Was nicht passt, wird passend gemacht: Eine wilde Geschichte über Schiffswracks, Gerechtigkeit und die Zukunft der Menschheit ist ein Lehrbeispiel dafür, wie einflussreiche Organisationen ihre Agenda unters Volk bringen – und wer das Narrativ finanziert.
Ich könnte jetzt manche Gründe vorschieben, warum ich den Londoner „Guardian“ seit vielen Jahren regelmäßig online lese. Nur wegen seines Fußballteils mit den meist sehr unterhaltsamen Leser-Debatten zur englischen Premier League. Oder wegen der Filmkritiken. Oder der wunderschönen Gastro-Verrisse des Restaurantkritikers Jay Rayner. Oder gar wegen des samstäglichen „Blind Date“-Fragebogens, der die meist wenig amourösen Abenteuer zweier argloser Erotikkandidaten beim gemeinsamen Dinner protokolliert. Manchmal sind sie sogar heterosexuell.
Aber selbst Einblicke in diese exotische Veranlagung erklären meine schmutzige kleine Medien-Affäre nur zum Teil. Nein, die ganze Wahrheit ist: Ich lese den „Guardian“ vor allem, weil er so unerträglich woke und progressiv ist. Das ist wie sich endlich blutig kratzen zu können, wenn es seit zwei Stunden am Rücken juckt: Jedes klimaschützende Virtue Signalling, das hierzulande in der „taz“ oder der „Zeit“ stehen würde, überbietet der „Guardian“ locker. Jedes antirassistische Tugendgelöbnis hat er mit noch viel größeren Löffeln gefressen. Jede Gender-Beklopptheit verficht er mit noch heiligerem Ernst, nur eben auf Englisch: Weil man fast nie wissen kann, ob sich jemand als Mann oder Frau oder Pustekuchen definiert, schreibt man zur Vermeidung des diskriminierenden Personalpronomens vorsorglich „they“, im Plural, obwohl nur eine Person gemeint ist. Die Welt des „Guardian“ ist ein schmierig-schauderndes Lusterlebnis, an dem ich die TWASBO-Leser schon häufig und in vielen Zusammenhängen habe teilnehmen lassen.
Nebenbei erfährt man da nämlich so einiges über Wesen und Wertesystem des aufgeweckten Champagnersozialismus Marke „Labour-voting British middle classes“ (was man nicht mit der deutschen „Mittelschicht“ gleichsetzen darf, sondern eher mit „Privatschule“ und „Town House“ und „Urlaub im portugiesischen Luxus-Resort von Madeleine McCanns Eltern“). Darüber hinaus lernt man bei der Lektüre die ehernen Gesetze eines handelsüblichen Medienbordells westlicher Prägung verstehen: Agendasetting, Framing, Cancel Culture, Finanzierung. Sie machen es einem nicht allzu schwer in London. Nein, sie treiben es ganz offen auf dem dortigen Pressestrich. Aber hin und wieder erröte ich auch nach Jahren im Kontakthof des kleinen pseudomarxistischen Wohlfühl-Empires noch ein wenig über das, was dann nach Betreten des Puffs an der Stange vorgetanzt wird. So wie am 9. Januar 2023.
An diesem Tag erschien, prominent platziert, auf der Homepage der Artikel ‘A race against time’: how shipwrecks hold clues to humanity’s future. Also etwa: „Ein Rennen gegen die Zeit – was Schiffswracks über die Zukunft der Menschheit verraten“. Hmm, okay, was könnten algenbewachsene alte Trümmerhaufen, die mich intuitiv durchaus neugierig machen, über unsere Zukunft statt unsere Vergangenheit aussagen? Auch noch als Menschheit insgesamt? Und schon sitze ich in der Falle. Obwohl ich immerhin ahne, was mich erwartet, kann ich nicht anders: Ich muss lesen. Kleines Gesellschaftsspiel: Ich sag mal Titanic – und Sie sagen, was uns das berühmte Wrack auf dem Boden des Atlantiks seit 1912 über unsere Zukunft als Spezies lehrt. Na?
