Max Frischs “Fragebögen” (1972) waren scheinbar harmlose Herausforderungen an die Intelligenz und Integrität seines Publikums: Wer sich an die Beantwortung machte, verlor sich nicht selten im Dickicht der eigenen Widersprüche. Höchste Zeit, unseren ungefragten Vordenkern und Peinigern einen neuen Fragenkatalog zu präsentieren.

Fragen sind Gold: Max Frisch, Fragebögen 1966-1971

Im Jahr 1972 veröffentlichte der Züricher Schriftsteller, Bühnenautor und Architekt Max Frisch (1911-1991) bei Suhrkamp das zweite seiner beiden literarischen Tagebücher. Darin kreisten die Gedanken des nun über 60-Jährigen vornehmlich um das Altern, das Sterben und den Tod. Und getreu der jedem denkenden Menschen zuteil werdenden Lebenserfahrung, dass sich umso mehr Antworten in Luft auflösen, je älter man wird, enthielten die Tagebücher elf Fragebögen mit je 25 themenbezogenen Fragen. Deren Beantwortung überließ Frisch ganz im Stil eines beliebten Gesellschaftsspiels der Belle Époque seinem Publikum. Insgesamt also 275 nur scheinbar ergebnisoffene Leerstellen – in Wahrheit 275 versteckte Provokationen und Fallgruben, wie Frischs Biograf Urs Bicher anmerkt: Die Fragebögen lehrten, indem sie den Leser in Widersprüche verwickelten, “auf spielerische Art, wie genaues Denken ohne Vorurteile funktioniert”.

Im Jahr 2024 ist das genaue Denken ohne Vorurteile eine in Vergessenheit geratene Disziplin. Mehr noch: Neben dem impulsiven Bauchgefühl ist in der Postdemokratie der Linksgrünen das Vorurteil zur Staatsräson geworden. Das genaue Denken hingegen ist ihrem Staat verdächtig. Umso aufschlussreicher vielleicht, Frischs Gesellschaftsspiel wiederzubeleben und diejenigen mit Fragen zu konfrontieren, die uns seit nun schon geraumer Zeit ungefragt und ohne zuzuhören mit Antworten und geschaffenen Fakten terrorisieren. Es haben sich zwischenzeitlich nur 100 Fragen aufgetürmt, der Aufwand ist für die Befragten also vertretbar. Zwar können 100 Fragen nicht wie Luthers 95 Thesen das beinharte Glaubensgebäude einer Kirche der Eiferer erschüttern. Aber die Antworten, wie immer sie auch ausfallen, versprechen Einblicke in eine surreale Welt.

Ich erwarte den folgenden Fragebogen also vollständig beantwortet bis morgen 16 Uhr auf meinem Schreibtisch. Geben Sie sich Mühe!

100 Fragen an den Regenbogen

  1. Angenommen, die Machtverhältnisse im Land kehren sich um und “rechts” regiert: Erwarten Sie dann, als fundamental Oppositioneller so behandelt zu werden, wie Ihr Lager derzeit mit Dissidenten umgeht?
  2. Welche konkreten, bekannt gewordenen Pläne sprechen dafür?
  3. Muss die AfD-Grundfarbe Blau aus der Regenbogenflagge als Symbol von Vielfalt und Toleranz gestrichen werden?
  4. Falls ja: Sollte sie durch die Vereinsfarbe Braun des antifaschistischen FC St.Pauli ersetzt werden?
  5. Empfinden Sie das Vortragsniveau “rechter” Parlamentsvertreter in einer Debatte manchmal als unangemessen hoch im Vergleich zum Minimalwortschatz der sie mit Zwischenrufen niederbrüllenden Demokraten?
  6. Wenn Sie auf eine “Demo gegen rechts” gehen, gibt es dann einen Moment, wo der Rausch der gefühlten Gemeinschaft umschlägt in ein Gefühl phrasenhafter Leere?
  7. Warum nicht?
  8. Wie ungezwungen, glauben Sie, wird es im Land zugehen, wenn endlich alle Nazis neutralisiert sind?
  9. Haben Sie jemals die Wollust erlebt, sich straflos wie ein Nazi verhalten zu dürfen, weil es im Zeichen des Antifaschismus geschah?
