Seit sich Klima und Corona zum perfekten medialen Sturm vereinigt haben, wird gebetsmühlenartig der Verzicht auf „Fernreisen“ gefordert – selbst wenn es nur nach Dänemark ginge. Am besten, wir bleiben überhaupt zuhause. Schließlich gibt es verdiente Nutznießer dieses neuen Provinzialismus.

Dieser Tage erschien in der Online-Ausgabe des britischen Salonsozialistenblatts The Guardian ein Fall aus der Praxis der Kummerkasten-Redakteurin Philippa Perry. Darin beantwortet sie die Zuschrift einer jungen Frau, der es an Lebensmut und innerem Antrieb fehlt. Interessanter als der Artikel selbst sind in diesem Ressort oft die mitmenschlichen Ratschläge der Leser an die Briefschreiber in ihrer persönlichen Lebenskrise. Eine dieser Reaktionen im Kommentarteil enthielt diesmal den Tipp: „Wenn Sie keine Bindungen, genug Geld und eine ortsungebundene berufliche Fähigkeit haben, dann reisen Sie, reisen Sie, reisen Sie! Die Welt ist ein bemerkenswerter Ort.“

Bumm! – da war eine Splitterbombe explodiert. Im Blatt der besserverdienenden rotgrünen Korrektheits-Gouvernanten von der Insel erschütterte die leichthin ausgesprochene Empfehlung viele Mitleser als größtmögliche Verantwortungslosigkeit: „Das müssen wir alle hinter uns lassen“, weist ein anderer Leser den ersten sogleich zurecht. „Die Welt ist ein bemerkenswerter Ort, aber da draußen sind zu viele Menschen unterwegs, die ihn erleben wollen. Das verursacht ökologische und soziale Probleme.“ Wieder ein anderer gibt nur zwei Worte zu bedenken: „Kohlenstoff-Fußabdruck?“ Und ein dritter belehrt: „Es ist nicht nötig, ans andere Ende der Welt zu reisen! Manchmal ist schon die Fahrt zur Endstation einer anderen U-Bahn-Linie eine Offenbarung.“

Dieser hypermoralischen Selbstbescheidung – als Verhaltensmaxime für andere – würde die Chefredaktion sicher stehend applaudieren. Allerdings findet sich das britische Blatt in solchen Debatten in einem doppelten Zwiespalt wieder: Zum einen kommt für privilegierte Guardian-Redakteure, traditionell Privatschul-Zöglinge mit Townhouse in Islington, das eigene Fernreisebedürfnis stets first. Regelmäßig berichten Kolumnisten im Reiseteil von ihren Expeditionen an die exotischsten Gestade des weltumspannenden Ex-Empire ihrer Majestät, das sie selbstverständlich als historischen Sündenfall des Kolonialismus begreifen. Und zum anderen bringt der wiedererwachte Tourismussektor mit all seinen glanzvollen Fernreisezielen den Mainstream-Medien eine der letzten verlässlichen Einnahmequellen, ob als offen deklarierte Anzeige oder als verschämt „gesponsorter“ Gastbeitrag.

Um das Bedürfnis nicht weniger Leser nach Ferne und Weite des Horizonts aber doch irgendwie klimaneutral und coronakonform zu befriedigen, griff das Blatt zuletzt in die psychologische Trickkiste: Ein Artikel im Reiseteil empfahl zehn britische Reiseziele, die wie Orte im Ausland klingen. Darunter Melbourne in South Derbyshire, Woodstock in Oxfordshire oder Moscow in East Ayrshire. Letzteres Kaff in Schottland hieß früher mal Mosshall und wurde angeblich 1812 umbenannt, Napoleons endgültigem Rückzug aus der russischen Hauptstadt zu Ehren. Der Empereur war eben der erste Klima-Aktivist – von den Guardianistas wärmstens (bzw. kühlstens) zur Nachahmung empfohlen.

