Der Herbst färbt das Laub golden, Hamburg flaniert in der Nachmittagssonne. Nur im Hintergrund läuft leise ein Countdown, den die Menschen spüren und sogleich verdrängen. Eine ganz normale Ignoranz, die an Wochenschau-Filmbilder von „vor dem Krieg“ erinnert. Gerade deshalb wiederholt sich „vor dem Krieg“ in diesen Wochen und Monaten.

Seit Februar 2022 prangt auf der Startseite von TWASBO ein Banner mit dem bekannten „Peace“-Zeichen der Friedensbewegung. Klickt man darauf, gelangt man auf eine Seite mit „Geboten der Stunde“. Doch die Dringlichkeit ist mit den Monaten und Jahren verflogen, der (mittlerweile längst verdoppelte) Anlass vergessen. An das dauerpräsente Zeichen hat man sich gewöhnt, niemand klickt mehr. Der Friedensappell ist zum Inventar geworden, zur Wanduhr, deren Ticken niemand mehr hört. Erst wenn sie stehenbliebe und nicht mehr tickte, also wenn ich das Zeichen entfernte oder diese Webseite verschwände, würde es auffallen.

Unterdessen ist da ein anderes Ticken im Hintergrund, schneller und immer schneller: eine Zeitbombe. Der Krieg. Tick. Tack. Tickeditack.

Dieses Geräusch kommt von weit her, daher wird es mit Leichtigkeit übertönt. Von Ihren Einkäufen, Ihren neuesten Urlaubsplänen, Ihren Geldsorgen, Ihrer Party, Ihrem Ärger im Job. Von Netflix und Prime. Von Propaganda. Von Zensur. Aber es ist da, das Geräusch: tick, tack, tickeditack.

Das Geräusch kommt aus der Ukraine. Das Geräusch kommt aus dem Nahen Osten. Dort klingt es anders: krachend, pfeifend, dröhnend, heulend, ohrenbetäubend, gedärmezerfetzend, erderschütternd. Wir hier hören das nicht, es dringt nicht zu uns durch. Propaganda. Zensur. „Kriegsberichte“ mit zehnfachem Reinigungsfilter gegen den Schmutz der Kriegs-Realität. Umrahmt von dringenderen Nachrichten, die von Jürgen Klopp oder „Klimageld“ handeln. Netflix, Prime. Mehr Netflix und Prime. Tick, tack, tickeditack.

Ich sitze auf dem Dach der Welt. Eine Backsteinmauer, die Beine baumeln. Oktobernachmittag. Warme Herbstsonne scheint mir strahlend ins Gesicht, sodass ich die Augen schließen muss. Ein angenehm milder Wind streicht mir über die Wangen. Stintfang, die Kuppe oberhalb des U-Bahnhofs Landungsbrücken. Da, wo der halbironische Hamburger Weinberg wächst, mit dessen gekelterten Erträgen die „Ehrengäste der Hamburger Bürgerschaft“ beschenkt werden. Jetzt abgeerntet bis auf das herbstbunte Weinlaub, an diesem Ort mit dem grandiosesten Panorama von Postkarten-Hamburg, das sich denken lässt.

Bei geschlossenen Augen jedoch sind da nur das flächendeckende Rot hinter den Lidern, der warme Luftzug und Geräusche. Friedliche Geräusche: Lachen, Musik aus irgendeinem Verstärker, leise, entspannte Unterhaltungen, das gelegentliche Rattern der Hochbahn, Schiffsmotoren auf der Elbe. Tick, tack.

Während ich dies vorgestern schrieb, wartete ich, wartete die Welt jeden Tag auf Israels Vergeltungsschlag gegen den Iran. Auf die Reaktion auf den Raketenangriff vor einigen Wochen, der seinerseits ein Vergeltungsschlag für Israels Ermordung hochrangiger Politiker und Militärs war, die ihrerseits ein Vergeltungsschlag für den Raketenangriff auf Israel im April war, seinerseits ein Vergeltungsschlag für den Einmarsch in Gaza, seinerseits ein Vergeltungsschlag für den 7. Oktober, seinerseits …

Käme also der angekündigte israelische Vergeltungsschlag, etwa gegen Ölfelder oder Nuklearanlagen, hatte der Iran bereits angekündigt, einen noch härteren Vergeltungs-Vergeltungsschlag auf Israels „zivile Zentren“ zu führen. Dass er dazu fähig ist, hat er mit den vergangenen beiden Raketen-Schwärmen bewiesen, die den angeblich unüberwindbaren Schutzwall des „Iron Dome“ entgegen aller Propaganda hundertfach durchdrungen haben, aber mit Sorgfalt nur relativ menschenleere Ziele trafen, sodass noch eine massive Steigerung der destruktiven Effizienz möglich bleibt. Diese Botschaft ist angekommen. Und deshalb hat sich Israel nun etwas mehr Zeit für seine Antwort gelassen.

