Brauchen wir die noch, oder kann die weg? Auf der Suche nach einer Schimäre, von der wandernde Völker ebenso träumen wie hypermobile Manager – vielleicht für immer vergebens.

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Ein kluger Freund hat mich beauftragt, eine Bloglänge über „Heimat“ zu schreiben. Das war natürlich clever, denn er konnte damit rechnen, dass ich bei diesem mich ohnehin umtreibenden Thema anbeißen würde. Heimat – dieses schöne alte Wort, so facettenreich deutsch, dass es dazu in vielen Weltsprachen keine wortwörtliche Entsprechung gibt. Brauchen wir so etwas überhaupt noch, im 21. Jahrhundert, oder kann das weg?

Interessant wäre jetzt mal, wie Sie spontan auf diese Frage reagiert haben. War es: „Selbstverständlich braucht jeder eine Heimat! Was für ein arroganter Schreiberling will denn so etwas Wertvolles auf den Müllhaufen der Geschichte befördern?“ Oder war es: „Jo. Kann weg. Hab ich eh nie gehabt.“ Oder war es, drittens, gar: „Wer ist eigentlich dieses ‚wir’, das Heimat braucht oder nicht braucht?“

Na? Ehrlich? Seien Sie mein Gast, wenn Sie zu Gruppe 3 gehören. Aber ich soll ja von mir ausgehen. Also bitte.

Als ich ein kleines Kind war … Doch, natürlich muss ich so weit ausholen. Surfen Sie weiter, wenn Sie das nicht aushalten.

Als ich ein kleines Kind war, lebte ich in meiner Geburtsstadt Düsseldorf. Und das Interessante ist, dass ich Düsseldorf noch immer als meine Heimatstadt bezeichne. Düsseldorf, wo mich mein Vater zum ersten und einzigen Mal mitnahm ins alte Rheinstadion. (Heimat = Fußballverein? Es bleibt nicht so banal, versprochen!) Ich habe eine verschwommene Erinnerung an rot-weiße F95-Flaggen, die zwischen meinem Sitzplatz und dem grünen Rasen dort unten geschwenkt werden.

Und was soll ich sagen: Seither bin ich Fortuna-Fan. Recht passiv, zugegeben, und nur ganz selten im Stadion, selbst wenn diese armselige Gurkentruppe hier in Hamburg am Millerntor zu einem kunstlosen Zweitligakick antritt. Selbst meine in Hamburg geborene Tochter jubelt dann für Fortuna und nicht für Pauli, weil ich ihr zeitlebens immer „Fortuna“ vorgejubelt bzw. vorgelitten habe. Und eine Niederlage schmerzt. Wir können nichts dagegen tun. Heimat.

Eine Niederlage des Heimatvereins schmerzt. Wir können nichts dagegen tun.

Aber warum? Müssen wir jetzt tiefenpsychologisch werden und mit frühkindlicher Prägung anfangen? Vermutlich müssten wir das. Wir können es aber auch anders angehen: So wie an die rot-weißen Fahnen erinnere ich mich nämlich in konkreten Bildern nicht an sehr viel mehr aus dieser Düsseldorfer Zeit. Mein bildliches Erlebnis-Gedächtnis war schon immer schlecht, das mag mit der Fähigkeit zum gnädigen Verdrängen zu tun haben. Was ich viel deutlicher erinnere als Bilder oder Menschen, sind Geräusche und Gerüche.

Wie es klang, wenn ein kleines Sportflugzeug durch den Sommerhimmel über unserem Sozialwohnungsblock brummte. Wie der Adventskranz roch, den ich im Kindergarten aus Versehen in Brand steckte. Wie der örtliche Zungenschlag sich anhörte, der rheinische Singsang, als örtliche Variante der vertrauten Muttersprache. Wie der Großstadtasphalt nach einem Sommerregen roch. Das nagelnde Tuckern der Frachtkähne, rheinaufwärts, rheinabwärts. Und vor allem: der Geruch des breiten Stroms bei Niedrigwasser. Seither habe ich im Leben immer Städte an einem großen Fluss gesucht.

