Die Corona-Katastrophenpolitik macht das Land bis in die entlegensten Winkel platt – oder gibt es noch letzte Inseln der Seligen? Kontrollbesuch auf der Hallig Langeneß, wo man Untergänge gewohnt ist.
Kann einer der einsamsten Orte dieses Landes noch einsamer werden, weil es der geballten Regierungskompetenz gefallen hat, im zweiten Jahr in Folge auch hier den Ostertourismus ausfallen zu lassen? Langeneß mit seinen etwa 100 Bewohnern ist eine von zehn deutschen Halligen, jenen nahezu schutzlosen Scheibchen Land in der Nordsee, denen das Wasser jedes Jahr mehrmals bis Oberkante Unterlippe steht. Von daher müssten die Langeneßer das Gefühl kennen, einer ruinösen Wirtschaftspolitik ausgeliefert zu sein. Die Resonanz des Berliner Katastrophenmanagements vor Ort zu recherchieren, lautet der journalistische Auftrag.
Ich reise also aus einer ökonomisch und sozial bereits komatösen Millionenmetropole in eine womöglich noch tötere Todeszone. Und das bei voller körperlicher Gesundheit aller Beteiligten. Aber werde ich der Deprivation und Entschleunigung dieser Extremsituation standhalten – oder anfangen, wirre Selbstgespräche zu führen und mich mit einem Volleyball anzufreunden, den die Flut angspült hat?
Keine Angst, für solche gefahrvollen Missionen bin ich gemacht. Nicht nur, weil ich von Natur aus alle Spielarten von Einsamkeit beherrsche, ja geradezu ein Einsamkeitsspitzensportler bin. Sieben Jahre in Tibet sind vielleicht ein Problem für Brad Pitt, aber nicht für mich. Darüber hinaus habe ich die historische Vergleichsmöglichkeit. Auf Langeneß war ich schon viele Male, weiß also, wie der gut zehn Kilometer lange Landstrich im Schlick vibriert, wenn Hochsaison und die Politik halbwegs bei Trost ist. Nämlich gar nicht. Das ist ja das Tolle. Die Frage also kurz zusammengefasst: Geht weniger als nichts?
Zunächst muss man aber mal wissen, wie man hinkommt. Da gibt es nun mehrere Wege. Ein besonders romantischer führt auf Schienen über den Lorendamm mitten durchs Watt:
Er bleibt den fahrzeugmechanisch beschlagenen und unerschrockenen Halligbewohnern vorbehalten. Die motorisierten Loren sind ihr Eigenbau und Eigentum. Handelsübliche Landratten wie ich nehmen die Fähre, die lockdownbedingt derzeit nur noch an bestimmten Wochentagen fährt. Um die zu kriegen, soll ich laut Bahn-App auf der letzten von etwa 23 Umsteige-Etappen, schon fast in Sichtweite des Deichs, einen „Ruf-Bus“ benutzen. Hier trennt sich erstmals die Spreu vom Weizen: Im Unterschied zu Millionen Mitmenschen weiß ich, was das ist. Man ruft im Vorfeld bei einer friesischen Verkehrsgesellschaft an („Moin!“) und teilt ihr mit, dass man gern ihren „Bus“ nehmen würde, der eigentlich ein Sammeltaxi ist. Dann kommt irgendwann ein Rückruf der freundlichen Telefonistin, ob man den Rufbus wirklich benutzen will. Ja, wieso denn nicht? Ich bestätige, woraufhin sie bestätigt, dass ich bestätigt habe, und wir sind im Geschäft.