Aber, voilà: Hier ist sie. Nur einen Morgen später wache ich auf und blicke aufs Handy. Die BBC informiert mich, dass Israel „gezielte Luftschläge gegen militärische Ziele“ in Teheran und Umgebung ausgeführt habe. Also muss ich Teile dieses am Vortag begonnenen Textes löschen und aktualisieren. Es ist klar, dass der nächste Vergeltungs- und Enthauptungsschlag nun ebenfalls nicht lange auf sich warten lassen wird. Tick, tack. Diesmal ist wieder der Iran am Zug. Die USA, Israels Schutzmacht und Waffenlieferant, haben bereits angekündigt, „eisern“ an Israels Seite zu stehen. Großbritannien, ebenfalls Verbündeter, forderte den Iran auf, nun aber nicht seinerseits zurückzuschlagen.

Doch nur noch um Vergeltung geht es. Sie ist in der Logik derer, die sie vorbereiten, alternativlos. Sie muss in der Logik derer, die sie propagieren, noch härter ausfallen als die antizipierte Antwort auf die eigene Antwort. Der Blick verengt sich auf die nächsten oder übernächsten Enthauptungsschläge, die nächste oder übernächste Eskalationsstufe.

Was? Sie meinen, dass die Vernunft und die Diplomatie einer solchen Eskalation doch rechtzeitig Einhalt gebieten werden? Wenn Sie die minutenlangen Standing Ovations von beiden Seiten des US-Kongresses bei Netanyahus Rede dort gehört haben: sorry, nein. Alle dort sind auf Kriegskurs. Alle. Friedfertigkeit ist Schwäche. Der Feind versteht nur Stärke.

Wussten Sie aber, dass der Iran mit der Atommacht Pakistan befreundet ist, und dass iranische Politiker in diesen Tagen einen Beistandspakt mit der Atommacht Russland zum Abschluss bringen wollen? Dass es zu Israels ideologischen Fundamenten zählt, im äußersten Fall Atomwaffen gegen seine Feinde einsetzen zu wollen? Während Israels Militärstrategie der letzten zwölf Monate inzwischen dafür sorgt, dass selbst die Feindschaft zwischen schiitischen und sunnitischen Moslem-Staaten der Region zugunsten einer islamischen Einheitsfront gegen Israel in den Hintergrund zu treten beginnt? Hier, hören Sie den namhaften US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer die Lage Israels und des Nahen Ostens erklären, es lohnt sich. Oder lesen Sie beim ehemaligen UNO-Waffeninspektor Scott Ritter, worauf die geleakten Geheimdokumente zu Israels Mobilisierung bestimmter Raketen im Hinblick auf den weiteren Schlagabtausch mit dem Iran hindeuten.

Schlag. Gegenschlag. Gegengegenschlag. Atomschlag. Da ist es wieder, hören Sie? Pssst …! Hören Sie? Tick, tack.

Apropos Russland. Allen, außer den Zuschauern von ARD und ZDF sowie den Lesern von „Welt“ und „Bild“, ist mittlerweile klar, dass die Ukraine den Krieg innerhalb weniger Monate verlieren wird. Was den meisten Deutschen bislang herzlich gelangweilt zur Kenntnis nehmen, solange dieser Umstand nicht das Abendessen vor der Glotze verdirbt. Selbst diejenigen, die anfangs nochmit dem kommenden Sieg westlicher Waffen über russische Barbaren prahlten, haben ihre blaugelben Tugendsignal-Fähnchen vom Februar 2022 längst eingeholt. Es ist halt ermüdend, vom vermeintlich sicheren Sofa aus immerfort Haltung für ein Land zu zeigen, das trotz dieser wertvollen Unterstützung verliert. So war das nicht gedacht, nachher schon wieder auf der geschlagenen Seite zu stehen! Dafür haben wir die vielen Milliarden Steuergeld nicht bezahlt! Am Ende färbt das Loser-Image noch auf einen selbst ab. Da darf man dann die Flagge auch mal wieder vom Balkon holen.

