Die Masseneinwanderung zwingt uns als Nation zum ersten Mal seit Hitlers Weltkrieg, einen zeitgemäßen Konsens von „Deutschsein“ zu finden – oder uns im Treibsand der Kulturen zu verlieren.
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Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.“ Dieses Zitat des Komponisten Richtard Wagner ist in seiner Kürze populär – nur ist es eben auch populär verkürzt. Der Originalton von 1868 lautet deutlich umständlicher:
Hier [im 18. Jahrhundert] kam es zum Bewußtsein und erhielt seinen bestimmten Ausdruck, was Deutsch sei, nämlich: die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben (…)
Als ich erst begonnen hatte, über die Wagnerianische Richtschnur nachzudenken, musste ich zugeben, dass sie an eine große Sehnsucht appelliert, die auch in mir selbst existiert: die Sehnsucht nach einer Identität, die über das Ego, Familie und Freundeskreis hinausweist. Die Sehnsucht nach wortloser Navigationsfähigkeit innerhalb eines größeren Zusammenhangs – und durch sie Geborgenheit, so wie sie das Deutschsein einmal ermöglichte.
Insgeheim wissen wir Durchschnitts-Bundesbürger nämlich tatsächlich nicht, was im Jahr 2015 noch „deutsch“ genannt werden könnte, da die meisten Stereotypen längst verwässert sind, die ironischen Brechungen alles Tradierten kaum Substanzielles übrig gelassen haben.
Des Artenschutzes würdig?
Aber zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte unserer durch Zeitumstände in Auflösung begriffenen Nation sind wir Deutschen gezwungen, wenn uns dies nach wie vor wichtig erscheint, einen Beweis, eine Formel für diese kleinen Zutaten vorzulegen, die uns einzigartig machen und damit des Artenschutzes würdig. Angesichts beispielloser Zuwanderung in unsere alternde und schrumpfende Kerngesellschaft existiert plötzlich ein intensiver Druck, uns der Schnittmengen unseres kollektiven und individuellen Selbst zu vergewissern, um unseren kulturellen Boden zu behaupten – oder uns auf lange Sicht spurlos in einer Multi-Ethnizität aufzulösen.
Das war nicht so, als wir in den 50er und 60er Jahren die erste Generation von „Gastarbeitern“ anwarben, denn die – so das Kalkül – würden wieder in ihre Heimatländer zurückkehren oder sich assimilieren.
Es schien auch nicht angesagt, als die „Achtundsechziger“ das kollektive Versagen ihrer Elterngeneration im Dritten Reich anprangerten. Auf keine neuen und interkulturell angepasssten „deutschen Werte“ musste man sich in diesem Prozess einigen, denn schließlich waren all diese jungen Rebellen selbst Deutsche. Von dieser gemeinsamen Plattform aus definierten sie zwar neu, was richtig und falsch war – doch in einer weitestgehend monoethnischen und monokulturellen Gesellschaft.
Und es war immer noch kein Thema, als 1990 die Wiedervereinigung daherkam und aus zwei halben eine neue Nation zusammengebacken wurde. Wir waren alle Deutsche, oder nicht? Also warum ein Gewese machen um unsere nationalen Werte in Interaktion mit anderen, konkurrierenden auf unserem eigenen Boden? Ja, es gab eine intensive Nabelschau, aber meistenteils über die Frage, wer die besseren Deutschen waren, welche Hälfte von uns die D-Mark mehr verdient hatte – den einzigen Wert, über den eine neue nationale Einigkeit bestand.
Erst als die Immigration von außerhalb unserer erweiterten Außengrenzen ein immer mächtigerer Strom wurde, erst als wir mit dem Bau von Zeltstädten begannen (in Hamburg allein werden nach vermutlich bereits wieder überholten Zahlen bis Jahresende 31.000 Neuankömmlinge erwartet), erst dann starrten wir endlich in den Spiegel und entdeckten: etwas Undefinierbares, Konturloses.
Individualismus schafft keine Heimat
Wer also sind wir Deutschen? Nicht mehr als ein Volk im Niedergang, mit einer Geburtenrate von unter 1,4, zufällig auf einem Gebiet namens Bundesrepublik angesiedelt? Eine historische Gesamtheit, die von einer Flut reproduktiverer Neuankömmlinge umspült wird? Gibt es irgendetwas, etwas anderes als eine gemeinsame Sprache und einen hohlen Konsumismus, das uns „Eingeborene“ vereint und uns so das Recht verleiht, Anspruch auf dieses Land zu erheben?
