Was bisher geschah: Zeitungsanzeige „Zugtester gesucht“ gelesen, beworben, ausgewählt, im Zug zum „Zuglabor“ nach Frankfurt gefahren, unterwegs Drachen getötet und Prinzessinnen befreit Menschen im Gleis und Menschen im Waggon überlebt, mit 32 Minuten Verspätung am Hauptbahnhof angekommen. Keine besonderen Vorkommnisse also. Das *****-Hotel befindet sich direkt gegenüber vom Bahnhof. Es heißt auch nicht deshalb *****-Hotel, weil dort eigentlich ein unfreundliches Five-Letter-Word stehen müsste (welches sollte das denn auch sein?), sondern wie sich herausstellt, ist dort wirklich alles *****. Also im Sinne von „wert“.

Bis auf das Frühstück am anderen Morgen, als das Rührei erst vergessen wird und dann lauwarm ist und auch kein Pfeffer aufzutreiben, aber hey, dies ist kein Hoteltest, sondern ein Zugtest, genauer gesagt ein Test des „Reisererlebnisses Regionalverkehr“.

Ja wirklich: Reiseerlebnis Regionalverkehr. Erklären Sie diesen Begriff bitte einem beliebigen Afrikaner. Ich habe dazu keine Zeit, ich muss jetzt nämlich zunächst zum gemeinsamen Einstimmungs-Abendessen der Bahnfreunde, -mitarbeiter und -tester. Was ich aufgrund der gerade noch realitätskompatiblen Verspätung der Bahn gerade noch schaffe.

Der Most macht uns alle gleich

Das Abendessen findet in einem gemütlichen, authentischen, historischen Frankfurter Äppelwoi-Wirtshaus statt. Womit ich nicht gerechnet habe: Nicht nur werden hier Bahntester aus allen Schichten der Bevölkerung (außer Kindern und Rollstuhlfahrern) auf das morgige Reiseerlebnis Regionalverkehr eingestimmt, nein, die Hälfte der Menschen an meinem langen Wirtshaustisch sind Kundenbetreuer – früher sagten schlichte Gemüter wie ich: Schaffner – der Deutschen Bahn, die tagsüber in Regionalverkehrszügen Dienst tun.

Auch sie kommen aus allen Schichten der Bevölkerung (außer Kindern und Rollstuhlfahrern). Einer ist dabei, der seine Ausbildung noch bei der Reichsbahn in der Ex-DDR erhalten hat, und zwar als „Bester der drei Nordbezirke“. Da er sich aufgrund seiner langjährigen Berufspraxis in Nahverkehrszügen einer hervorragenden Menschenkenntnis rühmt, bin ich ihm gleich suspekt. Doch das lässt sich im Laufe des Abends mit zunehmender Äppelwoi-Dichte leidlich einrenken. Der Most macht uns, von Ost bis West, alle gleich.

Nachdem wir Tester schließlich gut abgefüllt, gesättigt und korrumpiert in unsere kostenlosen *****-Betten gefallen sind, träume ich von: keine Ahnung. Moment, sagte ich „korrumpiert“? Das stimmt natürlich nicht. Erstens müssen wir ja morgen noch unbestechlich und unbezahlt arbeiten, und zweitens haben wir überhaupt keine Flachbildfernseher (google: „Hoyzer-Affäre“) zum Verbleib erhalten. Wir sind einfach nur mit landesüblich demokratischen 32 Minuten Verspätung sehr komfortabel 1. Klasse von HH nach FFM transportiert worden, in meinem Fall zumindest. Und das war ja auch nur das Reiseerlebnis Fernverkehr, also kein Interessenskonflikt erkennbar. Compliance verpiss dich, keiner vermisst dich!

Der Morgen des Testtags. Unser roter, doppelstöckiger, durchaus schon ganz leicht verschrammter Original-Regionalzug steht auf Gleis 1a. Um hineinzugelangen, muss man erst mal an einer Art mobilem Counter einchecken, erhält ein Gebamsel mit Namensschild um den Hals und eine Art Hüfthalter für das einsteckbare Sendeteil eines ansteckbaren Mikrofons. Denn jedes Wort wird fortan aufgezeichnet und anschließend sogar „verschriftlicht“! Ich mache eine Sprechprobe und begrüße die mithörenden NSA-Agenten: „Allahu Akbar!“ Keine Antwort. Mein Arabisch muss ich noch verbessern.

