Richard David Precht im Jahr 2016 (Foto: Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons, Bildausschnitt angepasst)

Am 23. Oktober brachte T-Online auf den digitalen Litfasssäulen Hamburgs eine Schlagzeile, von der ich im Vorüberfahren nur das erste und das letzte Wort wahrnahm: oben „Precht“, unten „umstritten“. Viel mehr stand da gar nicht. Auf grellweißem LED-Display waren wenige fettschwarze Wörter aufgeschichtet zu einem drei Meter hohen, kontrastreich leuchtenden Scheiterhaufen.

Reicht doch auch. Deutschlands ehemaliger Vorzeige-TV-Philosoph Richard David Precht ist somit markiert: umstritten. Unzuverlässig. Nicht linientreu. Nicht abwaschbar. Nicht keimfrei. Am Ende gar ein fehlbarer Mensch! Keiner von den Guten mehr. Ein Böser jetzt.

So geht das pausenlos im Medienzirkus unserer Tage: Umstritten! Vorsicht Verschwörungstheoretiker! Achtung Querdenker! (Falls Sie Person X vorher unter „Kreuzdenker“ abgespeichert hatten.) Vorsicht Putin- und Palästinenserversteher, Klimaleugner, Anti-Vaxxer, Friedensfaschistenrassist. Und, seit dem 7.10. die Megamonsterkeule der Saison: Antisemit.

Letztere Keule war es, die man Precht überzog. Noch am selben Abend ergab eine kurze Google-Suche, dass T-Online seit dem 13. Oktober bereits mindestens vierzehn Einzelartikel dazu gebracht hatte. Der „umstrittene Philosoph“ hatte an jenem Tag in einer Folge seines gemeinsamen Podcasts mit ZDF-Talker Markus Lanz gesendet. Eine Woche nach dem Hamas-Überfall auf Israel hatte er darin am Rande behauptet, dass es orthodoxen Juden aufgrund ihrer Religion verboten sei zu arbeiten, „ein paar Sachen wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen“.

Das mag schlecht informiert gewesen sein, antisemitisch war es nicht. Denn dazu hätte Precht diese vermeintlich erlaubten Tätigkeiten in einen wahrheitswidrig-diffamierenden Zusammenhang stellen müssen, etwa dass Juden ja als raffgierige und halsabschneiderische Geldverleiher bekannt seien. Doch das tat er nicht. Trotzdem stand das T-Online-Urteil fest: „antisemitische Äußerungen“. So habe es jedenfalls das „Studierendenparlament“ einer Privat-Universität in Lüneburg gesehen, wo Precht einen Dozentenvertrag hatte, und dessen sofortigen Ausschluss vom Lehrbetrieb gefordert.

Merke: Suche dir immer zunächst Ankläger, am besten junge Radikale, die gerne Streit vom Zaun brechen. Um dann den Marker setzen zu können: Der X ist umstritten. Und falls X das Umstrittene nicht wörtlich gesagt hat, dann hat er es eben unausgesprochen so gemeint – oder, so die Sprachregelung des Moralgerichtshofs im Fall Precht: Er hat „antisemitische Klischees bedient“. Dagegen ist Rechtfertigung so gut wie unmöglich.

In einem Kommentar hatten die Meinungsmacher des stets regierungsfrommen Kölner Außenwerbungs- und Medienkonzerns Ströer unter der Marke T-Online schon vor einigen Tagen süffisant an dieser Schraube gedreht: „Der Fernsehphilosoph bediente antisemitische Klischees und wirkt nun wie vieles, aber ganz sicher nicht wie ein Philosoph. Für die Reputation des Mannes, der in bestimmten Kreisen offenbar immer noch als eine Art intellektuelle Instanz wahrgenommen wird, ist das schlecht.“

So, wie „Umstrittenheit“ grundsätzlich schlecht für die Reputation von Säulenheiligen des Systems ist. Warum haben sie auch nicht mit den Wölfen geheult? Richard David Precht hatte für seinen Faktenfehler in einer vorgezogenen Ausgabe des Podcasts um Entschuldigung gebeten. Doch das Dauerfeuer der T-Online-Aktivisten und anderer „Medienschaffender“ wirkte. Noch am Tag der Litfasssäulen-Schlagzeile, dem 23. Oktober, gab Precht seinen Lehrvertrag „überraschend“ zurück, wie T-Online ohne Zeitverzug vermeldete. Nichts Schöneres für Kampagnenjournalisten, als sich den Skalp eines gefallenen Prominenten an den Gürtel zu heften.

