Lisboa, die Schöne – Zuflucht für Menschen wie uns, die vom hässlichen deutschen Alltag zermürbt sind und sich kurz der Illusion hingeben wollen, dem Zorn des Kriegsgottes entkommen zu können. Worauf wir nicht vorbereitet waren: Auch die Welt der saudade ist aus den Angeln gehoben.

An Bord des Airbus, während Paris nach dem Zwischenstopp auf Charles de Gaulle schräg unter uns zurückbleibt und das Kabinenfenster noch kurz den Blick auf einen Eiffelturm in pisa-würdiger Schieflage zulässt, scheint die Flucht aus dem kalten Pandemischen Reich östlich des Rheins zum ersten Mal gelungen. Ich sinke in meinen Sitz und genieße dank der human bestuhlen Air-France-Maschine ein wenig Beinfreiheit, überraschend für die Holzklasse auf einem vollbesetzten Linienflug, wenn man aus Deutschland kommt.

Und dann findet sich in der fahrbaren Bordbar am Himmel über der Biskaya auch noch ein Cabernet Sauvignon gratuit, als ob dies das Jahr 1965 wäre und wir zahlende Passagiere mit Menschenwürde statt hochverdichtetes Humanmaterial zur Verklappung an der einprogrammierten Destination. (Letzteres Reisegefühl wird sich erst auf dem Rückflug in den Hygienestaat mit Eurowings wieder einstellen, dann aber mit aller Macht.)

Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Das war die Idee: der alten, verlebten, schwermütigen, aber immer noch so verdammt erotischen Madame Liberté nachzusteigen, sicherheitshalber über Frankreich hinaus und bis an die wilde Atlantikküste der Iberischen Halbinsel. Da steht sie und winkt uns, Lisboa, die Schöne. Die Hoffnung war, ihr beiwohnen zu dürfen, oder sie anfassen zu dürfen, oder wenigstens einen Rockzipfel. Oder wenigstens für eine Woche der totalitären Tristesse eines Landes ohne Aussicht auf Prager Frühling zu entkommen. Hallo, da sind wir nun wohl. Bom dia!

Und es wird Fühling in Lisboa, wie es nur hier Frühling werden kann:

Es gibt Fahrer, die lachen, während sie ihre merkwürdigen Vehikel durch die engen Straßen steuern:

Wir tauchen ein in das Gewusel der Plätze, in die Gleichzeitigkeit der parallelen Zeit- und Daseins-Ebenen, in die architektonische und kulturelle und topografische Vielschichtigkeit einer auf sieben Hügeln errichten Metropole.

Und wir saugen gierig die Bilder auf, auch das sich ändernde Licht, plötzlich gelb unter tagelang durchziehenden Wolken aus Sahara-Staub, das Leichte und das Lastende, Grandiose und Groteske einfärbend, das ganze Leben, dem auch hier jederzeit der Himmel auf den Kopf zu fallen droht und das doch so viel erträglicher scheint, Optimismus noch denkbar bleiben lässt, was Illusion sein mag, die aber das Vorrecht des Ortsfremden ist. Unsere Woche der Schwerelosigkeit schmilzt zu Tagen, dann zu Stunden.

Schon bricht der letzte Abend in Freiheit an. Was tun wir damit? Fado, das tun wir damit. Die Wehmut, saudade, die den Menschen hier von der Zeit und dem Seegang noch tiefer eingebrannt wurde als die südliche Sonne, sie schwemmt auch über mich hinweg, und ich möchte mich jetzt von ihrem Sehnsuchts- und Klagegesang einwickeln lassen in eine wärmende Decke aus Weltschmerz.

