Die Luft ist klar zwischen Hörnum und List. Wo sonst selbst im Angesicht der Ewigkeit (Nordsee) pausenlos dem Geld gehuldigt wird, regieren derzeit nur die Naturgewalten. Eine Kurzvisite auf der verwaisten Prominenten-Insel.

Sie nennen es Deutschlands Las Vegas. Das Ischgl, das Saint Tropez des Nordens. Die Insel der Reichen und Schönen. Naive Gemüter halten solche Umschreibungen anfangs für den Humor der Zugereisten hier, wo Einzelhäuser „unter Reet“ in Kampen oder List, obwohl in Massenbauweise suburbia-style hingeklotzt, locker für fünf Millionen weggehen. Abseits gelegene „Reet-Anwesen“ (Makler-Lyrik) gerne auch für zehn. Reet, Reet, Reet. Das ist das Status-Gras hier, wo Prominente aus der B- bis D-Kategorie sich die Lines noch durch aufgerollte Hunnis reinpfeifen und Nerzmäntel noch als Ausweis von Dekadenz gelten, „aber im guten Sinn“. Sylt. Der feuchtkalte Traum der ergrauenden Hamburger Medienelite.

Und deshalb bin ich hier. Ich, Hanseat, verdienter Medienprostituierter, elitär im Geist, Gewand und Gebaren. Als idealtypische Zielperson dieses maritimen Idylls ist es an mir, die tausendunderste Ich-Reportage über das vibrierende Elend Eiland zu schreiben. Schön literarisch, bitte.

Aber was ist das? Mein Sylt, das ich zuletzt und auch nur ein einziges Mal im Leben vor vier Jahren für eine grausig-bizarre Lesung besuchte („Ich darf doch davon ausgehen, dass der Eintritt kostenlos ist?“) und wo ein Buchhändler mir noch heute die Rücksendung der Kommissionsexemplare meines Romans schuldet: Wie haste dir verändert. Und das jetzt wirklich im guten Sinn.

Denn das haltlose Plappermäulchen unter Deutschlands Inseln hält ein einziges Mal die Gosch. Der Gosch allerdings serviert immer noch Seelachs und Bratkartoffeln, wenn auch nur To Go in der fischförmigen Plastikbox. Man sitzt nun sozial distanziert im Strandkorb auf der Deichkrone, mit zitternden Fingern und Plastikbesteck aus der Dose speisend, als ob das ganz normal wäre um die Jahreszeit. In der Nähe stehen teilnahmslos einige ältere Damen im Bikini und dieser immerhin voll bekleidete Bird Spotter, die sich indes bei näherem Hinsehen allesamt als fake erweisen. Touristendarsteller aus Pappmaché, allemal lebendiger als Sylter Reetanwesenbesitzer aus Fleisch und Blut.

Die ambulante Verpflegung durch das Gosch, das Kultrestaurant am Strand von Wenningstedt, ist aber auch schon der Gipfel an Konsum, den ich feststellen kann. Diese Reportage wird ohne das Wort auskommen, das den Anlass der ganzen Zombie-Apokalyse beschreibt. Jenes Wort, das nur Lockdown und Not und Verderben im Kielwasser zurücklässt. Sie wissen schon. Ich werde einfach nur „Zombie-Apokalpyse“ schreiben. Aber hier zeitigt sie Wohltat über Wohltat: Keine Parties. Kein weißes Pulver. Kaum SUVs, keine Quads, und die Porsche-Cayenne-Dichte ist – seit dem Wegfall der meisten Konsummöglichkeiten – auf Entwicklungslandniveau gesunken.

Im alten Opel bin ich in Niebüll exklusiv wie Graf Koks von der Heilsarmee auf den fast leeren DB-Autozug gerollt, der mit meiner Karre im Schafsgalopp über den Hindenburgdammm rumpelt. Angelandet werde ich wie die anderen drei Fahrgäste eine Dreiviertelstunde später im betonversiegelten Westerland, wo mich das blanke Nichts empfängt.

Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Jedenfalls nicht in der Muschel, wo in besseren Zeiten die sogenannte Eventkultur 24/7/365 vor sich hin muschelt. Jetzt macht sie bloß blau. Wie alle, zwangsweise: Geschäfte zu, Restaurants zu, Hotels zu, Diskos zu. Nur das Blaulicht ist noch an, wegen Zombie-Apokalypse. Und da gilt es jetzt mal gleich, ein sich abzeichnendes Missverständnis auszuräumen.

Natürlich ist das Mist, besonders für die prekären Künstler, die hier – so wie ich vor vier Jahren – sonst sogar im finstersten Wintermatsch performen. Ebenso wie für all die kleinen Ladeninhaber, Zimmervermieter, Kioskbetreiber und Gastro-Tagelöhner, die alle nichts für die Lockdowns können, die ihnen gerade das Genick brechen. Viele, so viele werden auf der Strecke bleiben. Man merkt es nur anfangs nicht, denn es ist ja kaum jemand hier, um überhaupt etwas zu bemerken.

Jedes einzelne dieser Schicksale ist schrecklich. Vor allem, wenn man weiß, dass diejenigen, die üblicherweise die Reichen-Bespaßungsindustrie am Laufen halten, in unwürdigen Kellerlöchern oder in Autos auf Parkplätzen hausen. Das waren für Kleinverdiener zuletzt die einzigen bezahlbaren Unterkünfte auf dieser mit Bitcoins gepflasterten Lifestyle-Insel der Träume. Aber diese Menschen meine ich nicht, wenn ich festhalte, dass die Luft sich hier jetzt so viel besser atmen lässt. Sie ist vielmehr gereinigt vom schmutzigen Karma des Geldes.

Bis zur Zombie-Apokalypse nämlich gehörte Sylt den Investoren und Maklern, den Geldwäschern und Selbstvermarktern. Hier gingen Dinge, die anderswo an kulturellen Tabus zerschellen würden. Man konnte zum Beispiel eine Hügelgrabanlage aus der Zeit von Stonehenge, wo mit astronomischer Präzision pünktlich zur Wintersonnenwende ein Sonnenstrahl durch einen Spalt ins Innere fällt und einen Granitstein funkeln lässt, als öffentlich zugängliche Kultstätte einfach stilllegen. Warum? Wegen Einsturzgefahr. Weil unmittelbar nebenan ein Appartementhaus samt überdimensioniertem Keller gebaut werden muss.

Oder man konnte sich damit beschäftigen, für mehr als 100 Millionen Euro das teuerste „Wellnessresort“ Deutschlands in die Dünen zu prügeln, mit dem größten Reetdach der Welt, das versteht sich ja von selbst, Reeeeet, das aus Kasachstan herbeigeschafft wird. Auch Johannes Baptist Kerner, den Älteren bekannt aus der Steinzeit von Funk und Fernsehen, hat da Geld drin. Das ist derzeit der Stand der Baustelle:

Ich werde an dieser Stelle auf keinen Fall verraten, wie das Wohlfühlhotel heißt, das wäre ja Schleichwerbung und sähe in einer sensiblen literarischen Reportage degoutant aus – wer weiß, vielleicht kann ich die noch mal „Merian“ anbieten. Ach, kein Problem? Solange der Kerner einen Druckkostenzuschlag zahlt? Okay.

Jedenfalls ist die Zielgruppe dieses Hotels nicht die vierköpfige Facharbeiterfamilie aus Castrop-Rauxel, die in der DomRep besser bedient wird, sondern Leute wie Roman Abramowitsch oder Victoria Beckham, raunt zumindest das Handelsblatt. Und das Lustige ist: Wenn die dann erst im Privatjet auf die Insel herniederfahren, dann könnte das sogar den teutonischen Reetdach-Millionarios die Preise verhageln. Im Sinne von: Hyperwahnsinns-Immobilieninflation. Größerer Fisch frisst großen Fisch, Darwin lässt grüßen.

