Eine schlichte Parole und der Text zwischen den leeren Zeilen: Was alles in unsichtbaren Buchstaben auf einem Propagandaplakat steht – ein paar alte, aber immer wieder neue Erkenntnisse über den Kapitalismus der Milliardäre.

Schauen Sie: Da sagt Ihnen jemand, welche Haltung Sie einnehmen sollen. Er sagt es Ihnen mit ganz einfachen, weltweit denselben Worten: #standwithukraine. Halten Sie zur Ukraine. Begründung: überflüssig. Das ist eine Botschaft, die Ihr Halbbewusstsein auch in den drei Sekunden erfassen kann, in denen Ihr Blick beim City-Shopping, Event-Hopping oder auf dem Weg zum urbanen Bullshit-Job dieses Bild eines wogenden, goldgelben Kornfelds unter knallblauem Himmel streift. (Ukrainische Getreidefelder können kriegsbedingt nicht bestellt werden. Ein Grund, warum Sie im Supermarkt jetzt und auch später kein Mehl mehr bekommen.)

Eine cleane Plakat-Aktion. Moralisch auf der sicheren Seite, demoskopisch abgenickt. Tausendfach pro Tag wiederholt, deutschlandweit. Blick. Blick. Blick. Sie ahnen gar nicht, wie oft Sie diese drei puren Wörter, zu einem kleingeschriebenen Buchstabensalat mit vorangestelltem Hashtag verschmolzen, in den letzten Wochen seit Beginn der russischen Invasion gelesen haben. Zwischen Flensburg und Regensburg. Wieder. Und wieder. Und wieder.

Dieser Jemand, der Ihnen im Vorübergehen sagt, was richtig ist, macht keine halben Sachen. Die Plakatflächen im öffentlichen Raum, die er dafür nutzt, bedecken zusammengenommen garantiert x, wenn nicht sogar y Fußballfelder. Sie entgehen dieser Botschaft nicht. Auch bei TWASBO haben Sie das Plakat womöglich hier schon zur Kenntnis genommen.

Aber einiges ist doch merkwürdig, oder? Zunächst mal: Dieses Plakatmotiv, wo sonst Werbung für Nivea oder Nutella gemacht wird, kommt mit gar keinem Markenprodukt daher. Kein Hersteller verbindet hier seinen Namen mit der korrekten Haltung. Niveadosen sehen zwar auf den ersten Blick so ähnlich aus, werden ähnlich passiv-aggressiv beworben, auch das Blau ist ähnlich, aber die Schriftart wäre eine andere. Auch der kreisrunde gelbe Rand, der digital animiert ist für mehr Aufmerksamkeit, stimmt nicht überein. Aber auch vollreife Getreideprodukte werden hier nicht beworben (sie wären ja im Zweifel dann auch gar nicht zu kaufen). Und wenn man es sich genau ansieht: Da steht kein Absender drauf. Nicht mal kleinstgedruckt. Warum sagt uns jemand, der so allgegenwärtig etwas so Gutes und Richtiges im Schilde führt, nicht, wer er ist?

Gründe genug, etwas genauer hinzusehen. Wozu gibt es das Internet? Wozu den Google Übersetzer? Beide existieren, damit wir weltweit zwischen den Zeilen lesen können. Beziehungsweise die nicht vorhandenen Zeilen auf dem Plakat selbst ergänzen. Und im Kopf einen Text abspeichern, einen Text mit Erkenntnisgewinn statt einer eingeimpften Parole. Los geht’s!

Wer könnte der Absender der Ukraine-Parole sein? Ah, da ist ein Ansatzpunkt. Der einzige weit und breit allerdings. Und nicht einmal auf dem Plakat selbst, sondern nur oben auf der digitalen Plakatsäule: „JCDecaux“ steht da. Ein französisches Spezialunternehmen für Außenwerbung. Benannt nach seinem Gründer, Jean-Claude Decaux (1937–2016). Der hat 1964 in Paris mit der Open-Air-Reklame begonnen. Schickte dann 1982 seinen Sohn Jean-François Decaux nach Deutschland, um auch den deutschen Markt zu erobern, und später dann die ganze Welt. Das hat funktioniert, heute ist man Weltmarktführer. „In der Forbes-Liste der aktuellen Milliardäre weltweit belegt die Familie Decaux den 154. Platz mit einem Vermögen von 4,2 Milliarden Dollar“, weiß Wikipedia.