Ins selbe Horn stoßen einheitlich auch deutsche Zeitungen, seit die beiden medialen Superkrisen Corona und Klima sich zum perfekten Sturm vereinigt haben und selbstgewisse Aktivisten zur Dauerbelehrung des Publikums in Verhaltensfragen übergegangen sind. In einem Aufsatz der Neuen Osnabrücker Zeitung zum Thema „Wie die Corona-Krise mit dem Tourismus auch unser Verhältnis zum Reisen verändert“ wird stellvertretend für viele das Loblied des Urlaubs im eigenen geistigen Vorgarten geschrieben: „Wer im Nahbereich bleibt, weicht nicht nur den Infektionsrisiken besser aus. Wer wandert und nicht das Flugzeug besteigt, wer lieber im Gehölz nebenan spazierengeht statt auf Prachtmeilen der Weltmetropolen flanieren zu wollen, sorgt dafür, dass sein ökologischer Fußabdruck kleiner ausfällt.“

Ein Leisetreten, das Schule machen soll. Zumindest, wenn man den linksgrünen Leitmedien folgt: „Hat das Virus Ihr Fernweh gekillt?“, fragte Spiegel Online seine User und veröffentlichte im vergangenen September eine Auswahl der Reaktionen. Einer der Antwortgeber war vor Corona mit seiner Familie jedes Jahr in Südeuropa unterwegs gewesen – doch Schluss damit: „Wir bleiben zu Hause. Für das eingesparte Geld habe ich mir ein E-Bike gekauft, mit dem ich die nähere Umgebung erfahre.“

Aus diesem neuen Provinzialismus mit dem Segen der moralischen Aufsichtsbeamten spricht vorderhand dieselbe forcierte Lockerheit, die auch das DDR-Regime seinen eingesperrten Bürgern verordnete. So heißt es in einem propagandistischen Günter-Geißler-Schlager des VEB Musikverlags Lied der Zeit schmissig: „Was willst du denn in Rio / was willst du in Milano / was willst du am Sambesi und auf Trinidad? / Schau hier, in diesem Städtchen / gibt’s manches hübsche Mädchen / das deinentwegen ganz verweinte Augen hat.“ Gleich schien der antifaschistische Schutzwall in beglückend weite Ferne gerückt.

Damals agitierte die Mauer-Partei noch eine Bevölkerung, die durchgängig weder die Freiheiten noch die Mittel zum Erlangen einer breit gefächerten, unmittelbaren Welt-Anschauung hatte. Politik und Medien des heutigen Deutschlands hingegen predigen nur jener ehemals liberalen Mittelschicht mit abgesichertem Einkommensstatus, die sie überhaupt noch zur Kenntnis nimmt. Und während auch in der Bundesrepublik von 2021 immer mehr Menschen kaum noch über Bewegungsspielräume verfügen, ist diese Mittelschicht mit ihren konsumistischen Eskapaden tatsächlich besonders klimarelevant. Denn statistisch betrachtet steigt der CO2-Fußabdruck mit dem Einkommen, darin sind sich das Umweltbundesamt und die sogenannten Wirtschaftsweisen einig. Sozial Stärkere leisten sich die größeren Wohnungen, konsumieren mehr Güter – und reisen häufiger.

Die Frage ist nur, was sich bessern würde, wenn sich die Deutschen als ehemalige „Reiseweltmeister“ (grundsätzlich eine unserer sympathischeren Eigenschaften) zu ewigen Wanderern im Naherholungsgebiet umerziehen ließen. Nichts gegen Naherholung, Baggersee und Schwarzwaldklinik – aber das geistige Blickfeld und den Bildungshorizont erweitern sie auf Dauer nicht. Das Zurechtkommen in der Fremde, das Entdecken anderer Kulturen und das Überwinden eigener Grenzen hingegen bildet nicht nur, es stärkt auch den Charakter: „Reisen (jenseits von Pauschalurlauben) erfordert Autonomie, Selbstgenügsamkeit, Entscheidungsfähigkeit, Problemlösungsfähigkeit, eine Öffnung des eigenen Blickfelds, das Anknüpfen sozialer Kontakte und kleine, alltägliche Akte immensen Mutes“, schreibt ein welterfahrener britischer Guardian-Leser im Zuge der eingangs erwähnten Debatte um das Reisen als Therapie gegen Lebensunlust.