Der Rufbus kommt auch tatsächlich. Der Fahrer nimmt mich, allein auf weiter Flur, auch tatsächlich mit. Und gibt während der Fahrt gleich mal zu bedenken, ob ich die ebenfalls bereits gebuchte Rückfahrt wirklich antreten will. Ja, wieso denn nicht? „Wenn Sie den Linienbus nehmen, sind Sie viel früher am Ziel.“ An der Stelle wittere ich zukünftige Arbeitslosigkeit. Aber keine Sorge, die Verkehrsgesellschaft wird subventioniert. Noch nie indes hat mir jemand so nachdrücklich nahegelegt, möglichst nicht von mir genutzt zu werden. Außer vielleicht die Corona-App der Bundesregierung. Oder AstraZeneca.
Dann betrete ich Langeneßer Boden. Auf den ersten Blick das vertraute Bild: Niemand in Sicht, mit dem man diskutieren müsste. Vor allem nicht über Nasenbedeckungswinkel oder Abstandsregeln. Das Risiko entschärfen auch die trickreichen Verkehrsregeln auf der Kreisstraße 44:
Kommt man doch mal einem Traktoristen bis auf 200 Meter nah, dann reicht ein tonlos gewunkenes „Moin!“, und der andere geht davon aus, dass man in friedlicher Absicht hier ist und sicher bald wieder verschwinden wird. Die einzigen Stimmen, die ich hier draußen andauernd höre, sind Vogelstimmen. Dafür aber vieltausendfach. Die alljähriche Invasion verschiedener Gänsearten ist bereits in vollem Gange, täglich landen hier mehr Neuankömmlinge als mit den Oster-Billigfliegern auf Malle.
Die Ausscheidungsdichte der Vogelschar auf Salzwiesen und Feldwegen macht es unmöglich, nicht bei wirklich jedem Schritt hineinzutreten, aber man gewöhnt sich dran. Allmählich lerne ich auf meinen Erkundungsgängen Einzeldialekte aus der Kakophonie herauszuhören. Ei der Daus! Es gibt Gänse, die unverkennbar „Co-vid, Co-vid!“ gackern, und andere, die „Vor-sicht! Vor-sicht!“ schreien. Ganz wie in der Hauptstadt also.
Apropos Hauptstadt. Ein Fernsehteam des ZDF hat sich fast zeitgleich mit mir auf Langeneß angekündigt, um für den „Länderspiegel“ irgendwas über Corona zu drehen. „ZDF“ allein klingt ja schon nach „Harry, hol schon mal den Wagen“, aber Länderspiegel – war das nicht vor Erfindung des Tonfilms? Ach nee, das hieß Wochenschau. Jedenfalls droht das Team die Journalistendichte auf diesem entlegenen Eiland schlagartig um 300 Prozent zu erhöhen. Ich komme aber letztlich doch nicht in Berührung mit den Regierungsfilmern. Zauber der Einsamkeitsmaschine Hallig: Sie sorgt zuverlässig dafür, dass unerwünschte Kontakte unterbleiben, grad als sei’s von Drosten verordnet.
Gilt allerdings auch umgekehrt. Die Inhaberin des empfehlenswerten Hallig-Hofladens hat laut Türschild von 12 bis 14 Uhr Mittagspause. Ich komme um 12.08 Uhr an und stelle mich in alarmgelber Wetterjacke zaghaft gestikulierend vors gardinenlose Fenster des direkt angrenzenden Wohnhauses. Hinter der Scheibe deckt sie gerade den Mittagstisch. Keine Reaktion. Also nicht etwa Abscheu oder Abwehr, sondern: Ich bin unsichtbar. Da mag ich auf und ab hüpfen wie eine Seetonne bei Sturmflut, ’s ist Hallig-Siesta. Bewundernswert. Als ich um 14.01 Uhr wiederkomme, werde ich mit großer Selbstverständlichkeit empfangen, zwar als Fremder, aber auch als König Kunde. Einen kleinen Schnack gibt’s neben den Einkäufen noch mit auf den Weg. Mehrere Sätze am Stück. Fast schon fühle ich mich kommunikativ überversorgt – Langeneß macht das mit einem.