Fado ist für Portugiesen das, was für die aschkenasischen Juden der Klezmer ist: ein musikalischer Ritt zwischen Ekstase und Verzweiflung, zwischen schmerzender Liebe und zerstörter Hoffnung – wobei letztere immer, immer wieder zertrümmert wird und erstere immer, immer wieder neu anläuft. Das heult und tobt und schäumt im ewigen Wechsel von sich überschlagender Brandung und ermattetem Rückzug, wie es der Atlantik am boca de inferno macht, dem „Höllenschlund“ beim Badeörtchen Cascais:

Und das, bitte, als Musik, das soll es jetzt zum Abschluss sein. Doch die Hauptstadt hat sich mit Touristen gefüllt während unserer Woche, das erste antelefonierte Fado-Lokal sagt gleich ab: ausverkauft. Aber beim zweiten haben wir Glück. Das „O Forcado“ liegt in der Rua da Rosa hoch oben im Gassengewirr des Bairro Alto, noch oberhalb eines Treppenviertels voller Musikkneipen und Weinbars, in denen sich die junge Szene der Hauptstadt tummelt. Gegen halb neun soll es losgehen, gut sei es, wenn wir so kurz nach acht kämen, rät uns der Telefonist.

Es stellt sich heraus, dass das O Forcado nicht nur ein altes Traditionslokal ist, gegründet 1968, in dem die Fado-Größen Filipe Pinto, António Rocha, Tristão da Silva, Fernando Maurício und der Gitarrist Jorge Fontes jahrzehntelang Auftritte hatten. Die 1999 verstorbene Königin des Fado höchstselbst, Amália da Piedade Rebordão Rodrigues, war die „Patin“ des Restaurants. Auch unter den Gästen waren stets „große nationale und internationale Persönlichkeiten“, klärt uns die Webseite auf. Das Restaurant – die musikalische Kunst gibt es hier zur kulinarischen dazu – hat 200 Plätze. Das spricht für üppige Nachfrage.

Besser also rechtzeitig da sein. Und das sind wir, trotz steiler Wege und vieler Treppenstufen bis hinauf zum Olymp. Es schon dunkel, aber erst kurz nach acht. Von außen sieht es indes nicht nach drohender Überfüllung aus:

Doch dieser Eindruck ist nichts gegen die Szenerie im Innern. Als wir eintreffen, sind wir drei die einzigen Gäste. In einem 200-Plätze-Restaurant. Erst glaube ich, dass wir uns vielleicht im Wochentag geirrt haben, aber den Fado bieten sie hier täglich außer Mittwochs, und heute ist Samstag. Livrierte Kellner bitten uns, als sei alles ganz normal, nach Angabe unseres Namens zu einem aufwändig gedeckten Tisch. Er steht keine fünf Meter von der kleinen Bühne mit nur zwei einfachen Holzstühlen darauf, die strategisch inmitten von drei großzügigen Restaurant-Flügeln postiert ist. An den traditionell gekachelten Wänden hängen Bilder des portugiesischen Stierkampfs. Das ist jene Variante, bei der sich anstelle eines Matadors mit Degen eine Gruppe von acht unbewaffneten Männern – die Forcados – dem Stier entgegenstellt und der vorderste von ihnen versucht, frontal zwischen die Hörner zu springen, um das tobende Tier genau dort zu packen. Getötet wird der Stier beim portugiesischen Stierkampf nicht.

Die Darstellungen der tollkühnen Männer in überfüllten Arenen nehmen wir jedoch kaum wahr. Selbst unsere fast geflüsterten Worte hallen durch den leeren Saal, an unserem Tisch mitten im Raum scheinen wir antriebslos in einem unbelebten Weltall zu schweben. Dennoch wird uns nun eine Kerze entzündet, wird schon mal eine Flasche Mineralwasser gebracht und ein Satz Speisekarten. Haben wir irgend etwas missverstanden? Die beiden Kellner, distinguierte ältere Herren, behandeln uns indes mit der eines Sternerestaurants würdigen stoischen Eleganz. Keine Bewegung zuviel, kein Service zuwenig.