Alles falsch! Es lehrt uns Folgendes: „Das zum Untergang verurteilte Linienschiff wurde zur wirkungsvollen Metapher für die starrsinnige Weigerung der Menschheit, die seit mehr als sechs Jahrzehnten verlautbarten Klima-Warnungen zu befolgen. ‚Ein Teil der Titanic-Parabel ist Arroganz, Hybris, die Vorstellung, wir seien zu groß, um untergehen zu können‘, sagte James Cameron, der Regisseur des Titanic-Spielfilms von 1997, dem National Geographic im Jahr 2012.“ So wie er 2022 jedem, der nicht bei drei auf den Bäumen Pandoras war, die moralische Überlegenheit blauer Space-Schlümpfe über irdische Kapitalistenknechte erläuterte.
Noch einmal zum Mitbeten: Das Wrack der Titanic lehrt uns, endlich etwas gegen den Klimawandel zu tun. Ja, aber wäre es nicht viel logischer, sich beim Klimawandel zu bedanken, weil es ohne die Erwärmung der Weltmeere heute immer noch todbringende Eisberge auf dieser Schifffahrtsroute gäbe? Wäre die Titanic nicht vielmehr heil in New York angekommen, wenn es 1912 schon einen zünftigen anthropogenen Treibhauseffekt gegeben hätte? [Zugegeben, diese Eigenwerbung konnte ich mir jetzt nicht verkneifen. Mein Roman von 2019 spielt zwar mit mancherlei Hypothesen, doch auf die Klima-Idee war ich damals einfach nicht gekommen. Es ist trotzdem ein sehr gutes Buch, kaufen Sie es bitte.] Um die Frage zu beantworten: Nein, natürlich dürfen wir die Erderwärmung nicht feiern. Vor die Schiffskatastrophe von 1912 gestellt, sollen wir nicht die Passagiere der hochmütigen Titanic retten, sondern den Eisberg. Außerdem und grundsätzlich täten uns mehr Schuldgefühle gut, wie sie dieser Artikel induziert. Wer sich das einiges kosten lässt, dazu später.
Es wäre aber doch Verschwendung, wenn die geschätzt rund drei Millionen Schiffe auf den Weltmeeresböden uns nicht noch anderweitig helfen könnten, zu besseren Menschen zu werden. Nicht nur das Klima schreit nach Gerechtigkeit. Unrecht ist eine üble Sache, die lehnen wir Guardianistas rundweg ab. Und deswegen ist es gut, dass es das mit Gold beladene Wrack der spanischen Galeone San José aus dem Jahr 1708 gibt. Denn das hat „eine Abrechnung mit dem Kolonialismus erzwungen, seit mehrere Parteien Ansprüche auf eine Fracht anmeldeten, die bis zu 17 Milliarden Dollar wert sein könnte“.
Mit einem Link versehen ist im Artikel das Wort „Ansprüche“. Klickt man darauf, erfährt man aus einem sehr viel älteren „Guardian“-Artikel, dass diese Ansprüche von drei Seiten erhoben wurden: der US-Bergungsfirma, die den Fund beansprucht, sowie den Regierungen von Spanien und Kolumbien. Letzteres Land will die entscheidenden Tauchgänge veranlasst haben. Keine dieser Parteien begründet ihre Forderungen mit der Rückgabe von Raubgütern, die Ex-Kolonialmacht Spanien natürlich schon mal gar nicht. Aber egal: Es ist eine „Abrechnung mit dem Kolonialismus“. Schließlich müssen wir als Menschheit irgendwie mal weiterkommen. Zumal, wenn so viel Gold an Bord war, das auf keinen Fall in den Besitz des schuldigen weißen Mannes gelangen darf.
