Doch, Borkum ist eine Reise wert. Die Stände, die Sonne, die Nordsee. Temperaturen bis zu 34 Grad in diesem Juli, eine frisch renovierte Strandpromenade, Dünen, Seehunde, kleine Läden, lauschige Cafés, alte Leuchttürme – Urlauberherz, was willst du mehr? Vielleicht ein wenig weniger. Ein wenig weniger Geschichte. Oder eine andere, bitte. Eine, aus der die sauber geweißelten, stuckverzierten wilhelminischen Hotel-Paläste an der Seeseite wegradiert wären, die dem Ganzen doch so viel altertümlichen Charme verleihen, die doch des Deutschen romantisierender Gegenentwurf zu seelenlosen Hotelfabriken à la Benidorm sind.
Also warum wäre gerade hier weniger mehr?
Weil sie eine Geschichte erzählen, eine böse und leider auch wahre Geschichte. Nicht Haus für Haus, nicht eines wie das andere, denn was weiß ich schon, welches von ihnen „damals“ schon dabei war. Aber als Gesamtheit, als Borkumer Hotellerie, da waren sie dabei.
Es ist dieses schwarze Loch, in das man als Deutscher immer wieder unerwartet zu fallen droht, das schwarze Loch unserer jüngeren Geschichte. Hier tat es sich plötzlich an einem schwülwarmen Vormittag auf, als ich vom Strandcafé aus faul der Band im Kur-Pavillon lauschte. Jemand wünschte sich einen Titel, aber die Band wollte ihn nicht spielen. Es war das „Borkum-Lied“.
Man habe das nicht eingeübt, sagte der Sänger entschuldigend, und es gäbe sicher andere Bands, die das draufhätten. Sie spielten dann als Nächstes irgend eine softe Jazz-Nummer. Aber in der Begründung hatte ein Unterton mitgeschwungen, der im Ohr blieb. Abends schlug ich das Borkum-Lied bei Wikipedia nach.
Ich wurde auf den Eintrag „Bäder-Antisemitismus“ verwiesen. Eine politische Strömung, die sich vor allem auf Borkum schon geraume Zeit vor der Machtergreifung der Nazis entwickelte und darauf abzielte, der aufblühenden Tourismuswirtschaft eine Art Wettbewerbsvorteil gegenüber kokurrierenden Nordseebädern wie Spiekeroog zu verschaffen. Man war hier stolz darauf, der überwiegend betuchten Kundschaft allen Ernstes eine „judenfreie“ Insel anbieten zu können. Das Borkum-Lied diente deswegen vor allem der antisemitischen Hetze. Eine Text-Passage:
Es herrscht im grünen Inselland
ein echter deutscher Sinn
drum alle, die uns stammverwandt
zieh´n freudig zu dir hin
An Borkums Strand nur Deutschtum gilt
nur deutsch ist das Panier
Wir halten rein den Ehrenschild
Germanias für und fürDoch wer dir naht mit platten Füßen
mit Nasen krumm und Haaren kraus
der soll nicht deinen Strand genießen
der muß hinaus! Der muß hinaus!
In diesem, von den damals angepeilten Touristen dankbar quittierten Un-Geist warben also die prachtvollen Hotels schon vor 1933 mit zunehmend dreisteren Hass-Parolen wie „Juden und Hunde dürfen hier nicht herein!“ oder einem „Fahrplan zwischen Borkum und Jerusalem (Retourkarten werden nicht ausgegeben)“. Ein Reiseführer warnte gar vor Lynch-Justiz der Borkumer bzw. der nicht-jüdischen Touristen im Falle des Auftauchens von „Israeliten“.
Ob wohl heute Juden auf Borkum Urlaub machen? Das wüsste man gerne, aber man erkennt sie ja entgegen dem früheren Inselmarketing gar nicht an krummen Nasen, platten Füßen und krausen Haaren. Und ob sich diese Juden wohlfühlen zwischen all den Ariern, in diesem heute noch bemerkenswert blondschöpfigen Urlauberquerschnitt aus allen deutschen Gauen? Und ob sie sich, falls aus Nahost angereist, arglos mit israelischem Pass in die Hotellisten eintragen?
Die Frage ist, ob sich ein Gespenst, das sich einmal so brutal bequem eingerichtet hatte, innerhalb von knapp 70 Jahren wieder vollständig und rückstandsfrei verflüchtigt. Eine Insel ist allseitig von Wasser umgeben, das auf solcherart abgeschiedene Landmassen einen konservierenden Einfluss auszuüben pflegt …
Da ist nun also dieses Loch in meinem Urlaub. Ein kleiner Abgrund, der sich mitten im geübten Routinebetrieb aufgetan hat. Vermutlich trägt niemand, der hier und heute noch lebt, sich erholt oder Dienst tut, qua Geburtsdatum auch nur einen Hauch Verantwortung für dieses Loch. Aber dennoch lastet das, was vor 70, 80, 90 Jahren hier Normalität war, weit schwerer auf diesem idyllischen Ort als eine Gewitterwolke über hochsommerlicher Insellandschaft. Und will und will einfach nicht vergehen.
Es ist diese groteske, obszöne Verrohung des Denkens, Redens und Handelns, die immer noch erschüttert. In meinem Land. Unter Menschen, wie wir sie sein könnten. Vor immer noch gar nicht langer Zeit.
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Nachtrag, 24.7.:
Inzwischen wurde ich auf ein viel neueres, ganz und gar harmloses „Borkum-Lied“ hingewiesen. Wer deutschen Schlagersound erträgt, kann es sich hier sogar als Video anschauen. Ich will hoffen, dass es dieser Song war, den sich der oben erwähnte Badegast von der Band im Pavillon gewünscht hatte.
Im Heimatmuseum und bei Führungen tut sich besagtes Loch leider auch auf… Nur Walfängermythen und Seebadromantik.
Da gibt\’s noch viel zu tun…
Mut zum Fragen: was war in meiner Familie?
[…] Gesellschaft: Oliver Driesen war auf Borkum. […]
Der Heimatverein Borkum und die Ökumene auf Borkum haben angefangen die Vergangenheit aufzuarbeiten und haben im Juni Gedenktafeln angebracht, eine am Kurpavillon und eine bei der ev.-luth. Kirche.
Im letzten Jahr gab es diesbezüglich diverse Vorträge und Veranstaltungen zum Thema \“Antisemitismus\“ auf Borkum.
Das ist eine gute Entwicklung. Die Arbeit der Kirchen ist sicherlich enorm wertvoll, besonders Vorträge und Diskussionsveranstaltungen. Allerdings frage ich mich, warum das Erinnern und Aufarbeiten immer auf die Kirchen bzw. gemeinnützige Vereine abgewälzt wird – wo sind die Initiativen der Lokalpolitik bzw. der lokalen Wirtschaft, hier der Hotellerie?
Und ich bin kein Freund von Gedenksteinen. Ihre Inschriften markieren meist den kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner – und danach können dann alle sagen: Problem gelöst, das steht doch jetzt ein Gedenkstein.