In Hamburg ziehen mir manchmal ganz ähnliche Gerüche in die Nase, Geräusche ins Ohr. Selbst die alles entschärfende, spöttisch liebkosende, rheinische Sprachmelodie fange ich in der U-Bahn von Touristen auf. Dann trifft mich der Gedanke an das Düsseldorf von damals wie eine Faust. Meine Ur-Heimat. Wo ich nicht unbedingt glücklich war, aber auch noch nicht viel vom Unglück wusste.

Viele von uns längst Erwachsenen sind heute ihrer Ur-Heimat entfremdet. Jenem Ort, an dem sie ihre Kindheit und vielleicht auch noch Jugend zugebracht haben, als – falls – das Leben noch stabil war und einen Rahmen hatte, aus dem man nie oder fast nie ausbrach. Als die Bezugspersonen wenige waren, Eltern, Geschwister, Nachbarn, Freunde, Lehrer, Onkel und Tanten. Als die Wegmarken unverrückbare waren, Elternhaus, Nachbarhäuser, Schule, der eine Supermarkt, das eine Kino, das Jugendheim, der erste Club.

Man fand sein Futter, man kannte die Kennwörter, beherrschte die Regeln, konnte die Folgen ihrer Übertretung einschätzen. Man ahnte höchstens, dass es da draußen noch eine weite und weitere Welt gab, in der alles anders war. Anders roch. Sich anders anhörte. Man wusste noch nicht, was sich alles ändert, wenn man in diese Welt hinauszieht. Oder diese Welt zu einem hin.

Viele erwachsene Menschen sind heute ihrer Ur-Heimat entfremdet.

Aber dann sind wir doch ausgezogen. Natürlich, denn es galt zu studieren, einer Liebe nachzureisen oder einen Job anzunehmen, dann den nächsten, dann die nächste. Vielleicht noch im selben Bundesland, wahrscheinlich im selben Land, mindestens auf demselben Kontinent. In wenigen Fällen ganz woanders. Nun wurden wir zu Nomaden – manche zeitweilig, viele andere für immer.

Mit 26 ging ich für ein halbes Jahr nach Indien. Ich erinnere mich an Nächte, die ich vor der matt leuchtenden Skala des billige Weltempfängers verbrachte, während draußen unaufhörlich der Monsun niederging. Millimeterweise den Frequenzregler verstellend, vor, zurück, vor, um für ein paar Minuten die Stimmen der Deutsche Welle einzufangen, die aus einem Kölner Sendestudio zittrig und jaulend um ein Viertel Erdball herum zu mir hin fanden. So fremd, so vertraut. Und die dann wieder im knisternden Äther verschwanden, ohne dass meine Fingerfertigkeit es verhindern konnte.

An meiner Sehnsucht nach diesen Stimmen und ihren Berichten habe ich gelernt, was Heimat bedeutet. Und gleich nach meiner Rückkehr vom chaotisch-vitalen Subkontinent, als ich an einer Bushaltestelle wartete. Um 17:34 Uhr sollte laut Fahrplan der Bus kommen. Um 17:34 Uhr kam er. Es war, nach all der Entwöhnung, ein Erstaunen, aber auch ein Erschaudern. Kurz: Erkenntnis. Einer dieser Momente, wo man etwas ohne Worte begreift.

Die Eltern blieben derweil zurück, wo die Ur-Heimat war. Fortan bemaß sich am Abstand zu ihnen, räumlich und zeitlich, das Maß ihrer Zurückgebliebenheit. Diese Enge! Wie das alles alterte, was dort geblieben war, nur ich selber nicht. Wie töricht ich war, bevor das Altern und Zurückbleiben mich einholte. Wie wenig ich wahrhaben wollte, dass ich mehr zurückgelassen hatte als Ballast.

Wie töricht ich war, bevor das Altern und Zurückbleiben mich einholte.