Schließlich nehmen wir unseren Mut zusammen und fragen nach: Was ist los? Warum diese Leere? Und mit einer Miene, die zwischen Gottergebenheit und Resignation schwankt, antwortet der Kellner nur: „Die Pandemie …“ Am Vorabend, Freitag, habe man immerhin am Ende 27 Besucher zählen dürfen. Ja, aber … heute sind wir zu dritt! Da wird doch niemand von denen, die sich – wie deutlich zu hören ist – im Hinterzimmer bereits einspielen, hier auf die Bühne kommen! Da muss doch gleich wieder geschlossen werden!

Ob wir denn schon gewählt hätten, fragt uns der andere der beiden Kellner unverdrossen wenige Minuten später. Um ehrlich zu sein, waren wir eben noch ganz kurz davor, wieder zu gehen. Aber das können wir auch nicht, denn wir befinden uns im Auge des Antizyklons: im Zentrum der Aufmerksamkeit des Personals. In der Küche, deren Tür offen steht, rumoren mehrere Köche. Also bestellen wir. Wenn uns schon unbehaglich ist, wie mögen sie sich erst fühlen? Und gar erst die Musiker? Es ist der Albtraum jedes Künstlers: das Warten vor dem Auftritt in einem so gut wie leeren Saal.

Doch wenige Minuten später erlischt langsam das kalkweiße Licht, und in ein rötliches Dunkel hinein kommen sie auf die Bühne: die beiden Gitarristen – einer mit der portugiesischen Variante des Instruments – und die Fadista, die Sängerin. Ihre Namen werden wir den ganzen Abend über nicht erfahren, so als ob sie sich hier nur zu einer kleinen, privaten jam session getroffen hätten. Aber ihre Musik werden wir erfahren:

Es ist schwer zu beschreiben, was da in mir vor sich geht. Denn anders als in diesem Videoausschnitt, als bereits der Endstand von neun zahlenden Gästen erreicht ist, sind wir die ganze erste Hälfte des Abends tatsächlich noch allein mit diesen Künstlern (und den Kellnern samt unserer Gerichte, die allesamt hervorragend sind). Als sie zu musizieren beginnen, löst sich eine innere Anspannung in mir, die sich lange aufgebaut haben muss. Tränen laufen mir übers Gesicht, und ich bin froh, im Halbdunkel zu sitzen.

Fucking Corona, you know. All die Verzweiflung der vergangenen beiden Jahre, all die Demütigungen, die Beleidigungen des gesunden Menschenverstandes, die staatlichen Willkürmaßnahmen, das Ausgeliefertsein, das Zusehenmüssen bei einem Abwärtsstrudel, den ich nicht aufhalten kann. All die menschliche Rohheit, die Kontaktabbrüche, die vorgeschobenen Politiker-Statements, die verborgenen Agenden, die Lügen, die Bösartigkeiten, die ohne Not durchgepeitschte Unfreiheit. Das für immer Verlorene.

Und nun, mehr als zweitausend Kilometer entfernt von dem Land, in dem ich all das hinter mir lassen wollte und in das ich morgen zurückkehren muss, ein Saal mit Kerzenlicht, delikaten Speisen, geschmackvollem Ambiente, großer, gefühlsbeladener Musik, Künstlern, die sich die Seele aus dem Leib spielen und singen – für drei Gäste an einem Tisch, drei statt zweihundert. „Die Pandemie …“ Ach, Corona – was ist das nur? Kann das wirklich der ganze Grund sein? Muss hier nicht auch das Management Fehler gemacht, vielleicht nicht die richtigen Werbekanäle bespielt haben?