Es geht dann im Artikel noch um gesunkene Sklavenschiffe, mit denen Schwarze aus Afrika nach Amerika verschleppt werden sollten. Der Mitarbeiter einer Bergungsfirma, der zum längst vermoderten Frachtraum eines dieser Segler hinabgetaucht war, traf gleich nach seiner Rückkehr mit Nachfahren der Ertrunkenen zusammen. Und „bot ihnen seine Erfahrung als konkretes Zeugnis ihrer lange verschwiegenen Geschichten von Durchhaltevermögen und Identität an“, was immer das bedeuten mag. Und was immer das alles mit der „Zukunft der Menschheit“ zu tun hat. Vermutlich, dass die USA und ihr Mutterland Großbritannien noch in hundert Jahren Sklavenhaltergesellschaften sein werden, wenn dieser Lincoln dem Spuk nicht bald ein Ende macht.
Aber die Frage, die in der fett gesetzten Überschrift aufgeworfen wird, benötigt gar keine faktenbasierten Antworten. Entscheidend ist: Wenn es um die Zukunft der Menschheit geht, hat der westliche Wohlstandssozialist sich zunächst für die Vergangenheit zu schämen und pauschal seine Schuld an allem zu bekennen – vom Klimawandel bis zum Kolonialismus. Und zwar sofort, denn der Sekundenzeiger tickt wieder einmal gegen Null: „A race against time“. Geben die Tatsachen zum Thesengequalle des Artikels nichts Entsprechendes her, muss eben das gefühlige Narrativ herhalten, eingebettet in die Pseudo-Reportage einer Journalistin, die für das ganze Feature ihren Schreibtisch mit Sicherheit nicht einmal verlassen hat. Kommentieren dürfen Leser den Artikel vorsichtshalber nicht – wie alle Beträge, die absehbar erheblichen Widerspuch provozieren. Risse im Bild wären auch nicht nett gegenüber den Finanzierern solcher sorgfältig inszenierter Geschichten. Die halten sich derweil dezent im Hintergrund – sind aber doch auffindbar.
Der „Guardian“ könnte sich eigentlich schon allein dafür überirdisch glücklich schätzen, seine ehemalige Stiftung namens „Scott Trust Limited“ in der Hinterhand zu haben. Das über viele Jahrzehnte aufgebaute Finanzkapital, inzwischen als gemanagter Fonds organisiert, betrug im April 2018 etwas über eine Milliarde Pfund – da macht es nicht ganz so viel, dass die operative Tochtergesellschaft „Guardian News and Media“ seit Jahren heftige Verluste schreibt. Der Kapitalstock hat dafür gesorgt, dass der „Guardian“ trotz des Schwundes an Anzeigenkunden und zahlenden Lesern mit seinen drei über die Welt verteilten Ausgaben bis heute ohne Paywall kostenlos abrufbar ist. Doch genug ist nie genug. Deshalb steht neben dem Schiffswrack-Artikel ein kleines Logo abgebildet: Gesponsert worden sei die Story von „the guardian.org“.
Ein Klick auf den Link offenbart mehr über dieses unauffällige Beiboot des Mutterschiffs. Das „Mission Statement“ ist so bescheiden und übersichtlich wie der Buckingham Palace: „Den öffentlichen Diskurs und die zivilgesellschaftliche Partizipation zu den drängendsten Themen unserer Zeit voranbringen und durch Unterstützung von unabhängigem Journalismus und journalistischen Projekten des ‚Guardian‘ mit Informationen unterfüttern.“ Punkt. Beackert werden dabei sämtliche Furchen der Wokeness, also unter anderem „Klima und Umwelt“, „Soziale Gerechtigkeit“, „Frauen und Mädchen“, „Menschenrechte“ und „Ungleichheit“– wobei letztere doch gewisse Ähnlichkeiten mit „Soziale Gerechtigkeit“ aufweist, nur umgekehrt, aber das ist sicher Dialektik.