Niedlicherweise erhalten wir auch jeder eine Fahrkarte nach Heidelberg („via Mannheim“), obwohl sich unser Zug ja die ganze Zeit keinen Meter fortbewegen wird. Schon gar nicht nach Heidelberg via Mannheim. Aber Eisenbahn spielen macht halt so viel Spaß.

Viel interessanter ist jedoch im Moment, was am Nachbargleis abgeht. Selbst die Fotografen und Kameraleute, die im Auftrag der Marktforscher bzw. der Bahn fast jede unserer Bewegungen aufnehmen werden, vergessen uns hoffnungsvolle Tester einfach minutenlang. Sie richten ihre Objektive auf das alte Schnauferl von Lokomotive, das da gerade voll unter Dampf zischt und brodelt, um in irgendein Eisenbahnmuseum zu rollen. Wollen wir nicht lieber das Reiseerlebnis Musealverkehr testen? Nein? Schade.

In unserer Testergruppe sind wir zu sechst. Zwei Pädagogen darunter, männlich wie weiblich erkennbar daran, dass sie Begriffe wie „Falschgleisfahrt“ oder „Triebfahrzeugführer“ zur Hand haben. Desweiteren ein Rentner, dann ein noch jüngerer Mann als ich selbst und einer, der trotz seiner geradezu kindlichen 21 Jahre schon mal Funktionär bei einem „Fahrgastverband“ war. Alle, nicht nur das Lehrpersonal, können sich bedrohlich präzise artikulieren und machen auch reichlich Gebrauch davon, bis auf den Rentner aus Niedersachsen, der sich aufs Notwendigste beschränkt.

Zunächst wird im Großraumwagen unter Anleitung eines Moderators vom Marktforschungsinsititut einfach nur diskutiert. Was stört am Reiseerlebnis Regionalverkehr? Was könnte man besser machen? Es ist ein ganz klein wenig unspektakulär.

Palim-palim!

Doch dann betritt unvermittelt ein älterer, uniformierter Schaff… Kundenbetreuer den Wagen. „Guten Tag, die Fahrkarten bitte!“ Als gute Deutsche sind wir alle erleichtert, dass wir unsere Kindereisenbahnfahrkarten dabei haben – da ist es völlig egal, dass man im Grunde weiß, es handelt sich hier nur um eine „Szene“, die uns dargeboten wird, um realitätsnäher über das Kartenzangenabdruckerlebnis im Regionalverkehr sprechen zu können. Und gesprochen wird dann auch: War der Mann freundlich genug? Hat er genügend Dienst am Kunden geleistet? Stimmte das spontane Smalltalk-Erlebnis? War es unangenehm, dass er unser „Reiseziel“ Heidelberg lauthals dem ganzen Wagen verkündet hat?

Und während wir noch darüber diskutieren, kommt er ein zweites Mal, jetzt hat es schon etwas von einer Nummernrevue oder dem alten Didi-Hallervorden-Sketch „Palim-Palim“. Diesmal ist er kürzer angebunden, formaljuristisch. Und umso froher sind wir über unsere Kinderspielzeugbahnfahrkarten. Als wir auch das wieder alles ausführlich besprechen und unser Marktforscher dabei wie zufällig seine beschuhten Füße auf einer der Sitzflächen ruhen lässt, ist der Bahner schon wieder zur Stelle: „Nehmen Sie bitte Ihre Füße vom Sitz!“ Und geht ab. Aber hätte er nicht eine Begründung liefern müssen? Wenn es nach unserem Oberstudienrat ginge, dann nein. Dem war das Delikt nämlich bereits derart unangenehm aufgefallen, dass ihm jede Strafe auch ohne Gerichtsverhandlung angemessen erschienen wäre. Bis auf den Rauswurf bei voller Fahrt vielleicht.

Das aber hält den Mann vom Marktforschungsinstitut nicht davon ab, die Füße schon wieder aufs Polster zu schieben. Sofortiger Kurzauftritt Schaffner: „Hallo! Zweite und letzte Ermahnung!“ Und das findet auch in diesem Bademeister-Ton die vollste Zustimmung unserer pädagogisch dominierten Gruppe. Allerdings: Wie könnte die letzte Eskalationsstufe aussehen? Ein gewisser Zugzwang hat sich eingestellt. Knisternde Krimispannung liegt in der mittlerweile abgestandenen Luft.