Das Problem ist nur: Der ukrainische Prädidentendarsteller und (früher hauptberufliche) Comedian Wolodymyr Selenskyj kann eine Niederlage unmöglich akzeptieren. Sie würde ihn und seinen Hofstaat ihrer Pfründe berauben und ihn außerdem dem Zorn des Volkes aussetzen, das eine ganze Generation Hunderttausender junger Männer sinnlos an der Front geopfert hat.

Und so hat Selenskyj nun seine letzte Karte gespielt: nukleare Erpressung. Entweder die NATO nimmt zügig die Ukraine auf und muss als Schutzmacht des angegriffenen Mitglieds von diesem Moment an aktiv – auch mit deutschen Soldaten und Wehrpflichtigen – in den (Atom-)Krieg gegen Russland ziehen. Oder die Ukraine legt sich selbst Atomwaffen zu, mit deren Einsatz gegen Russland sie dann ebenfalls den Weltenbrand zwischen Ost und West herbeiführen könnte. Die Hintergründe dieser groteskerweise „Siegesplan“ genannten Erpressungsstrategie können Sie, wenn Sie Englischkenntnisse und gute Nerven haben, hier nachlesen.

Frankreichs Präsident Macron hat schon mal angekündigt, im vergleichsweise zögerlichen Berlin für die NATO-Aufnahme mit all ihren verheerenden Folgen werben zu wollen. Und mit Blick auf das andere nukleare Pulverfass hat die deutsche Außenministerin gegenüber dem „Stern“ ihre Bereitschaft signalisiert, Bundeswehrsoldaten nach Israel abzukommandieren – selbstverständlich im Rahmen einer „Friedenslösung“ und „Sicherheitsgarantie“ für die Region. Zeitgleich verwandelt die Propagandamaschine den öffentlichen Raum unserer Städte in einen Jahrmarkt der Rekrutierung und ideologischen Aufrüstung.

In Kürze wird sich TWASBO in einem eigenen Beitrag mit den Eigentümlichkeiten (oliv-)grüner Wehrpropaganda für die genderneutrale Generation Schneeflöckchen befassen. Es bleibt indes nicht bei Plakaten, auch die Medien bereiten uns vor. Am 26. September zitierte das Hamburger Abendblatt nach einer Übung von „Heimatschützern“ im Hafen einen Kompaniechef mit den Worten: „Ich sage immer: In fünf Jahren sind wir im Krieg. Das heißt nicht, dass das stimmen muss, aber unser Mindset muss darauf ausgerichtet sein. In fünf Jahren müssen wir für den Ernstfall bereit sein.“ Journalistische Nachfragen: keine.

Die Frage bleibt: Was ist die verbindende Klammer zwischen den parallel eskalierenden Krisenherden Ukraine und Naher Osten? Warum scheinen alle diplomatischen Sicherungen durchgebrannt, wo sich frühere Staatsmänner ihrer gravierenden Verantwortung für das Löschen glimmender nuklearer Lunten stets noch rechtzeitig gewachsen zeigten?

Die verbindende Klammer sind die USA. Unser Hegemon. Das Land, von dem wir ein Leben lang gelernt haben: nicht nur seinen Lifestyle, seine Sprache, seine Popkultur. Sondern auch, dass es unsere „Schutzmacht“ sei, dass wir unter seinem nuklearen „Schutzschirm“ sicher seien, dass diese Supermacht überall auf der Welt für die Demokratie kämpfe und als „Weltpolizist“ für Recht und Ordnung sorge. Nichts könnte, spätestens seit dem Zerfall des großen US-Gegenspielers Sowjetunion im Jahr 1991, falscher sein.

Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist die NATO ein aggressiver militärischer Pakt im Dienst der geopolitischen Vormachtstellung der USA und ihrer größten Konzerne. Auch der angeblich so unprovozierte russische „Überfall“ auf die Ukraine im Februar 2022 ist davon unmöglich zu trennen. Wenn Sie eine präzise argumentierte Geschichte des Ukrainekrieges lesen wollen, die ganz anders klingt als Ihre Tagesschau-Kenntnisse, dann lesen Sie diese brillante Zusammenfassung des belgischen Psychologen Mattias Desmet. Die USA sind ein zerfallendes Imperium. Es ist innerlich durch Gier und Korruption ausgehöhlt, kulturell durch Degenierierung und Dekadenz verwüstet, steht ökonomisch vor dem Inflations- und Schuldenkollaps. In dieser Lage, die man bereits Todeskampf nennen könnte, schlägt das Imperium um sich.