Wer all diese Themenfelder zur Kenntnis genommen hat, dem tut sich in der Kategorie „Über uns“ eine Landschaft mit zahlreichen weiteren Logos auf. Und da sind sie dann versammelt, die üblichen Verdächtigen, die Agenda-Manufakturen und NGOs, die Lobbygruppen und vor allem die menschenfreundlichen Milliardäre. George Soros‘ Open Society Foundations etwa, die dem „Guardian“ bislang allein über eine Million US-Dollar für Berichte über „Klima-Gerechtigkeit“ zukommen ließen. Die dem „Spiegel“ gut befreundete Bill and Melinda Gates Stiftung berappte 175.000 Dollar „zur Unterstützung eines Workshops und Forschungsprojekts über philanthropische Unterstützung des Journalismus“– was an die Katze erinnert, die sich selbst in den Schwanz beißt. Neben vielen anderen grüßt auch „Humanity United“, eine NGO, die seit 2016 nicht weniger als 3,1 Millionen Dollar in redaktionelle Berichte über „moderne Sklaverei, Ausbeutung und Menschenrechte“ stecken konnte. Allein im „Guardian“. Davon finanzieren andere ein ganzes Verlagshaus. Mit Tropenholz-Parkett.
Nur das Logo des Weltwirtschaftsforums (WEF) sucht man vergebens. Dabei hätte Klaus Schwabs erleuchteter Zirkel unter Führung der vermögendsten US-Konzerne sicher viel Freude an der unabhängigen Themenfindung des Londoner Blattes. Den Great Reset und die New World Order würde das zweifellos beflügeln. Ein unappetitliches Gschmäckle hat das Signet der Davoser Gipfelstürmer in Weltretter-Kreisen ohnehin nicht: Im Oktober 2019 zierte das WEF-Markenzeichen schon das legendäre Event 201, bei dem sich die Elite der freien Welt hellsichtig auf die kurz danach ausbrechende Corona-Pandemie vorbereitete.
Nachtrag, 11.1.: Fast jedem seiner kostenlos ins Netz gestellten Artikel hängt der „Guardian“ einen Spendenaufruf zur Unterstützung seines „unabhängigen“ und „unerschrockenen“ Journalismus an. Fair enough, würde der Engländer sagen. Etwas fragwürdig scheint in diesem Anhang nur die stets wiederholte Begründung, man habe „anders als viele andere keine Aktionäre und keinen Milliardär als Eigentümer“. Wenn TWASBO die milliardenschwere Scott Trust Limited und Gönner wie Soros und Gates im Rücken hätte – wer weiß, vielleicht könnten wir dann auch endlich unabhängig über Klimawandel und Rassismus schreiben. So aber bleiben wir tatsächlich auf Ihre Spenden angewiesen, für die ich an dieser Stelle erneut herzlich danke.
TWASBO liebt Debatten. Zum Posten Ihrer Meinung und Ihrer Ergänzungen steht Ihnen das Kommentarfeld unter diesem Text offen. Ihr themenbezogener Beitrag wird freigeschaltet, ob pro oder contra, solange er nicht gegen Gesetze oder akzeptable Umgangsformen verstößt. Vielen Dank.
Der Guardian war mir nur noch bzgl. Snowden und Glenn Greenwald gut in Erinnerung geblieben. Waren da Soros, Gates und Co. schon fleißig dabei? Ernst gemeinte Frage, weil es äquivalent auch zu hiesigen Moralmedien passen würde, siehe Spiegel, dass aus einstigen Investigativmedien durch Milliardärsfüße in deren Türen Haltungsmedien nach deren Gutdünken wurden.
Richtige Einschaetzung des Guardian. Gibt zz kein groesseres Schmierblatt als die hier in UK. Warum? weil sie so verlogen sind. Der Guardian war mal ein Flagschiff guter britischer Presse. Flagschiff gekapert von den woken Idioten.
Oh welch tiefe Einblicke in die Gedankenwelt des ach so wachen Kreuzfahrterforschungsklimatismus. Wenn ich nicht so viel Angst vor dem Dunkeln hätte, würde ich dieses Blatt vermutlich auch lesen.
Wenn es keinen eitlen und unbedachten Schnellfahrwettbewerb gegeben hätte, würde Leonardo Di Caprio jetzt noch leben…oder verwechsle ich da gerade Realität und Fiktion?
Aber an irgendetwas erinnert mich das überschnelle, eitle Vollgasfahren ohne Sicherheitspuffer…mmhhh…komme nur nicht drauf…
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was Sie mit diesem Kommentar sagen wollen. Ironie ist eine zweischneidige Sache: kann helfen, muss aber nicht.