aber natürlich, Wort für Wort. Man tausche das Problem des Wahlrechts, das pro forma längst keines mehr ist, nur gegen Reizthemen wie Grundrechte-Entzug, digitalen Kontrollwahn oder die schleichende Enteignung durch Null- und Minuszinsen, um erneut nur drei Komplexe zu nennen.

Übrigens lässt sich auch Bismarck als Profiteur des bürgerlichen Erb-Elends aufrufen: Weil es stets so schön zersplittert war, hatte schon der „Eiserne Kanzler“ darauf zählen können, dass das Bildungsbürgertum ihm bei seiner offensichtlichsten autokratischen Willkürmaßnahme keinen Ärger machen würde: beim Sozialistengesetz. 1878 verbot er kurzum die drei Jahre zuvor aus den sozialdemokratischen Flügeln fusionierte Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Sie war im Reichstag mit zwölf von 397 Sitzen vertreten und auf den Straßen Berlins allzu sichtbar geworden. Also hoppla: sozialdemokratische und kommunistische Umtriebe verboten, alle Druckschriften polizeilich beschlagnahmt, alle Funktionäre in die Verbannung! Und ein Schelm, wer die heutige Kriminalisierung jeder halbwegs ernsthaften Oppositionsströmung, ihre Schikanierung durch Demonstrationsverbote und Facebook-Löschungen in die Nähe dazu rückt.

„Nirgends wurde das Gesetz so streng gehandhabt wie in Berlin“, notiert Masur. „Der Kanzler scheute sich nicht, den sogenannten kleinen Belagerungszustand zu verhängen, um siebenundsechzig sozialdemokratische Führer aus der Hauptstadt zu verbannen.“ Ja, der gute, alte Notstand, um totalitäre Politik und Versammlungsverbote zu legitimieren. Das Berliner Bürgertum des 19. Jahrhunderts ging lieber ins Varieté, als gegen diese Staatswillkür zu opponieren – es war ja nicht davon betroffen.

Interessant ist, was folgte: ein jahrelanges Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Staatsmacht und den politisierten Proletariern. „Es scheint eine bemerkenswerte Leistung“, so Masur, „dass sich die Arbeiterklasse gegen das Heer von Spionen, Lockspitzeln und regulären ‚Ordnungshütern‘ behaupten konnte, die der Polizeipräsident Guido von Madai zu seiner Verfügung hatte; aber die Berliner Polizei bellte mehr, als sie biss, und die Arbeiter zeigten einen außerordentlichen Einfallsreichtum bei der Umgehung der Fallen, die ihnen gestellt wurden. Sie tarnten Versammlungen als Picknicks oder Ausflüge und funktionierten Beerdigungen zu Massendemonstrationen um, wogegen die Polizei natürlich machtlos war.“ Es waren die Kellerkinder der Gesellschaft, die sich solidarisierten, nicht die bräsigen Bürger. Und nach zwölf Jahren Kampf fiel 1890 dank ersterer das Sozialistengesetz, ohne dass letztere einen Finger gerührt hätten.

Wer auch nie aufmuckte, war das Kleinbürgertum, last but not least. Wieder weiß man spontan nicht, wenn man Masur liest, von welchem der beiden zum Vergleich stehenden Zeitalter eigentlich die Rede ist: „Es gab Gruppen, die nach Einkommen, Lebensstandard und wirtschaftlicher Unsicherheit dem Proletariat näherstanden als der Bourgeoisie, und die doch verzweifelt an ihrer Zugehörigkeit zu dieser festhielten, auch wenn es sich dabei mehr oder weniger um eine Illusion handelte.“

Diese Illusion ist heute so fatal wie damals. Und heute wie damals hängen sie ihr trotzdem an. Wie überhaupt die Klasse, die sich selbstherrlich Zivilgesellschaft nennt, nach wie vor einer horrenden Selbst-Täuschung unterliegt, wenn sie eine Merkel über anderhalb Jahrzehnte tragen konnte. Eine Klasse, welche die nahezu endlose Verfilzung der Macht zugunsten des Primats der Kontinuität duldet und gar noch beklatscht; eine Klasse, die sich andererseits in politischen Echokammern und Spiegellabyrinthen ohne Ausweg in die Realität verliert, hat die lebendige Demokratie bereits verspielt.

Wer Masur und alle anderen Chronisten der jüngeren deutschen Geschichte weiterliest, weiß, was auf des Kaisers und der braven Bürger bräsige Herrlichkeit folgte: der Sturz des gesamten, selbstverliebten Operettenstaates in den Abgrund von Krise, Krieg und Revolution. Man wollte doch so gerne glauben, das Bürgertum habe daraus gelernt – nicht nur in Berlin.


Nachtrag, 28.9.:

Um die Manien und Hysterien der Berliner Republik von heute an ihrem Hauptstandort zu illustrieren, kommt mir dieser aktuelle Report von Alexander Wendt gerade recht.


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