Okay, aber stammt die Ukraine-Botschaft deshalb auch von JCDecaux? Und wenn ja, warum? Die können sich doch nicht selbst die Plakate bezahlen, mit denen sie ihre Stadtmöbel an Bushaltestellen und in Einkaufsstraßen bespielen. Jedenfalls würde das keine Gewinne generieren. Aber auch anderswo spricht sich JCDecaux vehement für die Menschen in der Ukraine aus:

Somit wäre bewiesen: Kapitalismus geht auch ganz uneigennützig. Milliardäre sind auch Menschen! Da glüht jemand so für seine politische und ethische Überzeugung, da ist jemand so erschüttert ob der Ungerechtigkeit der Welt, dass er jetzt auspackt, kostenlos, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Wahrheit muss raus. Sonst erstickt der.

Das heißt – was ist das? Der französischsprachige Schweizer Börsendienst zonebourse.com schreibt am 10. März 2022: „Trotz einer starken Erholung seiner Aktivitäten nach der Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen blieb der französische Werbedisplay-Riese JCDecaux 2021 mit einem Nettoverlust von 14,5 Millionen Euro in den roten Zahlen, gab er am Donnerstag bekannt.“

Dem Konzern entgehen also momentan gar keine Gewinne, wenn er kostenlos gute Gesinnung plakatiert (falls sich nicht doch ein Regierungs-Etat dafür gefunden hat). Denn die Plakatflächen blieben sonst vielfach noch leer, weil die lange Zeit der sinnlosen Lockdowns und die sich nun verschärfende Versorgungskrise wegen der politisch durchgesetzten Russland-Sanktionen nur das im Überfluss produziert hat: leere Plakatflächen. Die man besser mit Propaganda füllt, damit die Leere nicht bemerkt wird. Kostet dasselbe, bringt unterm Strich vielleicht herbe Verluste, sieht aber viel besser aus und nützt womöglich zumindest dem eigenen Image.

Aber es gibt auch gute Nachrichten für JCDecaux, fährt zonebourse fort: „Die Gruppe erwartet weder Effekte durch den Krieg in der Ukraine (0,1 % ihres Umsatzes im vierten Quartal) noch durch die Beschränkungen des Westens gegen Russland, wo sie ’seit dem Verkauf ihrer 25%-Beteiligung an Russ Outdoor im Jahr 2020 keine Aktivitäten mehr‘ hat.“

So sieht also Gratis-Mut aus, der gratis Haltung zeigt. Haltung, die vielleicht PR-Punkte bringt. Der Familienkonzern der Milliardäre hat seit zwei Jahren gar keine Aktien mehr im Russen-Spiel und so gut wie keine Kastanien mehr im ukrainischen Feuer. Daher steht die scheinbar so mutige und widerständige Plakatierung gegen mächtige russische Interessen auch nicht länger potenziell im Widerspruch zu den eigenen. Soll der Iwan doch toben und in der Ukraine noch mehr Infrastruktur zerbomben – es sind keine Stadtmöbel von JCDecaux dabei. Da darf man schon mal aus sicherer Distanz den Stinkefinger gen Moskau recken. Und ganz doll solidarisch sein Solidarität einfordern mit den Menschen der Ukraine.

Machen wir die Gegenprobe: Wie war es denn, als es noch anders war? Als JCDecaux noch nicht seine wirtschaftlichen Eisen aus dem Feuer geholt hatte. Vor etwas mehr als 15 Jahren, am 20.September 2006, meldete der Branchendienst nov-ost.info nämlich zunächst einmal den Beginn einer wunderbaren Freundschaft: „Der französische Außenwerbungskonzern JCDecaux hat sich mit 40% an dem russischen Branchenunternehmen Big Board Group beteiligt.“

40 Prozent, das ist schon ein Commitment. Da will man nicht nur ankommen, da will man bleiben. In den ersten Jahren danach geht die Rechnung auch scheinbar auf; eine muntere Ost-West-Zusammenarbeit kommt in Gang. Und praktischerweise hat die russische Big Board Group auch eine Filiale in der Ukraine. Das Werbebarometer Advertology.ru berichtete am 26. März 2012 in russischer Sprache: „Am 22. März veranstaltete die Gruppe Big Board Ukraine zusammen mit ihrer Muttergesellschaft JCDecaux ein Treffen: Außenwerbung – gemeinsam Geschichte schreiben.“

Gut, ein paar Hürden verbleiben damals noch vor der Erfolgsgeschichtsschreibung. Nicht alle Innovationen, die JCDecaux anderswo auf der Welt schon realisiert hat, funktionieren damals auch schon in der Ukraine: „Askold Shestunov, CEO von Big Board Ukraine, fasste das Treffen zusammen und bemerkte: (…) Der heimische Markt ist noch nicht reif für die Umsetzung solcher Projekte in naher Zukunft. (…) Wir unsererseits sind bereit und in der Lage, ungewöhnliche, glänzende und innovative Projekte in der Außenwerbung umzusetzen, natürlich mit fast einem halben Jahrhundert Erfahrung von JCDecaux (…).'“

