Die COVID-Zwangstests sind jetzt teuer, lassen sich aber online-überwacht daheim zelebrieren: Vom Identitäts-Bekenntnis bis zur Beschwörung des unbefleckten Teststreifens führt ein gesichtsloser Hohepriester durch die Liturgie. Mein erster Exorzismus bei den Zeugen Coronas.
Messe um Mitternacht: Die Zeugen Coronas sind 24/7 für Sie da.

In besseren Zeiten, gut vier Jahre her, berichtete ich hier von einer damals neuen Online-Erfahrung: Um mich für einen Mobilfunkvertrag zu qualifizieren, hatte ich erstmals in meinem Leben meine Identität vor einer Webcam nachweisen müssen. Unter dem wachsamen Auge und den aufmunternden Kommentaren einer ins Bild eingeklinkten, sächselnden Großmutter im Nebenerwerb („Nö schöne Uhr hommse do on d’r Wond höng‘, Hörr Dries’n!“) wedelte ich damals im Wohnzimmer mit meinem Personalausweis vor der Kamera meines Computers herum.

Das war ein unverhofft soziales Geschehen von Mensch zu Mensch. Inzwischen aber schreiben wir das Jahr 2021. Es ist Deutschland. Es ist Corona. Es ist der nackte, kalte, durchkommerzialisierte Wahnsinn einer neuen Industrie, die gekommen ist, um zu bleiben: Die COVID-Zwangstests für Ungeimpfte, die noch irgendwie am öffentlichen Leben teilnehmen wollen, kosten jetzt viel Geld – aber dafür erspart ihnen das Internet gegen Gebühr den weiten Weg zu einem der letzten verbliebenen Testzentren zwischen Gewerbegebiet und Straßenstrich. Denn ab sofort gibt es die Tests samt Negativ-Zertifikat auch per Livestream von zuhause aus.

Für diesen digitalen Tanz ums goldene Kalb der Keimfreiheit brauchen Sie drei Kultgegenstände: Perso, Endgerät mit Kamera und COVID-Selbsttest. Das Testkit muss von einem Hersteller sein, den der Test-Dienstleister auf seiner Liste hat. In meinem Fall kam der Test aus dem EDEKA und der Online-Dienstleister aus dem ostholsteinischen Bad Schwartau – als einer der Profiteure des offenbar unbefristeteten Ausnahmezustands, der sich auch ohne fortbestehende Pandemie verselbstständigt hat. Denn es steckt halt zu viel Kontrollmacht für zu viele Politiker und zu viel Gewinnmarge für zu viele Unternehmen drin. Schlappe 14,90 Euro kostet es, wenn ich meinen im Laden gekauften Test auf den Tisch des heimischen Wohnzimmers lege, das zur Untersuchungszelle für mich selbst wird. Oder ich kaufe auch das Testkit gleich noch online bei meinem Rundum-zufrieden-Anbieter aus dem Netz, dann macht es 19,90.

Los geht’s, nach Erwerb der Online-Testzulassung, mit der Feststellung der Identität: Der Partner „Web-ID“ übernimmt diesen Teil. Sie müssen ihren Personalausweis beidseitig fotografieren, dann sich selbst (zum Glück nur von vorn). Die Hoffnung ist währenddessen, dass Ihr Ausweis-Foto nicht zu kontrastarm erscheint. Sonst geht das Verfahren so lange in eine neue Strafrunde, bis es passt. Zwischendurch werden Sie aber von Textbausteinen gelobt, wenn Sie wie ein Kleinkind das richtige Viereck im richtigen Kästchen platziert haben.

Ist das geschafft und das anonyme Gegenüber glaubt Ihnen, dass Sie tatsächlich Sie sind, steigen Sie zum nächsten Level auf: Test jetzt durchführen. Damit beginnt der Teil, der vermutlich 95 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mindestens beim ersten Mal rettungslos überfordert. Sie müssen nämlich jetzt nicht nur einen COVID-Selbsttest mit Teströhrchen, Testflüssigkeit, Teststreifen und Teststäbchen in der richtigen Reihenfolge bewältigen. Oh nein, Sie müssen das live und in Echtzeit vor den Augen eines obskuren Kontrollorgans tun, das Sie nur als grüne Leuchtdiode neben ihrem Kameraauge am Smartphone oder Laptop wahrnehmen. Schaffen Sie dabei bitte gleichzeitig die nötigen Lichtverhältnisse, beachten Sie die Gebrauchsanleitung auf dem handtuchgroßen Beipackzettel des Testkits und die Regeln des Internetdienstleisters an verschiedenen Stellen seiner Webseite.

Das oberste Gebot aber lautet: Das Kästchen mit dem alles entscheidenden Teststreifen muss immer – auch während der 15-minütigen Wartezeit auf die chemische Reaktion – im Blickfeld dieses künstlichen Auges bleiben. Aber nicht nur das, auch Sie selbst dürfen mit ihren Utensilien nicht aus diesem Sektor verschwinden, bis die Wartezeit aufs Testergebnis beginnt. Denn sonst könnten Sie ja den Teststreifen unterwegs gegen einen gebrauchten, negativen austauschen. Oder heimlich onanieren. Oder gleich auf den Teststreifen onanieren. Schlimme Möglichkeiten tun sich auf. Doch wir sind in Deutschland, und dieses Online-Prüfverfahren ist TÜV-zertifiziert. Also denken Sie erst gar nicht dran.