Im zunehmend verzweifelten Bemühnen um Ressourcen und Einflusszonen, die den USA etwa durch das Bündnis der aufstrebenden BRICS-Nationen streitig gemacht werden, fällt die Maske des weltweiten „Kampfes für Demokratie“: Wenn man einem „Verbündeten“ nur das billige russische Erdgas entziehen muss, um dessen mit der US-Wirtschaft konkurrierende Industrie existenziell zu schwächen, dann sorgt man dafür, dass Nord Stream 2 explodiert.

Wenn man aber die Ukraine benötigt, damit US-Finanzheuschrecken wie Blackrock Zugriff auf die wertvollen Land- und Rohstoffressourcen dieser weit entfernten Nation erhalten? Dann sorgt man in Kiew für einen amerikafreundlichen „regime change“, kann daraufhin sogar von der Stationierung amerikanischer Atomwaffen im Hinterhof Moskaus träumen – und erzwingt damit geradezu die russische Militäroperation, die sich seit bald drei Jahren dort entfaltet.

Und wenn man Israel als Vorposten braucht, um nicht vom öl- und gasreichen Nahen Osten abgeschnitten zu werden, dann wird man alles militärisch Notwendige zu dessen „Verteidigung“ beisteuern. Und sei es noch so völkerrechtswiderig, noch so mörderisch. Das renommierte Medizinjournal The Lancet kalkuliert rund 186.000 „oder sogar mehr“ Tote in Gaza seit dem israelischen Einmarsch nach dem 7. Oktober 2023.

Diese Blindheit gegenüber den roten Linien anderer, gegenüber dem Leid der Völker und gegenüber einem atomaren Armageddon, dieses törichte bis manische Verhalten der „Eliten“ ist ein Phänomen, dass von der Masse der Menschen meist ausgeblendet wird, bis es zu spät ist. Immer wieder schaue ich mir derzeit auf YouTube alte Dokumentarfilmaufnahmen an, die das Alltagsleben in Deutschland vor der großen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zeigen. Wie friedlich dieser Alltag auf den ersten Blick schien. Wie schön die Städte waren. Städte wie Hamburg, wo die Menschen in den Jahren vor 1939 ihren täglichen Verrichtungen nachgingen oder bei schönem Wetter die Elbe und den Hafen genossen – nicht ahnend, was nur kurze Zeit später über sie kommen sollte.

Natürlich gab es auch damals wenige, die propezeiten, dass all dies in Schutt und Asche fallen würde. Aber ihre Warnungen fanden keinen Glauben und stießen auf von Propaganda verstopfte Ohren. Denn wovon sollten solch ein sonniger Herbsttag, solch ein Wohlstand und solch eine Lebensqualität schon nachhaltig getrübt werden?

Wir Menschen haben uns seit den Dreißigerjahren nicht geändert. Wir leben im Hier und Jetzt, solange wir können. Frieden? Sollen doch die sich darum kümmern, die wir dafür bezahlen. An das Ausmaß der realen Bedrohung zu denken würde bedeuten, sich der Zerbrechlichkeit aller menschlicher Gewissheiten bewusst zu werden – und der eigenen Verantwortung dafür, etwas gegen das Zerbrechen unternehmen zu müssen. Demonstrationen. Appelle. Wahlverhalten. Wir müssen die Zeitbombe bewusst und aktiv entschärfen, auf deren Existenz bis fast zur letzen Sekunde nur ein leicht zu überhörendes Signal hinweist: tick, tack, tickeditack.

Fünf vor zwölf, diese sprichwörtlich allerhöchste Zeit zum Gegensteuern, ist es auf den Atomuhren schon lange nicht mehr. Dort sind unterdessen wertvolle Minuten verronnen, die uns für Korrekturen verblieben waren. Nur das Räderwerk der berühmten „Doomsday Clock“, der Weltuntergangsuhr des „Bulletin of the Atomic Scientists“, scheint Rost angesetzt zu haben: Das zweite Jahr in Folge steht das symbolische Messinstrument des Grades nuklearer Weltuntergangsbedrohung derzeit bei 90 Sekunden vor zwölf – die kürzeste Zeitspanne bis zum kollektiven Exitus, die von den Analysten jemals angegeben worden ist.

Dass in diese Restzeit-Angabe weder Israels atomare Vergeltungsphantasien (oder überhaupt sein Atomwaffenarsenal als Drohpotenzial) noch Selenskyjs nukleare Erpressungsstrategie eingeflossen ist, werten manche als Zeichen politischer Korruption, die selbst das atomwissenschaftliche Gewissen der Welt erfasst habe.

Vielleicht ist es mit der Doomsday Clock so wie mit dem TWASBO-Friedensbanner: Sie wird erst wieder Beachtung finden, wenn sie nicht länger tickt.