  10. Sollte für jeden Bürger ein digitaler “Social Score” eingeführt werden, bei dessen Punktzahl es für regierungskritisches Verhalten Sanktionen und für die aktive Bejahung des Systems Bonus-Prämien gibt?
  11. Aber was passiert dann mit Ihrem Score, wenn das System von “links” nach “rechts” wechselt?
  12. Warum sind Sie optimistisch, dass es dazu in “unserer Demokratie” nicht kommt?
  13. Wenn Demokratie die Herrschaft der Mehrheit ist, warum hat sie sich den Interessen marginalster Minderheiten zu akkommodieren?
  14. Fühlen Sie sich als Westdeutscher gelegentlich dadurch zurückgesetzt, dass viele Ostdeutsche Ihnen die Erfahrung einer Diktatur voraus haben?
  15. Warum verzeihen Sie Ihresgleichen konkrete Verfehlungen, die Sie anderen nur abstrakt vorwerfen können?
  16. Warum gibt es ein palästinensisches und ein ukrainisches, aber kein deutsches Volk mit legitimen Eigeninteressen?
  17. Wie kann ein nicht existierendes Volk eine Verfassung haben, in der dieses Volk zum Verfassungssubjekt und Staatsvolk (Demos) bestimmt ist?
  18. Warum geht der Verfassungsschutz gegen Menschen vor, die sich in ihrem Handeln auf die Verfassung berufen können?
  19. Warum ist “Deutschland” für Sie ein Schimpfwort, “China” jedoch nicht?
  20. Warum haben Sie es sich verboten, das Positive aus vielen Jahrhunderten deutscher Geschichte als positiv wahrnehmen zu dürfen?
  21. Wenn nicht Sie das Verbot erteilt haben, wer dann?
  22. Sind Sie aber nach wie vor stolz auf den deutschen Ex-Außenminister Fischer, der gegenüber den USA darauf beharrte, die von jenen vorgelegten “Beweise” gegen Saddam Hussein seien kein ausreichender Kriegsgrund?
  23. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
  24. Was sollte mit dem einzigen deutschen Nationalspieler geschehen, der vor dem Anstoß eines Länderspiels den antirassistischen Kniefall verweigerte?
  25. Aber war Ihnen die deutsche Nation nicht gleichgültig?
  26. Haben Sie zu Corona-Zeiten Genugtuung empfunden, wenn Maßnahmengegner schwere Nachteile ertragen mussten?
  27. Falls ja und Sie spüren diesem Gefühl noch einmal nach: Gelingt es Ihnen, es erneut so intensiv zu empfinden?
  28. Sind Sie sicher, dass Sie in einem neuen NS-Staat selbst zum Gegner staatlicher Maßnahmen würden?
  29. Haben Sie den Verdacht oder die Gewissheit, dass Ihre Herkunftsfamilie sprichwörtlich Leichen aus der NS-Zeit im Keller hat?
  30. Falls ja: Befürchten Sie einen epigenetischen Übergang dieses Schuldtraumas auf Sie selbst?
  31. Hat es Ihnen von daher Erleichterung verschafft, fortan überall Nazis zu entdecken, von denen Sie sich abgrenzen konnten?
  32. Wie kam es, dass Sie auf konkreten Umweltschutz zugunsten von “Klimaschutz” zu verzichten bereit sind?
  33. Wenn Sie morgen Gott begegnen und einen der folgenden beiden Wünsche frei haben: Bitten Sie ihn a) um die Rettung des Klimas oder b) um ein langes und erfülltes Leben?
  34. Oder erklären Sie ihm c), Hegel habe seine Existenz widerlegt?
  35. Warum halten Sie es nicht für anmaßend, wenn sich jemand als Angehöriger einer “Letzen Generation” bezeichnet?
  36. Könnte es daran liegen, dass Sie keine Kinder haben?
  37. Falls ja: Haben Sie keine Kinder, weil der Planet ohnehin überbevölkert ist und man in eine Welt voller bedrohlicher Probleme keine Kinder setzen sollte?
  38. Warum tun es andere dann ohne Skrupel gleich halbdutzendfach?
  39. Nehmen wir aber kurz an, Sie haben einen Sohn: Würden Sie ihn für Ihre Ideale auf ukrainischer Seite ins Feuer schicken, um den Worten der deutschen Außenministerin Taten folgen zu lassen?