Finden Sie stattdessen jenen Blickwinkel ihrer Überwachungskamera, der sowohl den wegen der Flüssigkeit waagerecht auszubalancierenden Teststreifen als auch Sie selbst erfasst. Pro-Tipp: Es geht nicht, wenn Sie Gesicht und Testkit ungefähr zehn Zentimeter vor der Kamera platzieren wollen. Mir ist es auf die Distanz nur dadurch gelungen, dass C. den Laborteil erledigte, während ich ein riesig erscheinendes Plastikrechteck vor die Linse hielt und zugleich Teile von mir selbst in den verbleibenden Bildausschnitt zu zwängen versuchte.

Finden Sie jenen Blickwinkel Ihrer Überwachungskamera, der sowohl den Teststreifen als auch Sie selbst erfasst.

Erst viel zu spät stellte ich fest, dass alles viel entspannter gelaufen wäre, wenn ich den Abstand auf etwa einen Meter vergrößert hätte: Totale statt Nahaufnahme. Hilfreich hätte ich es gefunden, wenn mich eine US-Militärpolizistenstimme angebellt hätte: „Hände dahin, wo ich sie sehen kann, und keine falsche Bewegung, du Schwuchtel!“ Denn auf die Hände, nicht auf meine dumme Visage kam es an. Was macht die Hand da unterm Tisch mit dem kleinen Plastikviereck? Na? Wollen wir schummeln? Sollen wir das böse Händchen vielleicht abhacken?

Stattdessen blieb der „Prozess“ wortlos, steril, anonym und effizient. Kein falsches Wort, außer von mir, nämlich fassungsloses Gebrüll wegen der Art und Weise, wie ich mich hier als Mann in den besten Jahren und den eigenen vier Wänden vor einem Bildschirm erniedrigte, mich verbog und herumhampelte, um Körperteile, Plastikteile und Testflüssigkeiten unter die Kontrolle einer fremden Macht zu bringen. Was müssen die Menschen am anderen Ende des Streams, sollte es dort welche geben, jeden Tag für Live-Shows zu Gesicht bekommen. Was müssen sie sich ausschütten vor Lachen über den Dilettantismus, der sich ihnen in deutschen Wohnzimmern präsentiert, im verweifelten Bemühen, die vielarmige Krake der Gesundheitsbürokratie zu besänftigen.

Zwischendurch, bevor ich begriffen hatte, dass ich während der 15 Minuten Wartezeit das Kameraviereck tatsächlich erstmals verlassen durfte, redete ich auf meine unsichtbaren Peiniger ein: Ob sie das vor ihrem Gewissen verantworten könnten, ob sie wirklich wollten, dass wir in solch einer Gesellschaft leben, in der sich Menschen zum Chemielabor-Affen machen, gefangen im selbsteingerichteten Sichtfeld ihres Endgeräts – aber vermutlich hörte mir niemand zu. Oder vielleicht eben doch. Man weiß es nicht. Mit mir sprach ja niemand, so sehr ich mir auch die sächselnde Omi von 2017 herbeisehnte.

Beobachter filmen sich gegenseitig: Coronatest und Coronatest-Tester im Online-Duell. Das Testset (Vordergrund) darf 20 Minuten lang nicht aus dem Livestream-Blickfeld des Webdienstleisters geraten.

Nur ganz am Schluss bekam ich ein Lob, dummer kleiner Schulbub, der ich bin. Und natürlich wurde ich in der Email mit dem Testzertifikat aus Bad Schwartau erst mal gnadenlos geduzt, sodann im besten Idiotendeutsch geknuddelt: „Die Testdurchführung hast du exzellent und nach genauer Anleitung durchgeführt. Dein durchgeführter Schnelltest hatte ein negatives Testergebnis!“ Danke, oh Herr, danke, für deine sprachlich minderbemittelte Güte! Nicht genug, dass ich die Durchführung exzellent durchgeführt hatte, nein, auch noch „nach genauer Anleitung“.

Damit lobte der Anbieter nicht, wie er glaubt, mein genau der Anleitung folgendes Verhalten, sondern sich selbst für seine Genauigkeit. Und rief mir als Abbinder seiner Mail noch ein kryptisch donnerndes „Time to Move“ zu. Was ist das? Ein Slogan? Ein Motto? Nein, es ist wohl das anglisierte Glaubensbekenntnis der Zeugen Coronas: die Aufforderung an Satan, der mir für heute ausgetrieben wurde, Leine zu ziehen.

Aber was kritisiere ich Satzbau und Sinn. Das interessiert niemanden. Entscheidend ist, 14,90 Euro kassiert zu haben für eine weitestgehend automatisierte Online-Dienstleistung, die vor drei Jahren noch der Alptraum jedes aufrechten Datenschützers gewesen wäre. Heute bekommt sie das TÜV-Gütesiegel. Eine Leistung, die vielleicht nutzbringend und ihren Preis wert wäre, wenn wir jetzt, wo sie eingeführt wird, eine Pandemie hätten. Da diese Pandemie aber nicht (mehr) existiert, braucht den Online-Test in Wahrheit niemand außer kontrollgeilen Politikern und smarten E-Commerce-Unternehmern. Der Bedarf, den sie befriedigt, ist ja nur ein aufgezwungener, in einem Paralleluniversum bestehender.

So macht man hierzulande heutzutage Märkte. Das Geschäft mit der Infektionsangst ist das einzige, was in diesem Land noch Wachstum und zumindest ein paar Mac-Jobs generiert. Da sind wir, die ehemalige Industrienation, angekommen: bei einer anonymen, digitalisierten, ritualisierten und zu 100 Prozent unproduktiven Regeleinhaltungsmaschinerie mit quasi-religiösem Charakter. Aber, wie es uns gebührt, als Weltmarktführer.

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