Hilft es, wenn ein Philosoph böse Wörter gebraucht? Wörter, von denen anständige Eltern ihren Söhnen und Töchtern beibringen, dass nur Schmuddelkinder sie verwenden? Gesetzt den Fall, der Philosoph möchte die Welt nicht nur erklären, sondern auch verändern: Ja, es hilft.

Falls Sie ein gesellschaftstheoretisches Buch schreiben wollen, das die Welt in ihren Grundfesten erschüttert: Seien Sie sich nicht zu fein, die Sprache der Massen zu sprechen. Diese Erkenntnis vermittelt en passant die sehr empfehlenswerte Ausstellung „Das Kapital“ im Hamburger Museum der Arbeit, die noch bis zum 4. März zu sehen ist. Sie präsentiert die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des gleichnamigen Bestsellers.

Denn vor genau 150 Jahren kam der rauschebärtige Arbeiterpapst Karl Marx von London herübergedampft, um hier in der Hamburger Bergstraße, durch die ich jeden Tag mit dem Fahrrad fahre, Otto Meissner in dessen Verlagsbuchhandlung sein Manuskript in die Hand zu drücken. Ungefähr da, wo heute die Mobilcom-Debitel-Filiale ist. Und ungefähr ein Dutzend Jahre später als geplant, aber von da an und von dort aus nahm dann ein gutes Stück Weltgeschichte seinen Lauf.

Nebenbei bekommt man in der Ausstellung auf eher spielerische Art auch die Kernbegriffe seines theoretischen Überbaus mit, Dinge wie Mehrwert, Akkumulation, Arbeitsteilung, Ausbeutung …

Ah, sehen Sie: Jetzt spätestens wollen Sie nicht mehr weiterlesen! Wirtschaftstheorie, Marx, Sozialismus, der ganze alte Schmock. Ökonomie, das ist doch alles Sch…!

Nicht wahr? Dann lesen Sie bitte nur noch einen Satz, den Marx seinem Freund und Geldgeber Engels in einem Brief vom 2. April 1851 schrieb:

Ich bin so weit, dass ich in 5 Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin.

Man mag aus der Wortwahl erkennen, dass Marx seinen Doktortitel nicht in Wirtschaftswissenschaften, sondern in Philosophie erlangt hatte. Und dass ihm der Zahlenkult der Ökonomen (damals vor allem der englischen, denn die mussten sich schließlich als erste mit den Folgen der Industrialisierung auseinandersetzen) suspekt war. Genau wie Ihnen!

Übrigens stimmte seine Vermutung wie gesagt nicht mal annähernd. Es sollten noch 16 Jahre vergehen, bis Marx wenigstens den ersten der drei Bände fertig hatte (die anderen beiden konnte er todesbedingt nicht mehr selbst vollenden).

Die Kraft des Biomülls: Karl Marx

Aber warum wurde Marx dann trotzdem solch ein Popstar der Philosophie, in hundert Sprachen übersetzt? Das hat neben der glasklaren Analyse und der welthistorischen Vision auch mit dem bösen Wort zu tun. Es wiederholt sich bei ihm nämlich, wieder und wieder. 31. März 1851, Marx an Engels:

Du wirst zugeben, dass diese Gesamtscheiße passablement angenehm ist und dass ich bis an die Wirbelspitze meines Schädels im kleinbürgerlichen Dreck stecke.

Gemeint ist die seinerzeitige private Lebenssituation, die stets direkten Einfluss auf den Erkenntnisstand seines großen Welterklärungs-Entwurfs hatte. Oder hier, 2. April 1858, Marx an Engels:

Die ganze Scheiße soll zerfallen in 6 Bücher: 1. Vom Kapital. 2. Grundeigentum. 3. Lohnarbeit. 4. Staat. 5. Internationaler Handel. 6. Weltmarkt.

Mit dem bösen Wort beschreibt er an dieser Stelle nicht die Qualität seiner eigenen Arbeit, sondern die Bestandteile, aus denen das Bürgertum die soziale Waffe des Kapitalismus konstruiert hat. Selbe Begriffsbedeutung, selber Brief:

Ebenso ist der Übergang des Grundeigentums in die Lohnarbeit nicht nur dialektisch, sondern historisch, da das letzte Produkt des modernen Grundeigentums das allgemeine Setzen der Lohnarbeit ist, die dann als Basis der ganzen Scheiße erscheint.

Und immer wieder ist es die persönliche Armut, die den wissenschaftlichen Blick auf die Ursachen emotional einfärbt. 7. November 1859, Marx an Engels:

Meine Verhältnisse erlauben mir zu wenig, an dem 2ten Heft zu arbeiten, das ich für entscheidend wichtig halte. Es ist in der Tat der Kern der ganzen Bürgerscheiße.

Die große Vision einer Gesellschaft ohne existenzielle Bedrohung, sie hängt immer auch mit dem persönlichen Entkommen aus der existenziellen Bedrohung zusammen. Marx am 9. Dezember 1861 an Engels:

Bin ich aus dieser Scheiße heraus, so kann ich mit New York und Wien wieder wenigstens vegetieren.

An dieser Stelle sollen wir uns längst von der bürgerlichen Hoffnung verabschiedet haben, dass es sich um Einzelfälle in der Korrespondenz des großen Philosophen handelte. Aber genau das ist der Punkt: Der gelehrte Dr. Marx, der mit seiner Familie im englischen Exil oft von Essensresten anderer leben musste, sprach eben auch die Sprache der Gosse.

Er kannte deren Kraft, deren Emotion, deren Träume und Albträume. Er verlor nie die Bindung zu denen, über und für die er zu denken vorgab. Marx verstand nicht nur, er lebte, aß, trank und atmete, was die verelendeten Massen seiner Zeit umtrieb (darin übrigens dem ebenso weltbewegenden Luther sehr ähnlich).

Das unterscheidet Denker wie ihn von den arrivierten Salonphilosophen seiner und auch unserer Zeit, von den Sloterdijks und Prechts, deren realgesellschaftliche Sprengkraft trotz aller Verlagsanstrengungen und multimedialer Distributionskanäle des Internetzeitalters nicht einmal den Bruchteil eines Bruchteils beträgt.

Auch Friedrich Engels, der Fabrikant und Gönner, an den Marx so viele Briefe richtete, war die Sprache des Volkes nicht fremd. Und auch er verachtete diejenigen, die sich nur die Attitüde eines „radikalen“  Denkers gaben, ohne auf die Privilegien des Establishments verzichten zu wollen. Engels an Bebel, 22.6.1885:

Diesen ganzen Unrat verdanken wir zum allergrößten Teil Liebknecht mit seiner Vorliebe für gebildete Klugscheißer und Leute in bürgerlichen Stellungen, womit man dem Philister gegenüber dicktun kann.

Insgesamt 57 Mal findet sich laut einer Suchmaschine der inkriminierte Begriff in den gesammelten Werken von Marx und Engels. Wer sie deswegen geringschätzt, sollte bedenken, dass ein halbes Jahrhundert lang die halbe Welt auf die Idee gebaut war, die Schmuddelkinder hätten etwas Wertvolleres als Scheiße verdient.


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