  40. Warum entpuppt sich der Feminismus erst in dem Moment als Irrweg, wenn er in Konkurrenz zu den Interessen einer unbestimmten Anzahl weiterer Geschlechter tritt, und nicht schon in seiner Aggressivität gegenüber Männern?
  41. Warum dürfen sich biologische Männer im nächsten Krieg nicht mit dem Hinweis vor der Verwendung als Kanonenfutter drücken, sie definierten sich als ein anderes Geschlecht?
  42. Muss die Familie an sich zerstört werden, weil ihre eigene Sie zu sehr schmerzt?
  43. Wodurch sollte die gesellschaftliche Funktion der Familie ersetzt werden?
  44. Wenn Sie das rückwirkend durchsetzen könnten: Hätte das auch für Ihre Herkunftsfamilie gelten sollen?
  45. Falls ja: Sind Sie sicher, dass es Sie dann gäbe?
  46. Sind Sie schon einmal öffentlich an den Pranger gestellt worden?
  47. Falls nein: Was haben Sie getan oder unterlassen, sodass dies nicht geschah?
  48. Haben Sie das Gefühl erlebt, eine Meinungsäußerung unterdrücken zu müssen, um nicht in den Verdacht des Abweichlertums zu geraten?
  49. Falls ja: Nehmen diese Momente eher zu oder eher ab?
  50. Haben Sie die Produktionen von Theater, Fernsehen, Film und Literatur in den vergangenen Jahren als immer weniger anregend und überraschend erlebt?
  51. Falls ja: Warum führen Sie das auf Ihr vorgerücktes Alter zurück?
  52. Würden Sie eine “Cancel Culture” eher wahrnehmen, wenn etwas gecancelt würde, das Sie selbst gerne vorgetragen hätten?
  53. Könnten Gründe vorliegen, weshalb man Ihre soziale Existenz mit “Debanking” und “Deplatforming” zerstören sollte?
  54. Falls nein: Liegt es daran, dass Sie nichts Interessantes zu sagen haben?
  55. Warum erleben Sie die Leitartikel und die Themenauswahl der Mainstream-Medien nicht als verstörende Gleichschaltung und Selbstzensur?
  56. Wenn Sie die “Tagesschau” bei offensichtlichen Verzerrungen der Realität ertappen: Wie neutralisieren Sie die kognitive Dissonanz?
  57. Woraus setzt sich im Einzelnen der Kitt zusammen, der eine moderne Gesellschaft daran hindert, in Anarchie und Bürgerkrieg zu zerfallen? Nennen Sie mindestens fünf Elemente.
  58. Wie viel von diesem Kitt sehen Sie in Deutschland noch vorhanden?
  59. Wirkt es insofern stabilisierend, fast das halbe politische Spektrum des Landes (“rechts”) vom öffentlichen Diskurs auszuschließen?
  60. Benutzen Sie in Ihrer privaten Korrespondenz die Gendersprache?
  61. Und in Ihren Träumen?
  62. Würden Sie von jemandem, der Ihnen Respekt schuldet, gerne geduzt werden?
  63. Warum dann von jedem hergelaufenen Werbetreibenden?
  64. Falls es Ihnen schon häufiger passiert ist, in einem stark frequentierten U-Bahn-Waggon einer deutschen Großstadt alle möglichen Sprachen gehört zu haben, aber nicht Deutsch: Hat Sie das spontan irritiert?
  65. Falls ja: Wie haben Sie diese Irritation für sich beigelegt?
  66. Warum bekennt sich das linksgrüne Bildungssystem öffentlich zu seiner Verantwortung für Vielfalt statt für Bildung?
  67. Warum wird die Digitalisierung alle Probleme des Bildungssystems lösen?
  68. Ist es eher streberhaft oder eher verdächtig, etwas lernen zu wollen und sich dafür anzustrengen, bis es auch gelernt ist?