Und dann kam die Lebensphase, als die (Schwieger-)Eltern wirklich alt wurden. Als Väter und eine Mutter starben, jeder für sich. Als man der erste war, der im Novemberregen hinter einem Sarg herging. Niemand mehr vor uns, der uns bei dieser traurigen Pflicht beschirmte. Nun mussten wir den Grabschmuck auswählen, die Reden halten, die Karten schreiben. Nun waren wir es, die Haushalte auflösten, Fotos aussortierten, Akten vernichteten, Schränke leerräumten, Schlüssel übergaben.

Da waren wir ur-heimatlos. Der Ort, wo Vater und Mutter gelebt hatten, war nicht mehr. Über Nacht war er zur Fremde geworden. Eine leere Hülle das Haus. Neue Bewohner pflanzten andere Bäume, holzten unsere Hecken ab, schrieben neue Geschichten. Etwas stirbt mit, wenn wir Zeugen dieser Umnutzung werden, tief in uns.

… überteuerte Eigentumswohnungen als Sicherheits-Illusion für moderne Nomaden.

Aber hatten wir unterdessen eine neue Heimat gefunden? Ersatz für das unwiederbringlich Vertraute? Das „wir“ ist in meinem Fall die Familie, die sich neu um mich gebildet hat. Eine neue Familie ist ein neues Zuhause, gleich an welchem Ort. Und doch braucht sie auch eine Heimat, diesen weiteren Kreis um die Fluchtburg Zuhause und selbst um den nicht mehr ortsfesten Schutzwall aus Freunden herum, in dem sich wieder dieselben Einfachheiten und Verlässlichkeiten ausbilden können wie in der Ur-Heimat. Damit etwas wurzeln und aus diesen Wurzeln in Sicherheit aufwachsen kann, bis es erneut abstirbt und der Kreis sich schließt.

Das ist der Punkt, an dem Heimat heute, in Zeiten unablässiger, immer weiter verschärfter Umwälzung und Migration – eigener wie fremder – zur Fata Morgana wird. Eine Schimäre, etwas, dem man hinterherjagt, ohne es je zu erhaschen. Was ist noch sicher, was verlässlich? Was könnte nicht morgen schon ungültig sein, überrollt, niedergewalzt, nicht mehr (be-)greifbar. Alles unterliegt nun immer neuer Konkurrenz, alles will täglich neu ausgehandelt oder im Ernstfall umkämpft werden. Ich lebe seit 14 Jahren an ein und demselben Ort, umgeben von der Familie, was in diesen bewegten und gehetzten Zeiten ein Privileg ist – doch Heimat?

Zu sehr zerren die Zeiten an unserer unsteten Stabilität. Zu viele Faktoren fressen sich in unsere kärglichen Sicherheiten.

Die Gerüche und Geräusche haben sich schon wieder tief ins Unbewusste verklammert, das ja. Wenn aber Heimat die Abwesenheit von Angst bedeutet, einen vertrauten Kreis zur Unzeit wieder räumen zu müssen, und kulturell die Abwesenheit von Kampf um die kleinsten gemeinsamen Nenner, dann habe ich sie nicht gefunden. Zu sehr zerren die Zeiten an unserer unsteten Stabilität. Zu viele Faktoren fressen sich von oben, von unten, von allen Seiten in unsere kärglichen Sicherheiten, um die kindliche Ruhe namens Heimat noch einmal aufkommen zu lassen. Das Sich-fremd-Fühlen in der eigenen Lebensumgebung, es nimmt beständig zu.

Da ist Bewegung vor allen Fenstern, Nord wie Süd, Ost wie West. Ströme von Kapital, das Nachbarschaften einreißt, Gewohnheiten umschichtet, Kosten in den Himmel treibt. Ströme von Menschen, die fremde Wunschträume von Heimat mit sich führen. Kriege und Nöte flackern am Horizont. Etwas geht da draußen um, das alles schleift und schmirgelt. Das uns einander entfremdet, obwohl dies für uns nicht die Fremde sein sollte.

Heimat ist, wo du schöner fremdelst. Vielleicht ist dies das Mindestmaß, das die Zeit uns noch erlaubt.