Und das aus ihrer Sicht Beste daran: Sobald jemand als „umstritten“ gestempelt ist, darf an ihm ein anti-intellektuelles Expempel statuiert werden – fast immer durch jene, die nicht einmal davon träumen dürfen, selbst als intellektuell bezichtigt zu werden. Das klingt bei T-Online dann so: „Dieser möglichst pompöse, allumfassend anmutende Unterbau des Philosophischen. Dieses Sprechen von der Kanzel der intellektuellen Hochebene, dieses: von oben herab. Da ist jemand, der alles weiß, der alles kennt, der alles erklären kann. So geriert sich Precht.“

Der Ton ist bekannt. Er ist es spätestens seit Corona, als dasselbe Medium seine Attacken zur Reputationsvernichtung „umstrittener“ Maßnahmengegner ritt. Die Opfer dieser Attacken sollten schlussendlich in so gut wie allen Punkten Recht behalten, was T-Online indes zu keiner nachträglichen Diffamierungs-Korrektur bewegte.

Der anklagend-selbstgerechte Duktus gegenüber Precht ist der Ton derer, die selber allzu gerne von der „Kanzel der intellektuellen Hochebene“ sprechen würden, hätten sie nur etwas Intellektuelles oder wenigstens Interessantes zu sagen. Ihre eigene Kanzel steht ein paar Etagen tiefer in Gossenhöhe auf dem Medienstrich. Aber eine Vokabel genügt ihnen, um die Niveauunterschiede auf dem gemeinsamen Spielfeld Öffentlichkeit vermeintlich einzuebnen: „umstritten“.

Ist diese Vokabel erst aus der Flasche, dann zählt es nicht, mit welcher Waffe der so Markierte letztlich erlegt wird. Da ist man flexibel – und geduldig. Im Falle Precht hatte es T-Online zuletzt im September versucht, als der Philosoph und Co-Autor ein medienkritisches Buch über den Einheits-Journalismus von heute vorstellte. Indes: vergeblich, Precht wankte nicht. Kurz davor, im August, nahm man ihm seine Skepsis gegenüber den Chancen eines Sieges der Ukraine im Krieg gegen Russland übel, außerdem seine Stellungnahmen gegen Waffenlieferungen und für Friedensverhandlungen.

Davor wiederum, im April, war Prechts „frauenfeindliche Tendenz“ der Hebel gewesen: Im Podcast hatte er damals laut T-Online über Baerbock geäußert, „dass ich immer denke, was für ein Unfall, dass diese Frau Außenministerin geworden ist. Die hätte doch unter normalen Bedingungen im Auswärtigen Amt nicht mal ein Praktikum gekriegt.“ Das war, wenn auch im Kontext begründet, natürlich keine legitime Kritik an einer „Völkerrechtlerin wie Baerbock“ (T-Online), sondern „Testosteron-getriebenes Aufplustern“. Aber es brachte Precht noch nicht zu Fall. Dann eben jetzt der „Antisemitismus“.

Doch die woken Medien drohen sich zu Tode zu siegen. Die Personaldecke der Erweckten wird dünn. Allzu viele ehemals Gute müssen mittlerweile als „umstritten“ gelten. Alle außer Grönemeyer und Campino scheinen zuletzt ins Lager der Verschwörungstheoretiker und Aluhüte gewechselt zu sein.

Denn wer heutzutage nicht „umstritten“ ist, der ist garantiert vor allem eines: stinklangweilig.