  69. Glauben Sie, dass ein Punk aufhören kann, ein Punk zu sein?
  70. Und ein Junkie?
  71. Welche Vorteile hat es der Gesellschaft gebracht, dass ein Übermaß an Körperfett nicht mehr als Makel gelten darf?
  72. Warum sind Ästhetik und Qualität ein subjektivistischer Mythos?
  73. Und welchen Standard – auf einer Skala von 1 bis 10 – erreichen Sie in beiden Kategorien?
  74. Was motiviert Arbeitende im linksgrünen Staat, zur Arbeit zu gehen?
  75. Wie hoch, glauben Sie, lässt sich der Anteil von Steuern und Zwangsabgaben am Lohn arbeitender Menschen noch emportreiben?
  76. Was folgt für Sie daraus, dass in Deutschland in naher Zukunft nicht mehr genügend Menschen Wertschöpfung betreiben werden, um die Ansprüche linksgrüner Umverteilung der Gewinne zu den Unproduktiven erfüllen zu können?
  77. Haben Sie je den Verdacht gehabt, Ihre Ablehnung der Freiheit des Marktes könne daher stammen, dass Sie dem Markt nichts zu bieten haben?
  78. Kann ein Mensch zugleich privilegiert und Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sein?
  79. Falls ja: Wie viel Gedankenakrobatik war dazu notwendig?
  80. Warum ist für Sie im eigenen Land eine Religion, deren extremistische Eiferer vor Jahrhunderten entmachtet wurden, problematischer als eine, deren extremistische Eiferer aktuell in Wort und Tat ihren Herrschaftsanspruch bekunden?
  81. Wenn Sie morgen existenzbedrohend verarmen: Welche Ihrer heutigen ideologischen Imperative gelten dann weiter?
  82. Und wenn Sie morgen den Jackpot im Lotto gewinnen?
  83. Wie sollte man den in Deutschland seit Jahren beschleunigt ablaufenden demographischen Prozess politisch korrekt bezeichnen?
  84. Warum erfüllt Sie der Tatbestand, den Rechte “Umvolkung” nennen, insgeheim mit Befriedigung?
  85. Wozu benötigt Deutschland den massenhaften Zuzug von zukünftigen Facharbeitern, während seine Wirtschaft die meisten Arten gewerblicher Facharbeit durch KI und Roboter ersetzt?
  86. Warum immigrieren andererseits kaum noch hochspezialisierte Ärzte, Ingenieure oder Wissenschaftler nach Deutschland?
  87. Leben Sie in einem Wohngebiet, in dem das Preisniveau das sozialistische Elend fernhält, das Sie anderen Menschen verordnen?
  88. Wenn Sie sagen: “Wir haben Platz”, meinen Sie dann auch Ihren privaten Wohnraum?
  89. Erzielen Immobilieneigentümer durch die Masseneinwanderung bei gleichzeitiger Verknappung des Wohnraums tendenziell höhere Gewinne?
  90. Sie auch?
  91. Warum ist es nicht mehr notwendig, für die Einbürgerung als Deutscher auch Deutsch sprechen zu können?
  92. Was ist falsch an der Prämisse, dass grundsätzlich nur einwandern dürfen sollte, wer sich zum Einbürgerungsland bekennt und diesem einen nützlichen Dienst erweist?
  93. Warum umfasst “Seenotrettung” für Sie einen Shuttle-Service ans Ziel der in Seenot Geratenen anstatt deren Rückführung in den Ausgangshafen?
  94. Sabotieren Sie Ihre Heimat, weil Sie keine kennen?
  95. Beneiden Sie heimlich Menschen, die ohne Ihren ideologischen Standpunkt auskommen?
  96. Falls ja: Warum gelingt Ihnen das nicht?
  97. Da Sie sich für im Kern weder für manipulierbar noch korrumpierbar halten: Was wäre notwendig, um Sie vom Gegenteil zu überzeugen?
  98. Wenn Sie dennoch eines Tages die Erkenntnis überfiele, über viele Jahre systematisch manipuliert und korrumpiert worden zu sein: Wovon würde es abhängen, sich damit arrangieren zu können?
  99. Als was möchten Sie sich am Ende Ihres Lebens definieren: a) als Opfer, b) als Täter, c) als Richter?
  100. Werden Sie, auf den Trümmern des linksgrünen Projekts stehend, die Schuld den Rechten geben?
Das Original: “Welche Hoffung haben Sie aufgegeben?”