Gern wird auch übersehen, dass „Fernreisen“ absolut nicht mit Flugmeilen-Rekorden einhergehen müssen. Die Interrail-Abenteuer meiner Generation in den Achtziger- oder Neunzigerjahren gehörten zu den umweltschonendsten Erlebnisreisen, die überhaupt denkbar waren. Noch heute zehren wir emotional und mental von ihnen. Ein halbjähriger Indienaufenthalt und eine USA-Rundreise erforderten zwar zwei Langstreckenflüge, aber am Ziel legte ich Tausende Kilometer in überfüllten Reisezügen, teils sogar in Güterwaggons oder in den USA mit Greyhound-Bussen zu den entlegensten Provinzorten zurück. Vor einem spontanen Segelboot-Trip zurück aus Indien bewahrte mich damals nur der Zufall von Termin- und Wetterproblemen.

Bisweilen stehen hinter den heute allgegenwärtigen, scheinbar nur umwelt- und sicherheitsbewussten Reisewarnungen und Zuhausebleib-Geboten auch ganz andere, ideologische Motive. Domestizierte, eingehegte Bürger ohne Vergleichsmöglichkeit im eigenen Erfahrungsschatz akzeptieren bereitwilliger eine Willkürpolitik, wie sie mit der Coronakrise über das Land gekommen ist – und demnächst im Rahmen der Klimapolitik noch intensiviert werden könnte. Wer zum Beispiel nicht einmal mehr ins Nachbarland Dänemark zu reisen wagt, dem bleibt auch verborgen, dass eine ganze Nation vor unserer Haustür den viralen Ausnahmezustand für beendet erklärt hat, da Corona keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit mehr darstelle.

Auch für einen „Great Reset“, mit dessen Hilfe Weltkonzerne im Verein mit zunehmend autoritären Regierungen eine atomisierte Menschenmasse unter digitale Konsum- und Verhaltenskontrolle stellen wollen, kommt die neue Verteufelung des Fernreisens sehr zupass: Wer sich nicht in aller Welt umschaut, vernetzt sich auch nicht so schnell gegen die Feinde der Freiheit. Das ohrenbetäubende Schweigen vieler Politiker oder ihre Lippenbekenntnisse zugunsten des „Klimaschutzes“, wenn sie vor die Wahl zwischen Liberalität und Restriktion gestellt werden, spricht Bände.

Domestizierte, eingehegte Bürger ohne Vergleichsmöglichkeit im eigenen Erfahrungsschatz akzeptieren bereitwilliger eine Willkürpolitik, wie sie mit der Coronakrise über das Land gekommen ist.

Da wirkt ein Interview der Schwäbischen Zeitung aus Ehingen vom 1. September geradezu erfrischend. Dem AfD-Abgeordneten und Bundestagskandidaten Kristof Heitmann wird unter anderem die Frage gestellt: „Was tun Sie persönlich ganz konkret, um Ihren ökologischen Fußabdruck klein zu halten?“ Und die Antwort lautet: „Nach Stuttgart fahre ich stets mit dem Zug. Zudem kaufe ich immer regional und möglichst saisonal aus der Region. Flug- und Fernreisen finde ich wiederum ganz wichtig, um sich ein Bild von der Welt zu machen.“

Auch ein anderer Parteisoldat ist aus dem Kartell der Verzicht-Prediger ausgetreten: Der als kritisch und kompetent bekannte Hamburger Linken-Politiker Fabio De Masi, immerhin stellvertretender Fraktionschef, verlässt den Bundestag und tritt nicht mehr an. In einem Abschiedsschreiben rechnete er zuvor noch mit der linken Politik ab: Sie habe die „kleinen Leute“ nicht mehr im Blick, tabuisiere die heiklen Themen, spreche eine elitäre Sprache und drangsaliere die einfachen Bürger mit der Verbotskeule: „Wir müssen mehr Kapitalismuskritik und weniger erhobenen Zeigefinger wagen. Ein Akademiker mit hohem ökologischen Bewusstsein und hohem Einkommen, der öfters eine Fernreise unternimmt, verfügt über einen höheren ökologischen Fußabdruck als eine ‚Umweltsau‘, die sich keinen Urlaub leisten kann.“

Doch mit der vom Kinderchor besungenen Omi alias „Umweltsau“ können Staatsfunker wie der Kölner WDR halt so wunderbar Stimmung machen – in dem eng gewordenen Dorf, das sie noch bespielen.

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