Zuversichtlich, dass diese Erfahrung sich auszahlen wird, erweitert JCDecaux sein Russland-Engagement in der Folge noch. Am 22. Oktober 2012 meldet die Pariser Zentrale in englischer Sprache: „Die JCDecaux SA, die weltweite Nummer eins unter den Außenwerbern, hat heute bekanntgegeben, dass sie 25 Prozent von Russ Outdoor übernehmen will, dem größten Außenwerbungs-Unternehmen Russlands.“ Jean-Françoise Decaux, inzwischen Vize-CEO der Gruppe, äußert sich euphorisch: „Russland (…) hat schon immer strategische Bedeutung für JCDecaux gehabt. Wir sind hoch erfreut, uns mit starken russischen Partnern zusammenzutun (…).“

Soll der Iwan doch toben und in der Ukraine noch mehr Infrastruktur zerbomben – es sind keine Stadtmöbel von JCDecaux dabei

Doch wenig später tauchen zusätzlich Probleme auf, die nicht hausgemacht sind. Denn im März 2014 annektiert Russland die Krim. Die erste militärische Ukraine-Krise ist da, und JCDecaux steckt mittendrin. Reuters Finanznachrichten melden am 31. Juli 2014: „Der Weltranglisten-Erste der Außenwerbung kündigte in einer Pressemitteilung an, dass er im dritten Quartal mit einem leicht geringeren organischen Umsatzwachstum als im ersten Halbjahr (+4,0 Prozent auf 1,3 Milliarden Euro) rechnet, was er insbesondere mit den Spannungen zwischen Russland und der Ukraine begründete.“ Konkreter: „Geopolitische Spannungen rund um die Ukraine zwangen den in dem Land tätigen Familienkonzern zu einer Abschreibung von 4,5 Millionen Euro, was seine Rentabilität belastete.“

Auf Deutschlands Außenwerbeflächen indes herrscht damals Frieden. Es leuchten dort keine plakativen Appelle des Pariser Konzerns, Partei für die Euromaidan-Revolutionäre oder gegen die russischen Aggressoren zu ergreifen. JCDecaux hat in Russland und der Ukraine bereits Geld verloren, aber noch mehr investiert. Sollen die Verluste steigen, weil man Putin gegenüber das Maul aufreißt und die russischen Behörden einem zum Dank das Leben schwermachen? Natürlich nicht.

Noch ein paar Jahre lang quält sich der Werberiese still und verbissen auf dem zunehmend toxischen Markt im Osten. Aber dann wird, ganz den natürlichen Wanderungsbewegungen der Profitoptimierung folgend, die Reißleine gezogen. Und 2020 ist die letzte russische Beteiligung sachlich und trocken abgestoßen.

Das ist sie, die Vorgeschichte eines Plakats, das nur die schlichte Botschaft „Halte zur Ukraine“ trägt. In unsichtbarer Tinte, die wir nun lesen können, stehen auf der großzügig bemessenen Fläche erläuternd und zusammenfassend noch folgende Zeilen:

# Wir sind raus und unsere Schäfchen im Trockenen, alle Brücken sind abgebrochen, wir haben bei Putin nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren. Und die armen Schlucker in der Ukraine, die uns ein paar Jobs und Steuereinnahmen verdankt hatten, müssen nun halt ohne klarkommen.

# Hier könnte Ihre bezahlte Werbung stehen – tut sie aber umständehalber nicht. Also präsentieren wir hier lieber gelbe Kornfelder mit blauem Himmel, als dass unsere Werbeflächen wegen der politisch gemachten Wirtschaftskrise aufgrund endloser Lockdowns und aktueller Sanktionen erschreckend dunkel bleiben.

# Wir buhlen um Ihre Sympathie-Reflexe für unsere korrekte Haltung und unseren politischen Gratis-Mut, gern auch in Form von Reklamebuchungen.

# Es kann darüber hinaus nicht schaden, Ihr Unterbewusstsein weiter zu penetrieren, um Sie für zukünftige Kampagnen im Auftrag dann wieder zahlender Kunden auch in dieser werbearmen Zeit gefügig und leicht manipulierbar zu halten.

Und so, meine Damen und Herren, funktioniert im Großen und Ganzen der woke Kapitalismus der Milliardäre.


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