Oder, schlimmer noch: Ist der Fado selbst am Ende? Vielleicht kann sich die Mittelschicht der Portugiesen, die auch in der Hauptstadt nur ein Drittel bis die Hälfte deutscher Gehälter verdient, nach den wirtschaftlichen Erschütterungen der vergangenen Jahre dieses Restaurant im oberen Preissegment nicht mehr leisten. An den Tankstellen kostete der Liter Benzin nahezu dieselben Wahnsinnspreise wie bei uns. Und die Partyszene, durch die wir uns beim Aufstieg aus der Unterstadt gedrängt haben, ist dieselbe globalisierte Crowd wie überall in Europa oder den USA. Gestern noch hingen sie alle in Berlin ab, davor in Edinburgh, in Kopenhagen …

Diese Leute hören keinen Fado. Er sagt ihnen nichts. Vielleicht sagen ihnen große Gefühle nichts mehr. Vielleicht haben sie bereits gelernt, in der nun kommenden Zeit ohne dieses lästige, gefährliche, lähmende Gepäck auszukommen, ohne dieses Erinnertwerden an die Vergeblichkeit, die Sinnlosigkeit aller Versuche, Geliebtes und Bewährtes festzuhalten. Vielleicht sind sie mir alle den entscheidenden Schritt voraus und haben schon losgelassen.

Als ich am nächsten Mittag in mein 0,5-Quadratmeter-Geviert bei Eurowings eingepasst bin, Beförderungsobjekt der fliegenden Resterampe von Lufthansa, die Knie an den Ohren, und ins Land meiner Herkunft ausgeschafft werde, lausche ich – zur Regungslosigkeit verurteilt – den alle drei Minuten wechselnden Ansagen der Flugbegleiterinnen. Der Ton macht auch hier die Musik. Sie hören sich selbst längst nicht mehr zu, sie reproduzieren nur noch zwitschernde Sprachmelodien, zu grotesker Betonung absurde Tonleitern hinauf- und hinabsteigend:

Wir bitten Sie, jederzeit ihre Masken zu tragen. Wir bitten Sie, sich nicht unnötig im Gang zu bewegen. Unsere Sitzplätze werden regelmäßig desinfiziert. Wir werden jetzt mit einer Auswahl von Snacks und Getränken zu Ihnen kommen. Wir können Ihnen heute unsere Sandwiches zum halben Preis anbieten. Bargeldzahlungen können an Bord leider nicht akzeptiert werden. Wir werden jetzt mit einer Auswahl von attraktiven Angeboten aus unserem Bordshop zu Ihnen kommen. Bitte achten Sie auf den richtigen Sitz Ihrer medizinischen Maske über Mund und Nase. Wir wünschen Ihnen ein wunderbares Shoppingerlebnis. Die Bundespolizei macht Stichprobenkontrollen. Bitte halten Sie vor Ihrem Weiterflug Ihre Impf- und Testzertifkate sowie den Personalausweis bereit. Wir beginnen unseren Landeanflug auf Stuttgart. Danke, dass Sie Eurowings geflogen sind und Europa besucht haben, solange es noch stand. Bitte springen Sie jetzt aus dem Fenster.

In Stuttgart hat der Anschluss fast eine Stunde Verspätung. Macht vier statt drei Stunden Aufenthalt auf Deutschlands ödestem Großflughafen, der sich beim Versuch frische Luft zu schnappen auch als am hässlichsten umgeben erweist. Als die Durchsage kommt, dass das „Boarding nun in zehn Minuten beginnen wird“, bilden die Deutschen wie auf Kommando stumm und missmutig eine lange Schlange am Gate, obwohl sie sitzenbleiben könnten und ihnen kein Zeitvorteil entsteht. Zum Dank für ihre Rudelbildung werden sie, ohne Angabe von Gründen, dann noch einmal dreißig Minuten stehengelassen. Sie stehen stumm und warten auf Ansagen zum Flug, zur Inflation, zur Impfaktion, zum Atomkrieg. Eine junge Mutter steht und hat ihr Neugeborenes auf dem Arm, das stumm aus großen Augen schaut. Am Ende saugt uns alle der Rüssel am Gate ein und spuckt uns in den Anschlussflieger. Es gibt kein Entkommen. Der letzte Fado ist längst verklungen.


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