Außer dem für die Halligleute systemrelevanten Hofladen hat aber wirklich alles geschlossen. Das bisschen, was es gibt. Café. Gasthof. Ferienwohnungen. Halligmuseum. Das einzige Hotel am Platz. Und das nicht erst seit Ostern, sondern seit geschlagenen fünf Monaten. Landunter war gestern, heute ist Lockdown: für die haupterwerblichen Hotel- und Restaurantbesitzer dieselbe existenzielle Katastrophe wie drüben auf dem Festland. Etwas besser stehen die da, die neben Vermietung an Feriengäste auch andere Erwerbsquellen haben, Landwirtschaft oder Küstenschutz. Allerdings: Die wiederum bekommen keinerlei Staatsknete für ausbleibende FeWo-Gäste.
Spontantouristen wären an Ostern 2021 indes auch ohne Verbote nicht unbedingt gekommen. Als himmlischer Wink mit dem Zaunpfahl fegt tagelang ein schwerer Sturm über die Hallig, Schnee- und Graupelschauer sind auch dabei. Paradox ist, wenn Salzwiesen kurzfristig weiß überzuckert sind. Die Nordsee wird entsprechend grantig und steigt fast bis zur Kante des kleinen Sommerdeichs, der allzu häufige Überflutung verhindern soll. In einem Winkel von ungefähr 45 Grad, der mich unter normalen Verhältnissen sofort vornüberkippen ließe, marschiere ich gegen die tosenden Gewalten an. Was ich hier immer genossen habe und auch diesmal wieder zur Eigentherapie nutze: Man kann bei diesem Wetter aus voller Lunge die fürchterlichsten Verwünschungen in den Wind brüllen, wo sie sogleich verwehen. Sollten Sie auch mal probieren, gerade in diesen Zeiten. Gute alte Natur – immer noch die beste Hausapotheke.
Eine Neuheit aber entdecke ich bei diesem Besuch noch. Nie hat hier jemand unter freiem Himmel politische Parolen verbreitet, außer mal auf einem Wahlplakat vielleicht. Glaubenssätze oder Moralpredigten waren in der kleinen Halligkirche gut aufgehoben. Vor fast zehn Jahren hing im Durchgang zum Herrenklo des Hallig-Cafés mal ein handgeschriebener Zettel. Darauf prangerte der Wirt einen Diebstahl an: Ein Langfinger hatte eines von drei gusseisernen Schwälbchen, die als Deko im Flur hingen, vom selben Nagel an der Wand entwendet, an dem nun der Zettel hing. Auf der Hallig, auf der niemand je seine Haustür verschloss, war die Tat ein solcher Tabubruch, dass der Bestohlene zum letzten Mittel griff und seine Fassungslosigkeit darüber öffentlich machte.
Doch noch vor Inkrafttreten des Beherbergungsverbots im November 2020 muss das „autonome“ Jungvolk aus der Großstadt in seinem politischen Missionierungswahn beschlossen haben, selbst diesen wortkargen Flecken Land mit seinen Botschaften zu bereichern. Irgendeine hypermoralische Kadergruppe sah es als notwendig an, die Halligleute und ihre Gäste systemkonform einzunorden. Ausgerechnet an einem Viehgatter pappen seitdem Sticker mit Antifa-Parolen und Weltrettungsformeln.
Besonders mutig und wichtig: ein Aufkleber zum Überkleben von Nazi-Aufklebern. Bog am Horizont nicht gerade die berüchtigte maritime Faschistenbrigade mit ihren Baseballschlägern um die Ecke? Da heißt es Haltung zeigen! Obwohl es hier gar keine Ecken gibt, geschweige denn Faschos. Bloß Halluzinationen, verursacht durch zu weite Sicht und Reizklima. Eine ideologisch hysterisierte Jugendgruppe, die nicht mal unter dem hohen Himmel des Wattenmeers abschalten kann, habe ich schon vor Jahren in meinem satirischen Langeneß-Roman Wattenstadt auftreten lassen, aber wie gesagt: Damals hielt ich’s für Satire.