Plötzlich entdecken wir, dass unser gefeierter Individualismus und Materialismus der letzten Jahrzehnte nicht viel dabei hilft, eine starke und verlässliche Heimatbasis zu entwickeln – etwas, das all die neu hinzukommenden Gruppen besitzen. Ebenso wenig hilft das Fehlen eines gemeinsamen Wertesystems oder auch nur von Sitten und Bräuchen, die über Weihnachtsgeschenke und Fußball hinausgehen. Gar nicht zu reden von geteilten philosophischen Weltanschauungen und am allerwenigsten von einer Religion, die inoffiziell vor Jahrzehnten für tot erklärt wurde.
So ist die Frage, ob wir als Nation und als Volk in einer Welt expansiver Ideologien und aggressiver Glaubenslehren mit leeren Händen dastehen, mehr denn je zur Debatte freigegeben. Also gut, die Herausforderung ist da. Und sie wird nicht wieder weggehen, ebenso wie all die Neuankömmlinge nicht einfach so wieder weggehen werden.
Nun mag der Einwand kommen: Wozu soll das gut sein, dieses Herumreiten darauf, was „deutsch“ sei? In dieser so flüchtigen und verflochtenen Welt, deren Koordinaten sich alle paar Wochen um 180 Grad zu verschieben scheinen? Warum nicht einfach das Neue umarmen und die Gelegenheit nutzen, das so mühsam Greifbare – die einende Identität – als sinnlosen Ballast ein für allemal abzuwerfen?
Warum die Mühsal lohnt
Es ist notwendig, weil nur der, der sich seines größeren Ganzen, seiner kollektiven Herkunft und Verortung bewusst ist, auch wissen kann, warum er als Einzelner ist, wie er ist. Und nur wenn er das weiß, kann er Stand- und Haltepunkte für seine eigene und die kollektive Zukunft (mit-)bestimmen – was doch ureigenster Antrieb unseres demokratischen Diskurses sein sollte, wie Sonntagsredner stets beteuern.
Wer sich aber schon seiner eigenen Kultur im Guten wie im Schlechten nicht sicher ist, dem bleibt nichts übrig, als sich treiben zu lassen und Getriebener zu sein. Er darf sich dann nicht wundern, wenn andere, sich selbst bewusstere Kulturen den Raum einnehmen, den auszufüllen er ein Gewohnheitsrecht zu haben glaubte.
Wir müssen – 70 Jahre nach Hitlers katastrophalem Fehlversuch, eine Deutschland-Formel zu definieren – gemeinsam neu festlegen, was dieses Land im Inneren zusammenhält. Nur dann können wir uns sicher sein, was wir den Neuankömmlingen anzubieten haben – und was nicht. Selbstverständlich darf sich das Ergebnis nicht in Kubitscheks groteskem Wagner-Zitat erschöpfen. Aber ebensowenig in hohlen Phrasen wie „Frieden“ oder „Wohlstand“ oder „Solidarität“.
Als die 5000 kürzlich auf dem Hamburger Rathausmarkt Versammelten „Refugees welcome“-Fahnen schwenkten, sangen sie „Imagine there’s no heaven“ von John Lennon, um die brutale Realität der Welt da draußen zu bannen: „Imagine there’s no countries“? Doch, es gibt Nationen, und sie sind gewachsene, innere wie äußere Gebilde, keine bloßen Phantasien, die sich mit einem Traumbild überwinden ließen. „Nothing to kill or die for“? Fragen Sie die Ankommenden nach ihren Erfahrungen und Ansichten. „And no religion too“? Fragen Sie die Refugees, ob sie das auch so sehen.
Nein, es muss gelingen, aus dem diffusen Sehnsuchts- und Zufluchtsort „Deutschland“ mehr herauszukristallisieren als ein bloßes Zufallsprodukt von Völkern auf Wanderungen. Denn für ein solches Zufallsprodukt bräuchte man keine Planungen, keine Hoffnungen, keine Gesetze, keine Normen mehr zu entwickeln – es würde ohnehin am Ende seiner zunehmend kurzen Halbwertzeit in neue, unvereinbare Isotope zerfallen. Es wäre das Ende der Geschichte.