Nicht vorgesehen: Kunden als Kampfsportler

Gerade als ich glaube, das könne hier im Labor alles nicht noch spannender und realistischer werden, drängen plötzlich fünf junge Männer in den Wagen. Der erste gleich hat einen Ghetto-Blaster auf der Schulter, aus dem etwas röhrt, das entfernt an sehr schlimme Musik erinnert. Der zweite schleppt eine Kiste Bier. Der dritte trinkt, und für alle gilt: Sie bedrängen uns wie aus dem Lehrbuch. So mit anfassen und „Alder-Digger-was-geht-ab-haste-mal-Feuer-oder-haste-ein-Problem?“ und ganz nah auf die Pelle rücken und richtig Stress suchen. Dinge, die man wirklich, wirklich nicht in einem Regionalzug erleben will (aber in Teilen erst neulich tatsächlich erlebt hat). Die einzige Dame in unserer Gruppe ist mittlerweile zwei bis drei Schattierungen blasser.

Doch der uniformierte Bahner, inzwischen als Law-and-Order-Mann etabliert, ist wie durch ein Wunder schon wieder zur Stelle. Und regelt den Verkehr. Beruhigt die Gemüter, komplimentiert aus dem Wagen (der ja gottseidank steht), gibt noch guten Rat mit auf den Weg. Ausschließlich kraft seiner Bahn-Autorität. Merkwürdig nur, dass wohl keiner von uns sich darauf im echten Leben verlassen würde. Hinterher verrät unser Helden-Schaffner, pardon Kundenbetreuer, dass in einer der vorigen Testgruppen einer der Test-Fahrgäste Kampfsportler war. Das war im Skript nicht vorgesehen gewesen. Die Schauspielschüler, die die Chaoten mimten, sind danach vermutlich durch neue ersetzt worden. Und die Tester durch uns.

Jedenfalls kann die Deutsche Bahn mitnehmen, dass wir jetzt gerade sehr, sehr gern mehr Schutz und dazu ausgebildetes Personal hätten. Besonders, wenn wir Frau und Lehrerin sind. Hoffen wir, es hilft was.

Kaum ist der ganze Schrecken überstanden, werden wir zur Müll- und Verwahrlosungsbegutachtung ins nächste Abteil geführt. Es geht mit harmlosen Krümeln auf Sitzpolstern los, mit potenziell herumrollenden Bierflaschen am Boden weiter, über Haarfettabdrücke an Fensterscheiben und Brandflecken auf Polstern munter weiter hinauf in der Ekel-Hitparade. Alles sehr hübsch von kundiger Hand hindrapiert.

Schon wieder Gründe, grün und weiß im Gesicht zu werden. Die Frage: Was finden wir noch erträglich? Was geht gar nicht mehr? Zum Glück werden die wirklich harten Fälle, angefangen bei klebrig-verschmierten Müllbehältern und endend bei Dingen, die andere Fahrgäste schon mal im Mund oder Verdauungstrakt mit sich trugen, nur auf Originalfotos präsentiert. Danke, das genügt. Wir einigen uns darauf, dass alles, was im weitesten Sinne fettig oder flüssig ist und auf das wir uns setzen müssten, dem Reiseerlebnis Regionalverkehr eher abträglich wäre.

Ein gutes Gefühl

Und kaum haben wir auch noch die Qualität und Verständlichkeit von Durchsagen begutachtet („Meine Damen und Herren, wir erreichen als nächstes brpflgrpfgrmgrgerkjpfz!“), ist der Test auch schon vorbei. Drei Stunden sind nicht wie im Flug vergangen, wir sind hier ja nicht bei der Lufthansa, sondern in vollen Zügen durchlebt und durchlitten worden. Erstaunlicherweise aber mit dem bleibend guten Gefühl, der Deutschen Bahn ein wenig weitergeholfen zu haben. Und uns selbst damit auch, auf mittlere Sicht. Ein wirklich gutes Gefühl.

Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass das Thema Toiletten ausgeklammert blieb.