Doch zum Glück haben auch diese Vertreter derzeit die Urlaubssperre, um die sie auf Twitter so staatstragend gebettelt haben. Und mir bleibt die gnädige Leere der Hallig selbst auf der Rückfahrt in die von Dauer-Lockdown drangsalierte Millionenstadt noch überraschend lange erhalten. Als einer von fünf zahlenden Passagieren döse ich im leeren Salon unter Deck der Autofähre vor mich hin. Im Halbschlaf meine ich ständig einen sehr einfallslosen Straßenmusiker zu hören, der ein monotones, dafür umso dreckigeres Altsaxophon-Solo improvisiert. Bizarrerweise knödelt dazu ein Männerchor den Refrain „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Als ich mich aufgeschreckt umschaue, ist es aber nur der nagelnde Schiffsdiesel, der mich eingelullt hat.
Im Linienbus – man ist ja lernfähig – vom Anleger ins deichnahe Hinterland geht das Raumwunder weiter: Ich bin der einzige Fahrgast. Der glatzköpfige Fahrer betreibt am Steuer wortlos Vaping, höflicherweise bei offenem Seitenfenster. Er produziert weißen Dampf, als ob soeben der nächste Papst gewählt worden wäre. Es riecht sogar nach Weihrauch. Ein wenig wird es dadurch an Bord wie damals in den verqualmten Dolmuş-Großraumtaxis in Anatolien, nur weniger gefährlich, mit mehr Beinfreiheit und viel besserem Aroma. Und Gott sei Dank ohne Musik.
Ich verabschiede mich von der fahrenden Dampfmaschine an der Haltestelle Bredstedt Bahnhof. Dort, im sprichwörtlichen Nirgendwo, warte ich auf den Bummelbahn-„Express“ nach Hamburg. Auf diesem von allen Göttern verlassenen Bahnsteig bin ich vor Jahren mal Zeuge geworden, wie ein winzig klein auf dem Asphalt hockendes Wintergoldhähnchen von einem Rentner zertreten wurde, der im Getümmel mit Tunnelblick zur offenen Zugtür drängte. Im Tohuwabohu bemerkte das niemand außer mir, am wenigsten der Rentner selbst. Heute: nicht die kleinste Menschenmenge. Im Zug habe ich fast den ganzen Großraumwagen für mich.
Zeit für eine erste Reflexion. Was habe ich denn jetzt herausgefunden auf Langeneß? Die gute Nachricht für Berlin: Freut euch, Halligleute wirft wirklich gar nichts um. Nicht mal die sogenannte Bundespolitik, und das will was heißen. Nach der Ebbe kommt die Flut. So war es immer, so wird es immer sein. Da wird einfach weitergemacht. Oder eben bleibengelassen. Wind und Wellen, nur darauf ist Verlass. Und auf die Einsamkeit. Diese erhabene, majestätische, alles heilende, spahnbefreite und lauterbachlose Einsamkeit.
Schließlich jedoch das Unausweichliche. Jedesmal war die Rückkehr von der Hallig nach Hamburg ein vielfacher Kulturschock: der Lärm, das Gewimmel, der Müll, der Gestank, das digitale Geflimmer und Geflacker. Diesmal aber will die Stadt mich im Glauben wiegen, die Omertà, jene sprichwörtliche Schweigekultur Siziliens der Halligen, habe selbst hier Fuß gefasst. Ich komme gerade noch vor 21 Uhr zuhause an, dem magischen Zeitpunkt, ab dem Hamburgs brave Bürger neuerdings ohne jedes Krankheitssymptom oder sonstige Delikte unter Hausarrest stehen. Die Straßen sind bereits wie ausgestorben. Eine unwirkliche Ruhe. Es schneit sogar ein wenig. Da hätte ich auch auf Langeneß bleiben können.
Dieser Beitrag erschien in einer bearbeiteten Fassung auch in Alexander Wendts Magazin Publico.
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