Aber nun herrrscht plötzlich Stillstand. Die klare Luft gibt Typen wie ihm hier Sauerstoff. Solche Individuen haben jetzt wieder freie Bahn, während im Hintergrund die Küstenwache Patrouille fährt, auf dass die Exzentrik ihre staatliche Ordnung habe.

Lufttemperatur ein Grad, im Wasser vielleicht drei Grad wärmer. Wellenhöhe an diesem verfrorenen, überraschend windstillen Januartag: 50 Zentimeter. Aber hey, if I can’t surf here, it’s not my party. Und was hat er für einen Spaß! Solche Menschen, solche Unikate lockt das Meer an, wo es noch nicht mit Privat- und Betreten-Verboten-Schildern abgezäunt wird. Wo es offen und diskriminierungsfrei zu allen gleich grausam sein darf wie seit Jahrmillionen.

Wissen Sie, Sylt war auch nicht immer so wie jetzt. Also nicht wie „jetzt“ jetzt, aber wie sonst jetzt. Diese knapp hundert Quadratkilometer waren nicht seit Adam und Eva ein von den Werten und Traditionen des Abendlandes abgehängter Jurassic Park, ein Labor der soziopathischen Avantgarde, wo sie den heillosen Turbo-Plutokratismus und Kampf aller gegen alle erproben darf: Ich scheiß dich zu mit meinen Millionen, also tanz, wenn ich „tanzen“ sage! Nein, es gab eine zivilisierte Hochkultur auf dieser Insel, die erst ungefähr ab den späten 1970-er Jahren Schritt für Riesenschritt durch etwas anderes ersetzt wurde.

Sehr schön kann man das nachlesen in Ozelot und Friesennerz, dem Erfolgsroman von Susanne Matthiessen. Das Buch ist der Kindheits- und Coming-of-Age-Bericht einer geborenen Sylterin, und er erzählt vom Abdriften einer ganz normalen insularen Gemeinschaft in die Fänge der bundesdeutschen Geldadel-Schickeria. Matthiessen musste dazu eine Art Omertà brechen, das ungeschriebene Schweigegesetz der hier Geborenen, wenn es um das Innenleben Sylts geht.

Doch für Matthiessens Buch, das dank des Überraschungserfolgs jetzt sogar verfilmt werden wird, haben die Sylter aus dem verbotenen Nähkästchen geplaudert. Denn der Unmut auf der Insel sei groß, sagt die Autorin in einem Zeitungsbericht. Die Einheimischen hätten die Kontrolle über ihre Heimat verloren. „Lasst uns innehalten“, mahnt Matthiessen, „und überlegen, wie wir es haben wollen. Denn wir brauchen eine Insel, auf der es noch Spaß macht zu leben.“

Falls es diese Chance noch geben wird, in der postapokalyptischen Zeit. Für den Augenblick aber ist Durchatmen. Ich wandere, nachdem es die ganze Nacht zünftig aus Nordwest gestürmt hat, jungfräuliche Strände entlang wie der erste Mensch über die Ebenen des Mars. Nirgends mehr Spuren im Sand, unberührtes Neuland erstreckt sich von Odde bis Ellenbogen. Das Donnern der Brandung erinnert an eine Hamburger Schnellstraße, aber optisch ist tabula rasa. Als habe die Flut die letzten Artefakte des failed state bereits getilgt, der hier für ein paar Jahrzehnte auf seinen dramatischen Untergang hingearbeitet hat.

Für ein paar gnädige Stunden scheint es, als liege Armageddon schon hinter uns. Was bleibt, sind Gischt und Salznebel, in denen sich alle Falschheit verliert. Heilsame Aerosole: Diese Wortkombination schien schon nicht mehr denkbar, aber der Körper spürt ihren Wahrheitsgehalt.

Die Pointe dieser Geschichte? Lässt auf sich warten. Aber die Gezeiten arbeiten unermüdlich an der finalen Heimführung von Sodom und Gomorrha. Und wenn der Tag kommt, werden die Wellen es dorthin geleiten, wo Rungholt schon liegt.

Eine gekürzte Version dieses Textes erschien in der Sylter Rundschau.


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